Kinder sind keine Privatsache

In Deutschland nehmen 15 Prozent aller Kinder nicht an Vorsorgeuntersuchungen teil. Wer hier ausschließlich auf das Prinzip Freiwilligkeit setzt, schadet vor allem den Kindern, die Hilfe und Unterstützung am dringendsten brauchen

Dürfen sich Staat und Gesellschaft in die Angelegenheiten der Familie einmischen? „Eher nicht“ lautet die dafür in Deutschland typische Antwort. Die Angst vor staatlicher Einmischung in die Kindererziehung erklären einige Wissenschaftler als Spätfolge der totalitären NS-Zeit. Allerdings war auch der Adenauer-Staat in familiären Angelegenheiten teilweise recht repressiv, erst in den folgenden Jahrzehnten wurde die Bundesrepublik liberaler. Die Verfechter der Elternrechte berufen sich auf Artikel 6 des Grundgesetzes: Pflege und Erziehung sind demnach das „natürliche Recht“ der Eltern. Von Kinderrechten hingegen ist in unserer Verfassung seltener die Rede.

Häufig wird dabei übersehen, dass die Kinderpflege und Erziehung nicht nur ein „natürliches“ Elternrecht ist, sondern auch eine Pflicht, über die die staatliche Gemeinschaft zu wachen hat. Diese Pflicht steht spätestens dann zur Debatte, wenn es um die Gesundheit der Kinder geht.

„Zwangscheck“ betitelte sogar die Zeitung Das Parlament des Bundestages einen Beitrag über verbindliche kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen. Gezwungen werden sollen allerdings nicht die Kinder. Es geht darum, ob und wie der Staat Druck auf die Eltern ausüben darf, damit diese mit ihren Kindern regelmäßig zum Arzt gehen. Es geht um das Spannungsverhältnis zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Elternrechten und der gesellschaftlichen Verantwortung für die Kinder. Kurz: Wie viel Liberalität wollen wir, wenn es um die Rechte und das Wohl der Kinder geht?

Im Bundesrat sind die Länder jüngst übereingekommen, die Vorsorgeuntersuchungen verbindlicher zu machen. Dieser Beschluss ist umstritten. Beispielsweise spricht sich der Berliner Bildungssenator Klaus Böger (SPD) zwar persönlich für mehr Elternpflichten aus, räumt dem Elternrecht jedoch juristisch einen höheren Rang ein. Seiner Meinung nach lässt das Grundgesetz verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen nicht zu. Wieso aber soll das Elternrecht höher bewertet werden als das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und eine gesunde Entwicklung? Es ist kaum vorstellbar, dass eine Verfassung den Eltern das Recht einräumt, mit ihren Kindern nicht zum Arzt zu gehen. Außerdem: Wer kennt eigentlich Eltern, die dieses Recht für sich reklamieren?

Vernachlässigung als „Elternrecht“?

Etwa 15 Prozent der Kinder in Deutschland werden nicht zur Vorsorgeuntersuchung gebracht. In manchen Stadtteilen sind es sogar 50 Prozent. Jedoch ist die Vorstellung ziemlich abwegig, die Eltern dort beharrten vornehm-bürgerlich auf ihrem Elternrecht. Sie sind entweder vergesslich oder gleichgültig. Mit verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen sollen extreme Fälle von Kindesverwahrlosung ebenso verhindert werden wie die gesundheitliche Benachteiligung der sozial schwächsten Kinder: Sie leiden am häufigsten unter Übergewicht, Fehlernährung und Bewegungsmangel. Die gesundheitliche Benachteiligung setzt sich im Erwachsenenalter fort. Die Zuckerkrankheit, Herzinfarkte, Schlaganfälle und Krebserkrankungen kommen in sozial schwachen und bildungsfernen Schichten überdurchschnittlich häufig vor.

Medizinverweigerer mit ideologischen Motiven gibt es äußerst selten. Richtig umstritten sind eigentlich nur die Impfungen gegen Kinderkrankheiten. Einige Eltern und wenige Ärzte lehnen sie ab. Rücksicht auf diese Mindermeinung nimmt der Staat im Ernstfall nicht. Beispielsweise kontrolliert das Duisburger Gesundheitsamt wegen einer Vielzahl gefährlicher Masernerkrankungen an den Toren einzelner Schulen jetzt die Impfbücher. Wer keine Masernimpfung nachweisen kann, wird wieder nach Hause geschickt. Bei den Vorsorgeuntersuchungen hingegen wird weder geimpft, noch nimmt der Staat selbst die Untersuchung vor. Und selbst hart gesottene Anhänger der Homöopathie oder Naturheilkundler haben einen Kinderarzt ihres Vertrauens. Eltern aus den Mittelschichten akzeptieren die Untersuchungen sowieso.

Wenn sich Gegner verbindlicher Vorsorgeuntersuchungen als Verfechter von Elternrechten aufspielen, zielen sie also vollkommen an der Realität vorbei. Viele Eltern wären sogar froh, wenn sie die Termine nicht mehr vergessen würden, weil die Gesellschaft sich mitverantwortlich fühlt und das Gesundheitsamt wenigstens einen Erinnerungsbrief schickt, wie einige Ämter dies bereits tun.

Jedoch: Wäre Freiwilligkeit nicht der bessere Weg? Immerhin gibt es eine ganze Reihe von Programmen, Modellen und Ideen, um die Teilnahmequote an den Vorsorgeuntersuchungen zu erhöhen. Die Fehlquote von 15 Prozent könnte man durchaus auf zehn oder fünf Prozent reduzieren. Das reicht aber nicht, weil zu allen freiwilligen Beratungsangeboten vor allem diejenigen erscheinen, die sich sowieso um die Gesundheit ihrer Kinder kümmern. Außerdem würden die restlichen Kinder eine umso prekärere Risikogruppe darstellen. Wer also auf Freiwilligkeit setzt, muss die Frage beantworten, was mit den Kindern geschehen soll, die Prävention und Hilfe vermutlich am dringlichsten brauchen.

Einige Kommunen wollen die Situation durch eine enge Kooperation zwischen Gesundheits- und Jugendamt verbessern. Aus den Familien, deren Kinder an der Vorsorgeuntersuchung nicht teilgenommen haben, filtern sie anhand bestimmter Merkmale eine Zielgruppe heraus, auf die ein besonderes Auge geworfen werden muss. Der Nachteil dieser Methode: Häufig kann erst zu spät eingegriffen werden. Wie man es auch dreht und wendet: Freiwillige Maßnahmen sind nicht weniger aufwendig als verpflichtende Untersuchungen – sie sind nur weniger erfolgreich.

Datenschutz contra Kinderschutz?

Verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen allein reichen jedoch nicht. Sie müssen mit einem Bündel von Maßnahmen für die Problemfälle einhergehen. Denn die Schwierigkeiten von Kindern aus sozial schwachen Familien sind nicht nur medizinischer Natur, sondern werden oft vom sozialen Umfeld des Kindes verursacht. Wir müssen deshalb erstens zu den Familien des Kindes gehen, ihnen Hilfe anbieten, die Eltern beraten und die Kinder fördern. Zweitens muss das Gesundheitsamt künftig besser mit dem Jugendamt kooperieren können; die unnatürliche Grenze zwischen dem Gesundheits- und dem Sozialbereich muss aufgehoben werden. Hier erschwert der Datenschutz effiziente Hilfe noch erheblich. Drittens müssen die Qualität und die zeitliche Abfolge der kinderärztlichen Untersuchungen verbessert werden. Beides hängt zu sehr vom Engagement des einzelnen Arztes ab. Außerdem braucht der Arzt Ansprech- und Kooperationspartner. Häufig sind die zuständigen niedergelassenen Ärzte in ihren Praxen ziemlich einsam.

Aus diesen Gründen wären gerade in sozialen Brennpunkten Eltern-Kind-Zentren nach dem Vorbild der britischen Early Excellence Centres ein Gewinn. Dort sitzt ein Kinderarzt Tür an Tür mit anderen Beratungs- und Hilfsanbietern, gleichzeitig sind die Zentren Treffpunkt für die Eltern des Stadtteils. Auch die Zusammenarbeit von Ärzten mit Kindergärten könnte viel bewirken – wenn denn die Gruppe der am meisten gefährdeten Kinder dort anzutreffen wäre. Somit wäre auch eine verbindliche Eingangsuntersuchung für den Kindergarten nicht mehr als ein erster kleiner Schritt, um früher zu erkennen, wo Hilfen nötig sind und Entwicklungen positiv beeinflusst werden können.

Wenn Vorsorgeuntersuchungen verpflichtend sind, müssen sie auch durchgesetzt werden. Verschiedene Sanktionsformen sind denkbar. Eine populäre Forderung lautet: „Kindergeld streichen!“ Wer eine Kindergeldleistung verlangt, solle im Gegenzug wenigstens die minimalen Verpflichtungen seinem Kind gegenüber erfüllen. Nur beruht das Kindergeld auf dem Grundsatz der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums, Kürzungen sind deshalb nicht möglich.

Während andere Länder, etwa Österreich oder Frankreich, durchaus mit Leistungskürzungen sanktionieren, arbeitet Finnland überaus erfolgreich mit positiven Anreizen. Es gibt sogar Sachleistungen für die Babyausstattung, wenn man die Beratungsstelle Neuvola regelmäßig besucht – das europaweit vermutlich vorbildlichste System der Begleitung von Kindern in den ersten Lebensjahren. Die Teilnahme ist zwar freiwillig, aber fast jeder geht hin – auch weil es nur so das Mutterschaftsgeld gibt.

Der Deutsche Kinderschutzbund lehnt Sanktionen strikt ab. Er glaubt nicht, dass auf dieses Weise der Arztbesuch eines Kindes aus einer sozial benachteiligten Familie zu garantieren ist. Der Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers fordert etwas anderes: eine Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Neben dem Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung soll dort auch das Recht auf eine gute Gesundheitsvorsorge verankert werden. Nur so könne der Arztbesuch juristisch zweifelsfrei garantiert werden, gegebenenfalls durch eine Einschränkung des Sorgerechts.

Kinder sind Privatsache – dieser Allgemeinplatz scheint sich so weit in das bundesdeutsche Bewusstsein eingeschliffen zu haben, dass manche glauben, so stünde es im Grundgesetz. Tut es aber nicht. Kinder haben eigene unveräußerliche Rechte. Dazu gehört zweifellos das Recht auf eine gute Gesundheit. Um dies klarzustellen, sollte unser Bürgerliches Gesetzbuch entsprechend ergänzt werden.

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