Kein Grund zum Feiern

Der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise ist noch nicht erreicht, da macht sich bei einigen politischen Entscheidungsträgern bereits wieder Selbstgefälligkeit breit. Doch mit halber Kraft wird der Kampf gegen den Protektionismus nicht gewonnen

In den vergangenen drei Monaten haben politische Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks auf angebliche Hoffnungsschimmer für die wirtschaftliche Erholung hingewiesen. Zwar behauptet niemand, der weltweite ökonomische Abschwung sei bereits vorüber. Dennoch haben sich in die öffentlichen Statements unserer Politiker Formen von Selbstbeweihräucherung eingeschlichen. Dies gilt besonders für das Thema Protektionismus, also für Maßnahmen, die ausländische Firmen und Arbeitnehmer benachteiligen. Eigentlich gilt Protektionismus seit der Großen Depression als diskreditiert. Erst kürzlich erklärte etwa David O′ Sullivan, der Generaldirektor für Handel der EU-Kommission, gegenüber finnischen Offiziellen, dass die Regierungen "im Großen und Ganzen gute Arbeit" geleistet hätten, dem Protektionismus zu widerstehen. Derzeit sei "die Situation unter Kontrolle". Ist diese Haltung berechtigt oder Ausdruck von Selbstgefälligkeit?

Zumindest scheint nicht jeder im Kampf gegen den Protektionismus derart optimistisch zu sein. Der gerade veröffentlichte Global Monitoring Report des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beispielsweise kommt zu dem Schluss, dass sich seit September 2008, "ein Muster aus Importlizenzen, Importzöllen und Zuschlägen sowie Handelsbeihilfen zu entwickeln beginnt, um Industrien zu unterstützen, die schon früh in Schwierigkeiten geraten sind". Von einer Überwindung des Protektionismus kann demnach kaum die Rede sein.

Noch schlimmer: In einer Umfrage, die Mitte April unter europäischen, amerikanischen und asiatischen Supply Chain Managern im produzierenden Gewerbe durchgeführt wurde, vertraten 84,2 Prozent der Befragten die Auffassung, dass Protektionismus zu einer weltweiten Depression führen könnte. Weitere 60,3 Prozent sagten, er könnte die Globalisierung zum kollabieren bringen.

Nach den eigenen Unternehmen gefragt, meinten 20,7 Prozent, dass wachsender Protektionismus zu einem signifikanten Rückgang des Exports und des Handels sowie - so 17,2 Prozent der Befragten - möglicherweise zu steigenden Kosten bei der Materialbeschaffung führen werde. Die Pointe lautet hier: Diejenigen, die den internationalen Handel tatsächlich betreiben, sind durchaus beunruhigt über handelsprotektionistische Tendenzen.

Das dicke Ende kommt erst noch

Mit Blick auf die Zukunft gibt es weitere Gründe für erhöhte Wachsamkeit gegenüber Protektionismus (und gegen Selbstbeweihräucherung und Selbstzufriedenheit). Vor allem werden sich die makroökonomischen Daten verschlechtern, und damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Politiker wie Verwaltungsspitzen auf protektionistische Maßnahmen zurückzugreifen. So hat Europa laut Olivier Blanchard, Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, bisher erst einen geringen Teil der bevorstehenden Jobverluste und Arbeitslosigkeit erlitten. Dazu passt, dass die meisten Prognosen für das Jahr 2009 in den vergangenen Wochen merklich nach unten korrigiert wurden und für viele Länder eine wirkliche wirtschaftliche Erholung nicht vor 2010 oder gar 2011 zu erwarten ist. Deshalb wird in den kommenden Monaten die Versuchung größer werden, Importe zu erschweren sowie ausländische Arbeitnehmer und Investitionen zu benachteiligen. Dies aber würde die hart erarbeiteten Wohlstandsgewinne aus zwei Jahrzehnten globaler wirtschaftlicher Integration bedrohen. Aus all diesen Gründen haben wir gerade jetzt allen Grund, beim Thema Protektionismus auf der Hut zu sein.

Zwar haben die Optimisten recht damit, dass es bislang noch keine generelle Zunahme von Handelsbarrieren gab wie in den dreißiger Jahren. Allerdings wäre dieses Argument weit überzeugender, wenn die Regierungen der industrialisierten Staaten nicht großzügig Subventionen und Kreditgarantien vergeben hätten. Ähnlich wie in den dreißiger Jahren sollen diese Interventionen die Lebensfähigkeit inländischer Unternehmen dadurch verbessern, dass der Anpassungsdruck, die Produktion zu reduzieren, Jobs abzubauen und - im schlimmsten Fall - Konkurs zu gehen, auf ausländische Firmen abgewälzt wird. Viele unserer politischen Entscheidungsträger sind wahrscheinlich nicht weniger kurzsichtig und nicht weniger beschränkt als ihre Vorgänger zu Zeiten des amerikanischen Präsidenten Herbert C. Hoover.

Öfters wird auch behauptet, die aktuelle Weltwirtschaftskrise habe nicht dieselbe Dimension wie die Great Depression der dreißiger Jahre. Sicher, die Arbeitslosigkeit hat glücklicherweise noch nicht annähernd das Niveau wie zur Zeit der Großen Depression erreicht: Damals stieg die Arbeitslosenquote beispielsweise in den Vereinigten Staaten bis auf 25 Prozent an. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass Produktion und Handel derzeit weltweit ähnlichen Trends folgen wie in den dreißiger Jahren. Das ist ziemlich beunruhigend.

Internationale Kooperation - gerade jetzt!

Angesichts des begrenzten Umfangs der monetären und fiskalischen Konjunkturmaßnahmen, die 2008 einsetzten und voraussichtlich noch bis 2010 erfolgen werden, wird sich ein Kollaps der Produktion wie in den dreißiger Jahren wahrscheinlich nicht verhindern lassen. Unausweichlich ist ein vollkommener Zusammenbruch aber nicht. Nur hat die Arbeit an der ökonomischen Erholung allenfalls gerade erst begonnen. Deshalb ist dies wahrlich nicht der richtige Zeitpunkt dafür, unsere langjährigen Bekenntnisse zur offenen Weltwirtschaft über Bord zu werfen.

Auf nationaler Ebene können die Regierungen viel tun, um die wirtschaftliche Erholung zu beschleunigen. Aber zusätzlich ist stärkere internationale Kooperation notwendig, besonders zur Begrenzung des Protektionismus. Zwar haben die Regierungschefs noch auf dem jüngsten G20-Gipfel in London allesamt zugesichert, keine zusätzlichen Handelsbarrieren zu errichten. Doch seither haben nach Angaben von Weltbankpräsident Robert Zoellick neun Teilnehmerländer der Konferenz genau dies getan. Die von einigen Regierungschefs geforderten Überwachungsinstrumente sowie die Methode naming and shaming haben einfach nicht genügend Biss. Wenn die Worte nicht von Handlungen flankiert werden, unterminiert das die Glaubwürdigkeit, die gerade jetzt, da das Vertrauen in den privaten Sektor wieder hergestellt werden muss, ein wertvolles Gut ist.

Zeit für intelligenten Keynesianismus

Was also sollten die politischen Entscheidungsträger tun? Im Idealfall ergreifen sie die folgenden fünf Maßnahmen:

Die erste Maßnahme hat ein Beobachter so auf den Punkt gebracht: "Folge zu Hause Keynes und im Ausland Smith." Das Ziel wäre also ein intelligenter Keynesianismus mit fiskalischen Impulspaketen, die die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen steigern. Beispielsweise tragen großzügige Leistungen für Erwerbslose dazu bei, wirtschaftliche und soziale Imperative miteinander zu versöhnen, weil arbeitslose Menschen üblicherweise einen proportional höheren Anteil ihres Einkommens ausgeben als die meisten anderen Bevölkerungsgruppen. Natürlich gibt es Sorgen um die Nachhaltigkeit der Haushalte einiger Länder, und viele wünschten sich, sie hätten vor der Krise eine verantwortungsvollere Fiskalpolitik betrieben. Aber wenn jemals eine schuldenfinanzierte Expansion der Gesamtausgaben geboten war, dann jetzt.

Den modernen Gefolgsleuten der Herren Smoot und Hawley sollte entgegengehalten werden, dass Volkswirtschaften, die vor der Krise überdurchschnittlich viel importiert haben, im Abschwung stärker gepolstert sind. Denn je offener eine Ökonomie vor der Krise war, desto eher gehen sinkende Ausgaben zulasten von ausländischen Lieferanten und deren Arbeitskräften. Anders gesagt: Die offenen Volkswirtschaften verlagern einen größeren Teil der Anpassungslast ins Ausland.

Deutschland sollte voranschreiten

Die Begrenzung von Importen -sei es durch unverhohlenen Protektionismus wie die Erhebung von Zöllen oder durch weniger offensichtliche Maßnahmen wie Kreditgarantien oder versteckte Subventionen -würde nicht nur zur Vergeltung förmlich einladen, sondern auch den Exportindustrien schaden, die häufig überdurchschnittlich hohe Löhne zahlen. Vom Export abhängige Volkswirtschaften wie Deutschland sind durch protektionistische Maßnahmen anderer Ländern besonders verwundbar und sollten deshalb im Kampf gegen Protektionismus voranschreiten.

Die zweite notwendige Initiative ist die Einführung eines globalen Überwachungsmechanismus, um protektionistische Maßnahmen einzudämmen. Der Februar 2009 war ein schlechter Monat für Zyniker, die glauben, dass Politiker der protektionistischen Versuchung immer nachgeben. Einhellig verurteilten die Europäische Kommission, China, Japan und viele Handelspartner der Vereinigten Staaten die dort vorgeschlagene "Buy American"-Gesetzgebung. In der Folge lehnte Präsident Barack Obama die Vorschläge ab und der amerikanische Senat verwässerte sie stark (wenngleich sie nicht gänzlich fallengelassen wurden). In Zeiten des Internets glauben nur Verrückte, Protektionismus lasse sich im Geheimen betreiben. Darum sollte ein Team aus unabhängigen Experten zusammengestellt werden, das protektionistische Tendenzen aufspürt und Warnmeldungen in Echtzeit veröffentlicht. Zusätzlich sollten die möglichen Opfer der Maßnahmen mit den nötigen Informationen versorgt werden, damit diese Druck auf deren Urheber ausüben können.

Drittens sollten sich die Staaten gesetzlich bindend zu einem zeitweiligen Stillstand bei Handelsrestriktionen verpflichten. Die derzeitigen Handelsabkommen sind keineswegs perfekt. Zahlreiche Schlupflöcher verzerren den Handel. Die Staats- und Regierungschefs sollten vereinbaren, während des weltweiten ökonomischen Abschwungs die Barrieren auf keinem größeren Feld der Handelspolitik zu erhöhen. Dies betrifft vor allem den Handel mit Agrarprodukten und Industrieerzeugnissen, die staatliche Auftragsvergabe und das Thema Dumping.

Viertens sollten sich die Regierungen verpflichten, zur Unterstützung von Firmen und Arbeitnehmern solche Maßnahmen zu beschließen, die den Handel am wenigsten verzerren. Um dies sicherzustellen, könnten sich die Regierungen zudem verpflichten, bei der Entscheidung über "Hilfen" für bestimmte Industrien mehrere Vorschläge gegeneinander abzuwägen und versprechen, die beschlossenen Maßnahmen spätestens 12 Monate nach ihrer Implementierung wieder zu überprüfen. Auf diese Weise würde die jeweilige Regierung zeigen, dass ihre Entscheidung auf Fakten und dem jeweils verfügbaren Wissen über die Wirksamkeit von Maßnahmen basiert. Anzunehmen ist, dass dann wenig erfolgreiche Maßnahmen möglichst schnell wieder beendet werden.

Lasst die Entwicklungsländer nicht im Stich!

In diesen Zeiten des Argwohns sind nur wenige Staaten bereit, ihren Handelspartnern einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Wollen sie keine Vergeltungsmaßnahmen provozieren, müssen Regierungen nachweisen, dass sie sachgerechte Maßnahmen gewählt haben. Die genannten Schritte würden den jüngsten Erklärungen der G20, der G8 und der Asiatisch-Pazifische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (APEC) neue Geltung verschaffen und das Vertrauen in die Privatwirtschaft wieder erhöhen.

Genauso wichtig ist es, dass die Entwicklungsländer in der Wirtschaftskrise nicht im Stich gelassen werden. Die Staatshaushalte mögen unter Druck stehen, dennoch sollten die Industrieländer der Versuchung widerstehen, die Entwicklungshilfe zurückzufahren. Es wäre eine kurzsichtige Außen- und Wirtschaftspolitik, arme Länder weiter zu destabilisieren, deren Wirtschaft schon daniederliegt, nur um Summen einzusparen, die im Vergleich zu den Kosten einer durchschnittlichen Rettungsaktion für Banken oder Automobilfirmen lächerlich gering sind. Hierdurch würde ein Anstieg der Migration in den Westen drohen. Diplomatische Beziehungen wären auf Jahre beeinträchtigt. Und für das Erreichen der Millenium Development Goals wäre der Schaden unkalkulierbar.

Schließlich sollten die Regierungen fünftens Schritte einleiten, um das Fundament für einen weltweiten, exportgetriebenen Aufschwung zu legen. Der Abbau von Bürokratie sowie eine verbesserte Infrastruktur in Entwicklungs- und Industrieländern würden dazu beitragen, die Arterien der Weltwirtschaft zu reinigen. Häfen und Flughäfen sind seit längerer Zeit die schlimmsten Flaschenhälse des Handelsverkehrs. Nutzen wir also das momentum der Krise, um die eigennützige Verteidigung des Status quo zu überwinden und die aktuellen WTO-Verhandlungen zur Liberalisierung des Handels zu beschleunigen. Wenn diese Verhandlungen abgeschlossen sind, muss es darum gehen, ihre Ergebnisse zu verwirklichen, und zwar als Bestandteil der nationalen Konjunkturpakete.

Partielle Siege sind zu wenig

Insgesamt laufen diese Maßnahmen auf einen internationalen Ansatz hinaus: Sie würden zur Genesung der Wirtschaft sowohl im Inland als auch im Ausland beitragen. Nur wenn alle Regierungen jegliche Politik zu Lasten anderer Staaten nach dem Prinzip beggar-thy-neighbour vermeiden, haben wir wirklich aus den Erfahrungen der Großen Depression gelernt. In einer Zeit, da viele Staaten den dramatischsten Rückgang ihrer Wirtschaftsleistung seit Jahrzehnten erleben, ist es unangebracht, bereits partielle Siege über den Protektionismus zu feiern. Zur Selbstzufriedenheit besteht nicht der geringste Grund.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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