Kleiner Grenzverkehr mit Lobbyisten

Puristen halten die Schattenwelt des Lobbyismus für verwerflich. Doch in der pluralen Gesellschaft ist die Bündelung von Interessen legitim. Die beste Lösung lautet maximale Transparenz. Die SPD-Bundestagsfraktion geht dafür neue Wege

Was ist eigentlich Lobbyismus? Auf jeden Fall von Übel, so ein gängiges Vorurteil. Aber wie so oft, so hat auch diese Medaille zwei Seiten. Die eine ist an jedem Morgen zu beobachten, den die Berliner Republik erlebt. Dann schwärmen ganze Heerscharen von Lobbyisten aus den über 1800 beim Bundestag akkreditierten Lobbyverbänden Richtung Parlament und überziehen die Volksvertreter mit Meinungen, Stellungnahmen und Einladungen zu Tagungen, Empfängen und parlamentarischen Abenden. Sie suchen das Gespräch, vorzugsweise auf der Arbeitsebene mit Mitarbeitern und Referenten, sie pflegen Kontakte, machen Komplimente, streuen und sammeln Informationen. Dieser professionell organisierte Apparat des modernen Lobbying (neudeutsch für: Interessenvertretung) verfolgt in vielfältigen Variationen nur ein Ziel: Einfluss zu nehmen auf den demokratischen Entscheidungsprozess. Immer kommt es darauf an, Gesetzesvorhaben zu verhindern oder anzustoßen. Steht ein Gesetz unmittelbar vor seiner ersten schriftlichen Fassung, dem so genannten Referentenentwurf, der entweder aus dem Parlament selbst oder aus den Büros der Ministerialbürokratie kommt, dann ist es erste Lobbyistenpflicht, möglichst schnell an den Text zu gelangen oder besser noch eigene Entwürfe und „Formulierungshilfen“ für ein Gesetz anzubieten. In wochen-, ja monatelanger Kleinarbeit werden alle relevanten Personen systematisch mit dem Interesse der jeweiligen Interessengruppe vertraut gemacht – so lange, bis Parlamentarier, Staatssekretäre, Ministerialdirigenten und Minister den Bedenken oder Vorgaben des organisierten Privatinteresses angemessen Gehör schenken. Steter Tropfen höhlt den Stein, das ist ein Grundgesetz des Lobbyings.

All dies geschieht Tag für Tag im gut geschützten Arkanbereich des Parlamentsviertels in Berlin. Ein Grundpfeiler der Demokratie ist jedoch das transparente Verfahren. Demokratische Entscheidungen im rechtsstaatlich-parlamentarischen System dürfen deshalb Legitimität beanspruchen, weil sie über ein allgemein und öffentlich nachvollziehbares Verfahren normativ abgesichert sind. Es genügt nicht, dass am Ende bei der Abstimmung Parlamentarier die Hand heben und mehrheitlich entscheiden. Genauso wichtig wie die Entscheidung selbst ist die Art und Weise, wie sie zustande kommt. Der Prozess der Meinungsbildung, das öffentliche Ausloten von Positionen und Gegenpositionen, ist dabei von wesentlicher Bedeutung. Demokratie und Öffentlichkeit müssen ein unzertrennliches Paar sein, wenn das politische System nicht in eine anhaltende Legitimationskrise geraten will. Der demokratische Prozess muss zumindest die Vermutung zulassen, dass in ihm öffentlich alle relevanten Gründe für und wider eine gesetzgeberische Entscheidung berücksichtigt wurden. Das Abwägen von Gründen im öffentlichen Raum und das immer Vorläufige demokratischer Entscheidungen machen die demokratische Regierungsform auch für die jeweilige Minderheit akzeptabel.

Daher stellt sich die Frage, wie bei der Debatte und Entscheidung über richtige Lösungen für politische Probleme dem Gemeinwohl Rechnung getragen werden kann. Die demokratische Öffentlichkeit und das den Wahlergebnissen proportional entsprechende Parlament sind dabei die eine – nachvollziehbare – Seite. Schwieriger wird es bei der Frage nach dem Einfluss von Partikularinteressen auf politische Entscheidungen. An diesem sensiblen Punkt ist die Diskussion über Lobbyismus angesiedelt. In der modernen und hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft ist die Bündelung von Interessen eine legitime Angelegenheit. Wo die Stimme des Einzelnen kaum vernehmbar ist, können Verbände und Interessengruppen ihrer Sicht der Dinge schon eher zum Durchbruch verhelfen. Doch die zentrale Frage ist, wie sich der Kontakt zwischen dem politischen Prozess und der gesellschaftlichen Sphäre der Einzelinteressen gestaltet. Die Rolle des Lobbyismus ist dabei umstritten. Im Wesentlichen lassen sich zwei Positionen ausmachen, zwischen denen die Debatte oszilliert.

Wirkt der Lobbyismus per se zerstörerisch?

Puristen und Rigoristen meinen, Lobbying sei per se demokratiezerstörend ist, weil Lobbyisten grundsätzlich im nicht-öffentlichen Raum verkehren. Das ganze Geschäft des Lobbyismus findet abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit statt. Diese unbestritten bedrohlichen Tendenzen und Usancen im Blick, bestreiten die Puristen der Demokratietheorie jegliche Berechtigung des Lobbyismus und fordern eine möglichst weit gehende Reduzierung lobbyistischer Einflüsse.

Pragmatiker auf der anderen Seite, welche die Bedenken gegen Lobbyismus durchaus in vielen Punkten teilen, gelangen zu einem anderen Schluss. Lobbyismus ist in der politischen Realität schwer zu handhaben, aber dennoch ein notwendiger Bestandteil von pluralistischer Gesellschaft und Demokratie. Um überhaupt zu Entscheidungen gelangen zu können, ist der demokratische Willens- und Meinungsbildungsprozess auf die Kenntnis und den Ausgleich von Interessen angewiesen. Um dem Gemeinwohl Rechnung zu tragen, muss man wissen, welche partikularen Interessen im Spiel sind. Politik ohne Lobbyismus liefe aus der Sicht der Pragmatiker darauf hinaus, dass das Raumschiff Bundestag Gesetze erlässt, die erst nach ihrer Verabschiedung auf den harten Erdboden der gesellschaftlichen Wirklichkeit treffen. Der Qualität gesetzgeberischer Entscheidung wäre damit möglicherweise ein Bärendienst erwiesen. Also fordert der Pragmatismus, die Formulierung gesellschaftlicher Interessen durch Lobbying nicht nur zuzulassen, sondern sie sogar zu suchen und von vornherein mit ihrem Einfluss zu rechnen. Die hohe Kunst der Politik besteht dann in einer angemessenen Abwägung und Gewichtung von Partikularinteressen und auch – falls erforderlich – im Akt der bewussten Zurückweisung.

Die Frage lautet also eigentlich nicht, ob es Lobbyismus geben soll oder nicht. Seine Existenz kann und darf in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht verhindert werden. Dies gilt, obwohl lobbyistische Anliegen letztlich undemokratisch, weil nicht-öffentlich sind. Die Frage ist jedoch, in welchem Maße und in welchen Prozessen partikulare Interessen angemessen berücksichtigt oder gewichtet werden können. Hier stellt sich auch die Frage, wie man der wesentlich schwächeren Stimme von public interest groups (Verbraucher-, Kinderschutz-, Behinderten-, Umweltverbände et cetera) gegenüber der mächtigen Lobby der private interest groups (Konzerne, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Kammern) Gehör verschaffen kann.

Welche Formen von Interessenvertretung sind angebracht und welche überschreiten die Grenze des Illegitimen? Der Diskussion dieser Frage widmet sich das unlängst erschienene Buch Die fünfte Gewalt. Anatomie des Lobbyismus in Deutschland, herausgegeben von Thomas Leif und Rudolf Speth. Dort sind einige drastische Beispiele für heutige Formen des Lobbying zu lesen. Die lobbyistischen Anstrengungen – man ist geneigt von Machenschaften zu reden – der Pharma- und Agroindustrie oder das mit Millionenaufwand betriebene neoliberale Lobbying der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft bilden dabei die Spitze eines Eisbergs gezielter Einflussnahme im Dienst wirtschaftlicher Partikularinteressen.

Solche Beispiele sind lehrreich, wenn es um die Schärfung der Aufmerksamkeit geht. Wirklich helfen können sie den Parlamentariern freilich nicht, die sich den Lobbyverbänden täglich ausgesetzt sehen. Der Gedanke an Verhaltenscodices und Transparenzpflichten schützt nicht vor der unausweichlichen Frage, wie man im täglichen kleinen Grenzverkehr mit Lobbyisten und ihren Organisationen umgehen soll. Im Grunde hilft hier nur die Flucht nach vorn. Ein Versuch in diese Richtung war in der vergangenen Wahlperiode die Projektgruppe zu öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) der SPD-Fraktion im Bundestag.

Die offene Methode des Lobbyismus

Das so genannte ÖPP-Beschleunigungsgesetz wurde im vergangenen Sommer verabschiedet, um die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Kooperation zwischen Kommunen und privaten Investoren zu schaffen und rechtliche Hemmnisse im Vergabe- und Vertragsrecht und anderen Bereichen zu beseitigen. In Zeiten leerer öffentlicher Kassen sind öffentlich-private Partnerschaften ein möglicher dritter Weg, der zwischen traditioneller Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur durch den Staat und der vollständigen Privatisierung verläuft. Schon zu Beginn der Diskussion war allen Beteiligten klar, dass wegen der lukrativen Geschäfte, die privaten Investoren in öffentlich-privaten Partnerschaften winken, das ÖPP-Beschleunigungsgesetz für Lobbyverbände von großem Interesse sein würde. Daher hat die Projektgruppe ÖPP der SPD-Fraktion von vornherein alle relevanten Interessengruppen eingeladen, sich an den Beratungen zu beteiligen. Die politischen Entscheidungen, besonders die Formulierung des Gesetzentwurfs, blieben den Abgeordneten vorbehalten, ohne Wenn und Aber.

Diese Arbeitsmethode, die mit der Formulierung von Partikularinteressen rechnet und sie von vornherein in den politischen Prozess einbezieht, hatte im Wesentlichen zwei Effekte. Zum einen waren die eingeladenen Interessenvertreter gezwungen, ihre jeweils partikulare Sicht der Dinge offen zu legen, womit ein zentraler Quell des einflussorientierten Lobbyismus, Dezenz und Geheimhaltung, trocken gelegt war. Zum anderen trafen die Interessenvertreter auf andere Interessenvertreter mit anderen Partikularinteressen. Das führte dazu, dass die verschiedenen Interessen sich wechselseitig außer Kraft setzten beziehungsweise in einen Streit um Plausibilität und Begründbarkeit gerieten. Alles in allem zeigte sich, dass diese Methode, Interessen in den parlamentarischen Raum zu ziehen und sie dort öffentlich der demokratischen Mühle des Aushandelns und Kompromisssuchens auszusetzen, wirkungsvoller ist als ethisch-moralische Appelle – so berechtigt sie auch sein mögen.

Dieser Weg wird selbstverständlich kontrovers diskutiert. Die am politischen Prozess direkt Beteiligten können der Möglichkeit einiges abgewinnen, Interessen systematisch (und nicht geheim und regellos) ins Geschäft des Gesetzemachens einzubeziehen. Andererseits hat vor allem die Arbeit am Gesetz über öffentlich-private Partnerschaften die platte Vorurteilsebene herausgefordert. So wird – neben einer Reihe seriöser Diskussionsbeiträge zum Thema – von ein paar realitätsresistenten Kritikern bis heute hartnäckig behauptet, das Parlament hätte sich das ÖPP-Beschleunigungsgesetz direkt von Anwaltskanzleien und Lobbyvertretern aufschreiben lassen und anschließend abgenickt. Man steht immer gut da mit solcher Kritik, löst sie doch beim breiten Publikum den Reflex aus, dem politischen System moralische Verkommenheit und dem einzelnen Abgeordneten Korrumpierbarkeit zu unterstellen. Solch pauschale Politschelte schadet aber dem demokratischen Prozess selbst, weil sie die illegitime Einflussnahme auf den demokratischen Prozess und den Versuch, mit dieser Einflussnahme umzugehen und ihr Regeln zu geben, unterschiedslos in einen Topf wirft. Differenziertheit des Urteils ist das erste Gebot der komplexen Moderne. Das gilt auch und ganz besonders beim Thema Lobbyismus.

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