Knüppel und Tränengas in Reykjavik

Wie ein kleiner, wohlhabender Inselstaat im Nordatlantik mitten ins Zentrum der gegenwärtigen Wirtschaftskrise geriet

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tauchte Island nur selten in den Weltnachrichten auf. Wenn dies doch geschah, dann meistens nicht wegen der herausragenden Taten seiner Einwohner, jedenfalls nicht auf dem Gebiet der Wirtschaft und Politik – einmal abgesehen vom Fischerei-Krieg. Entweder gab es Naturkatastrophen, die die Aufmerksamkeit der Welt auf Island lenkten, oder es war der Besuch von – oft zu zweit auftauchenden – Ausländern, der Aufsehen erregte: Fischer und Spassky, Nixon und Pompidou, Reagan und Gorbatschow. So war es bis zum Oktober 2008.


Seither steht Island auf den Titelseiten der Weltpresse, und der isländische Ministerpräsident musste täglich Pressekonferenzen auf Englisch halten. Island hatte die höchst zweifelhafte Ehre, die Weltfinanzkrise anzuführen. Binnen einer Woche brachen die drei größten Banken des Landes zusammen; ihre einheimischen Bestandteile wurden vom Staat übernommen, ihre weit umfangreicheren ausländischen Aktivitäten gingen in die Insolvenz. Am Anfang versuchten viele Isländer, besonders die Verantwortungsträger, diesen Zusammenbruch abzutun: als eine Naturkatastrophe aus dem Ausland, eine Art Tsunami, der nach seinem Ausbruch in den Vereinigten Staaten – siehe Lehman Brothers – an die unschuldigen Küsten Islands schlug.


Seit Islands Besiedlung kennt sich die Bevölkerung mit Naturkatastrophen aus, und sicher konnte den ungeheuren Schock leichter bewältigen, wer das Geschehen als Naturkatastrophe deutete. Genau so fühlte sich, was nun passierte, auf jeden Fall an: Mit einem Schlag veränderte sich die Wirtschaftslage dieses kleinen, aber wohlhabenden Landes total. Das hinsichtlich seines Pro-Kopf-Einkommens fünftreichste Land der Welt sackte blitzschnell ab. Wo fast keine Staatsverschuldung existierte, hat man nun plötzlich eine hohe Staatverschuldung. Wo es seit Jahren keine Arbeitslosigkeit gab – in den vergangenen Jahre haben die Isländer viele Arbeitskräfte importieren müssen –, steuert man auf eine Arbeitslosigkeit von mindestens 7 Prozent zu. Die Inflation hat bis zu 18 Prozent erreicht, das Bruttoinlandsprodukt wird in diesem Jahr voraussichtlich um 10 Prozent sinken.

Schuld sind nicht immer die anderen

Mit den Ursachen wird man sich noch lange beschäftigen, aber eines wird den Isländern von Tag zu Tag klarer: Sie oder, besser gesagt, die Vorstände und Eigentümer der Banken, die Kontrollorgane des Staates und die Politiker, tragen den größten Teil der Schuld selbst. Natürlich war die internationale Finanzkrise der unmittelbare Auslöser. Aber auch ohne diesen hätte das isländische System auf Dauer nicht bestehen können. Schlimmer noch: Vielen Beteiligten war das wahrscheinlich seit langem klar – sie taten bloß nichts. Das Nichtstun der Obrigkeit brachte Island in die internationalen Schlagzeilen.


Seit den Privatisierungen in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts waren die isländischen Banken unglaublich schnell gewachsen. Im vergangenen Jahr erreichte ihr Volumen ungefähr das Zehnfache der Volkswirtschaft – nie und nimmer hätte der isländische Staat ihnen im Falle eines Zusammenbruchs unter die Arme greifen können. Die Banken wuchsen sich groß mit dem „billigen Geld“, das von Amerika ausgehend ein paar Jahre lang die Welt überschwemmte. Und als es schwieriger wurde, zur andauernden kurzfristigen Finanzierung an das Geld anderer Finanzinstituten kommen, holten sie es sich mit den so genannten Icesave- und Kaupthing Edge-Konten bei Privatkunden in England, Holland und Deutschland. Auf die Dauer gut gehen konnte das wohl nie.

Als Elton John fürs Privatkonzert einflog

Seit 1991 führen in Island die Konservativen die Regierung, lange Zeit gemeinsam mit einer kleinen Zentrumspartei, in den vergangenen anderthalb Jahren in einer großen Koalition mit den Sozialdemokraten. Diese langjährige Regierungszeit stand im Zeichen des wirtschaftlichen Liberalismus, und einige Maßnahmen zur Öffnung der Gesellschaft haben sich auch als durchaus erfolgreich erwiesen. Aber dann konnte es nie schnell genug gehen. Bei der übereilten Privatisierung der alten Staatsbanken achtete man weder auf eine breite Verteilung der Aktien, noch auf die notwendige Gesetzgebung und Stärkung der staatlichen Kontrollorgane.


Die Jahre 2002 bis 2007 waren ein kontinuierlicher Geldrausch, basierend auf einer abenteuerlichen Risikofreudigkeit der Banken, die im vergangenen Jahr mit steigender Verzweiflung in immer fragwürdigere Geschäfte umschlug, wie jetzt ständig neue Enthüllungen zeigen. Und gleichzeitig wurde die geistige Atmosphäre geprägt von den Neureichen, diesem – wie es ein deutscher Freund nennt – „Lumpenproletariat des Finanzkapitalismus“. Der kleine Flughafen im Zentrum von Reykjavik war zugeparkt mit Privatjets, geleaste Riesenjeeps dominierten das Straßenbild, der Strand wurde mit Glastürmen zugebaut – und zum Geburtstag flog man sich Elton John fürs Privatkonzert ein.


Und dann schlug alles um. Bereits im November verloren mehrere hundert Isländer am Tag ihren Job, viele verloren all ihre Ersparnisse oder einen großen Teil ihrer Altersversorgung. Die isländische Krone, diese viel zu kleine Hochzinswährung, fiel rapide. Die hoch verschuldeten Milliardäre verschwanden, und die EU zwang die isländischen Steuerzahler, die Verantwortung für die Icesave-Konten zu übernehmen. Großbritannien aktivierte dazu sogar seine Anti-Terrorgesetzgebung. Die Isländer müssen nicht nur den Verlust ihrer Ersparnisse verkraften, sondern werden auch noch weit in der Zukunft Schulden abbezahlen, für die sie nicht die Verantwortung tragen. Kein Wunder, dass es täglich wachsende Proteste gibt.

Die Regierung hörte die Signale nicht

Wochenlang trat kein einziger Verantwortlicher von seinem Posten zurück. Weder die Leitung der Zentralbank noch die Chefs der Finanzaufsicht noch ein einziger Minister der Regierung. Am Anfang war das verständlich: In Not und Hast musste man einen Kredit des Internationalen Währungsfonds sichern, und auch dass man neue Haushaltsgesetze verabschieden wollte, war einigermaßen nachvollziehbar. Spätestens danach, etwa um Weihnachten herum, wären das Umkrempeln der Finanzämter und der Umbau der Regierung an der Zeit gewesen. Demokratische Legitimation ist nie nur eine formale Sache, sie muss auch von der Bevölkerung so empfunden werden. So ist es zurzeit nicht – erstmals seit Islands Nato-Beitritt im Jahr 1949 geht die Polizei rund um das Parlamentsgebäude mit Knüppeln und Tränengas gegen Demonstranten vor.


Inzwischen hat Ministerpräsident Geir Haarde „aus gesundheitlichen Gründen“ seinen Rückzug aus der Politik angekündigt, im Mai wird es Neuwahlen geben. Die bisherige Regierung hat schlicht den Zeitpunkt verpasst, an dem das Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Regierenden noch hätte repariert werden können. Den isländischen Politikern ist es nicht gelungen, politische und persönliche Verantwortung auseinanderzuhalten, deswegen wollen sie weder die eine noch die andere übernehmen.

Die EU als rettender Hafen?

Jetzt wartet man, wie es weitergeht: Die Sozialdemokraten wollen schon lange auf Beitrittsverhandlungen mit der EU zusteuern, und nun ist man gespannt, ob die Konservativen auf ihrem nächsten Parteitag im März ebenfalls diese Haltung einnehmen. Die Wut der Bevölkerung hat jedoch das parteipolitische Denken hinter sich gelassen. Niemand weiß, wie das Parteiensystem nach den Neuwahlen aussehen wird; zu befürchten ist wachsender Populismus.


Natürlich besitzt Island jede Menge Potenzial, um sich in den nächsten Jahren zu erholen. Die Stichworte lauten Fischerei, saubere Energie, hoher Bildungsstandard sowie reichhaltige Kultur und Kunst. Aber um diese Potenziale zu heben, bedarf es einer integrierenden sozialen Politik – damit das Tränengas, das in Reykjavik zeitgleich mit Obamas Amtsübernahme versprüht wurde, nicht zum bleibenden Wahrzeichen des Landes avanciert. Sollte eine solche Politik verwirklicht werden, werden Islands Regierende womöglich nicht mehr bloß wegen ihres folgenschweren Nichtstuns in den Weltnachrichten auftauchen, sondern – wie glücklicherweise viele der Künstler des Landes – aufgrund ihrer Taten.

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