Keine Wohlfahrt in Wisconsin

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch preist die Wohlfahrtsreform des amerikanischen Bundesstaates Wisconsin als Vorbild an. Doch das dortige Modell ist vollständig gescheitert. Deutschland braucht einen staatlich subventionierten Niedriglohnsektor

Dass der Sozialstaat reformiert werden muss, wissen alle. Hohe Wellen schlug deshalb vor einiger Zeit eine Initiative des hessischen Ministerpräsidenten. Roland Koch forderte die Übernahme des so genannten Wisconsin-Modells für Deutschland, das die partielle Privatisierung staatlicher Sozialleistungen vorsieht. Doch die vermeintlich so vorbildliche "Wohlfahrtsreform" in Wisconsin, bekannt unter der Bezeichnung "Wisconsin Works" oder "W-2", hat den amerikanischen Bundesstaat in eine katastrophale soziale Krise gestürzt.


Wie verheerend die Ergebnisse von W-2 ausfallen, ergibt sich eindrücklich aus einem Bericht mit dem Titel Passing the Buck: W-2 and Emergency Services in Milwaukee County (www.wisconsinsfuture.org), der von der Interfaith Conference of Greater Milwaukee, dem Center of Economic Development an der Universität von Wisconsin und dem Institut for Wisconsin′s Future herausgegeben wurde. Der Bericht dokumentiert, dass seit der Implementierung des W-2-Programms im September 1997 private gemeinnützige Programme und die Kirchen "für viele bedürftige Familien das einzige Sicherheitsnetz bieten".


Einige wichtige Ergebnisse: Die Zahl derer, die zwecks Erhalt von Lebensmitteln an Gemeindehotlines verwiesen wurden, stieg zwischen 1996 und 2000 um 136 Prozent. Im Zeitraum von fünf Jahren wuchs die Zahl derer, die Mahlzeiten in Suppenküchen erhielten, um 49 Prozent; die Zahl der Menschen, die von der zentralen Notunterkunfts-Hotline an Notunterkünfte verwiesen wurden, stieg zwischen 1998 und 2000 um 53 Prozent. Ausweichheime für Obdachlose nahmen 2000 drei Mal so viele Menschen pro Nacht auf wie 1997. Die Notunterkünfte sind nahezu ständig voll. Die Kluft zwischen der Nachfrage nach einer Notunterkunft und dem Angebot an Plätzen ist seit 1997 um 406 Prozent gewachsen. Zwischen 1995 und 1999 verdoppelte sich die Zahl der Personen, die kostenlose gesundheitliche Versorgung in Krankenhäusern der Region in Anspruch nehmen mussten, die Anzahl der unbezahlten Arztrechnungen stieg um 82 Prozent. Nur 15 Prozent der Kirchengemeinden sind der Auffassung, die Situation der Familien habe sich seit 1995 verbessert; 87 Prozent der Befragten berichten, sie hätten im Vergleich zu 1995 im Jahr 2000 ebenso viele oder mehr Hilfsersuchen erhalten.

Tagsüber Arbeit, abends um Essen betteln

Die Autoren des Berichts weisen darauf hin, dass diese Zahlen während einer Phase wirtschaftlicher Erholung ermittelt wurden. "Die Kirchengemeinden stellen fest, dass sie trotz des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre mehr und mehr tun, um die Grundbedürfnisse von einkommensschwachen Familien zu befriedigen", sagt Marcus White, Leitender Direktor der Interfaith Conference of Greater Milwaukee und Mitverfasser des Berichts. "Wir erleben jetzt eine Rezession. Das bedeutet, die Menschen werden mehr Hilfe benötigen, und die Kirchengemeinden werden die schlechte Lage stärker zu spüren bekommen. Wir müssen uns wirklich fragen, ob wir eine Gesellschaft wollen, in der die Menschen in Niedriglohnjobs den ganzen Tag hart arbeiten und dann jeden Abend die Kirche um Essen bitten müssen, um ihre Kinder zu ernähren."


Pläne zur privatisierenden Reform der Wohlfahrt gewannen in Wisconsin seit den frühen neunziger Jahren an Boden. Die Stadt Milwaukee ist die Heimat der erzkonservativen Stiftung Lynde and Harry Bradley Foundation. Bradley ist die reichste und einflussreichste der konservativen gemeinnützigen Stiftungen. Ihr Gesamtziel ist die komplette Abschaffung aller öffentlichen Programme zugunsten der Armen, der Arbeiter- und Mittelschichten, einschließlich des öffentlichen Bildungswesens. Das Hudson Institute formuliert dass etwas weicher: "Welfare reform enforces marriages".


Weil in Verträgen mit dem Staat vorgesehen ist, dass die privaten Stellen, die das W-2-Programm verwalten, Prämien für die Reduzierung der Zahl der Sozialhilfeempfänger erhalten, hat die Zahl der W-2-Empfänger im Bezirk Milwaukee von 36.155 im Jahre 1997 auf 13.351 im Jahre 2000 und damit um 63 Prozent abgenommen. Führungskräfte privater Agenturen in Milwaukee haben für die Streichung von Empfängern aus dem W-2-Programm sechsstellige Prämien und andere Sonderleistungen wie Pauschalreisen erhalten - trotz eindeutiger Hinweise darauf, dass diese Menschen weiterhin Unterstützung benötigten.

Die Privatisierung ist ein Irrweg

Viele ehemalige W-2-Empfänger sind in niedrig bezahlte Saison- oder Dienstleistungsjobs gedrängt worden. Die Agenturen wiesen ihre Sozialarbeiter an, Unterstützungsformen wie Lebensmittelmarken, Kinderbetreuung und Busfahrkarten zu verweigern. Viele W-2-Empfänger haben sich über das erniedrigende und unberechenbare Verhalten der Sozialarbeiter beschwert, die ihrerseits gezwungen werden, Empfänger trotz tatsächlicher Bedürfnisse aus dem Programm zu werfen. Unabhängige Untersuchungen unterschiedlicher Quellen, einschließlich des Milwaukee Journal Sentinel, haben dies bestätigt.


Passing the Buck fordert dazu auf, auf einzelstaatlicher und bundesstaatlicher Ebene sofort langfristige Lösungen einzuleiten - beginnend mit einer Wiederherstellung des sozialen Netzes der Regierung und eventuell der Beendigung der Privatisierung staatlicher Dienstleistungen: "Beobachter und Politiker sollten die Nachhaltigkeit eines Systems in Frage stellen, in dem private Organisationen die Verantwortung für die Bereitstellung grundlegender Unterstützung für einkommensschwache Familien und Familien in der Krise tragen. Im Rahmen der Implementierung der Wohlfahrtsreform schob die Regierung den Schwarzen Peter an die Gemeinden weiter. Die Untersuchung beweist eindeutig, wie wichtig es ist, dass die Regierung wieder die Verantwortung dafür übernimmt, dass ein Sicherheitsnetzes für Familien in der Krise aufrecht erhalten wird."

Armut trotz Arbeit darf es bei uns nicht geben

Was heißt das für die Debatte in Deutschland? Wisconsin kapieren, nicht kopieren lautet die Devise. Deshalb ist es aus vielerlei Gründen nicht empfehlenswert, die W-2-Reformen zu übernehmen. Allerdings ist es höchste Zeit, dass die sozialdemokratische Politik einen Strukturwandel einleitet, die den Arbeitsmarkt in neue Bahnen lenkt, ohne dessen schwächste Teilnehmer zu benachteiligen. Will man "Armut trotz Arbeit" wie im Fall der working poor in den Vereinigten Staaten vermeiden und hohe Sozialstandards beibehalten, so wird man um die staatliche Subventionierung eines Niedriglohnsektors für gering Qualifizierte nicht herumkommen. Dementsprechend haben etliche westeuropäische Staaten in den neunziger Jahren neue Strategien entwickelt, um den Niedriglohnsektor zu fördern und zu entwickeln. Aus diesen Initiativen, wie auch beim Wisconsin-Modell, lässt sich allerdings nur die allgemeine Empfehlung ableiten, dass es offensichtlich sinnvoll ist, einen Niedriglohnsektor zu subventionieren. Darüber hinaus sind die nationalen Systeme der Arbeitsmarktregulierung und der sozialen Sicherung zu differenziert, um direkt übertragbare Lösungen anzubieten.


Das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) hat sich im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen und unter Beteiligung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (DIW) in einer aktuellen Studie grundlegend mit den Beschäftigungspotenzialen und Kosten flächendeckender Lohnsubventionierung auseinandergesetzt. Die Studie zeigt, dass sich die Kosten pro neuem geschaffenen Arbeitsplatz auf bis zu 73.000 Euro jährlich belaufen. Insgesamt wären bei maximal erreichbaren 100.000 Arbeitsplätzen 7,3 Milliarden Euro jährlich aus den Mitteln der Allgemeinheit aufzubringen. Aufwand und Nutzen stünden in keinem vernünftigen Verhältnis. Aus ökonomischer Sicht muss die flächendeckende Lohnsubventionierung ohne Befristungen und Orientierung auf spezifische Zielgruppen deshalb als wenig vielversprechend gelten. Das hindert die Unionsparteien übrigens nicht daran, haltlose Wahlkampfversprechungen abzugeben. Edmund Stoiber hat die breit angelegte Förderung von Billigjobs zum Kern seiner Arbeitsmarktpolitik erklärt. Mittels flächendeckender Subventionierung von Niedrigeinkommen verspricht er, über 800.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Nach einhelliger Expertenansicht ist diese Aussage vollkommen illusorisch.


Auch vorherige Studien kamen zu ernüchternden Ergebnisse. Die heftigsten Streitpunkte waren, wie stark die finanziellen Anreize tatsächlich wirken, ob das Jobproblem eher auf der Angebotsseite oder der Nachfrageseite liegt, und inwiefern die Subventionierung zu unerwünschten Mitnahmeeffekten führt. Allerdings lässt sich das langwierige Abwägen von theoretischen Unsicherheiten auch als politische Unentschlossenheit interpretieren. Bei weitreichenden Reformen werden wissenschaftliche Analysen Kosten und Nutzen nie genau vorhersagen können, und es wird immer Aufgabe der Politik sein, gemäß den eigenen Zielen ein gewisses Risiko einzugehen. Sicher ist, dass gerade im Bereich der einfachen, personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen in Deutschland enorme Beschäftigungspotentiale bestehen, etwa im Hotel- und Gastronomiegewerbe oder im Sanitär- und Gesundheitssektor.


Die Förderung eines Niedriglohnsektors für Geringqualifizierte kann nur dann eine substantielle Steigerung der Beschäftigtenzahl erreichen, wenn sie einen Strukturwandel und grundsätzlich veränderte Erwartungen bei allen Arbeitsmarktteilnehmern bewirkt. Deswegen sollten bereits jetzt auf bundespolitischer Ebene Entscheidungen getroffen werden, die eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte initiieren. Dabei sind als generelle Kriterien zu beachten, dass die Kosten durch möglichst geringe Mitnahmeeffekte überschaubar bleiben müssen und wenig zusätzlicher administrativer Aufwand entstehen darf.

Wie es in Deutschland funktionieren könnte

Die erste und wichtigste Bedingung des Erfolgs liegt darin, eine Subventionierung von Niedriglöhnen nur selektiv zu gewähren, wie es etwa das in Baden-Württemberg praktizierte "Einstiegsgeld für Langzeitarbeitslose", das Mainzer Modell und ebenso das Saar-Modell vorschlagen. Es sollte also - anders als von der Union gefordert - keine flächendeckende Subventionierung betrieben werden. Eine Konzentration auf gering Qualifizierte, auf Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger würde Mitnahmeeffekte vermeiden. Falls viele geringfügig Beschäftigte ("630 Mark") umsteigen oder mehr Frauen aus der stillen Reserve ein bezuschusstes Arbeitsverhältnis aufnehmen, wäre das zu begrüßen und jedenfalls nicht als Mitnahmeeffekt abzuwerten.


An zweiter Stelle muss endlich die so genannte Armutsfalle beseitigt werden, die Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern mit Kindern zu wenig Anreize bietet, eine niedrig entlohnte Beschäftigung aufzunehmen, weil kinderbezogene Leistungen dann sofort gekürzt werden. Das Kindergeld sollte bei Arbeitsaufnahme bedürftigkeitsgeprüft erhöht bleiben, wobei das Mainzer Modell ein innovatives Lösungsbeispiel bietet, indem es Kindergeldzuschüsse an Wohngeldansprüche koppelt und dadurch eine einfache Verwaltung sicherstellt.


Drittens ist es sinnvoll, die Unterstützung eines Niedriglohnsektors mit neuen Qualifizierungsmethoden zu kombinieren. Die Variante des Saar-Modells, ungelernte Arbeitnehmer in Form von Qualifizierungsgutscheinen zu belohnen, die jobbegleitend eingelöst werden können, ist insofern eine ausgezeichnete Anregung. Es spricht viel dafür, dies flächendeckend einzuführen und gleichzeitig kreative Konkurrenz unter den staatlichen und privaten Weiterbildungsanbietern zu fördern.


Schließlich sollte ein wachsender Niedriglohnsektor durch die Förderung von Existenzgründungen kleiner und mittlerer Unternehmen im Servicesektor begleitet werden, denn genau diese Betriebe schaffen neue Arbeitsplätze. Als Begleitmaßnahme ähnlich empfehlenswert ist es, verschärft gegen die illegale Niedriglohnbeschäftigung per Schwarzarbeit vorzugehen. Sie muss durch höhere Strafen für Arbeitgeber und umfassendere Verfolgung eingedämmt werden.


Die Kostenneutralität einer solchen Niedriglohnoffensive - falls sich die Aufwendungen nicht bereits aus den Einsparungen in den Arbeitslosen- und Sozialhilfekassen begleichen lassen - könnte auf zweierlei Weise gewährleistet werden. Zuerst wäre es angebracht, die neuen Programme durch die Reduzierung der traditionellen aktiven Arbeitsmarktpolitik zu kompensieren, da ein Teil von deren Aufgaben überflüssig würde und ohnehin fragwürdig ist. Des weiteren wäre es durchaus überlegenswert, Einschränkungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe vorzunehmen. Wer trotz der zusätzlichen finanziellen Anreize keine Arbeit aufnimmt, der sollte mit dauerhaften Leistungskürzungen und strikteren Zumutbarkeitskriterien rechnen. Wer in Deutschland Verhältnisse wie in Wisconsin verhindern will, wird diesen Weg beschreiten müssen.

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