Kein Buch über Arbeit

Richard Sennetts verspätete Antwort auf Hannah Arendt

Richard Sennetts neues Buch mit dem Titel Handwerk – im Original: The Craftsman – stößt auf breite Resonanz und hat doch ein Vermittlungsproblem. Das zeigt schon ein kurzer Blick in die vielen Zeitungsbesprechungen darüber. Viele Rezensenten scheinen nicht zu verstehen, wozu Sennett ein Buch über den idealen Handwerker geschrieben hat. Oder sie unterstellen dem Autor Ziele, die er in der Hauptsache gar nicht verfolgt: Sennett mache keine neuen, konstruktiven Vorschläge zu einer humaneren Arbeitsprozessorganisation; seine politische Reformvision sei schwach begründet; sein Werk tauge nicht als Geschichte der Arbeit. Bei einer Veranstaltung in Berlin hat Sennett deshalb klargestellt, er habe gar kein Buch über Arbeit geschrieben. Überdies sei er mit dem deutschen Titel unglücklich.

Sennett bringt die unterschiedlichsten Episoden des Tätigseins zusammen, die kaum alle sinnvoll dem Thema „Arbeit“ zuzurechnen sind – von alt-ägyptischen Ziegelbauern über Mozart bis hin zur japanischen Automobilindustrie. Stattdessen dienen sie als Versatzstücke zur Errichtung eines normativen Ideals des guten Handwerkers. Um den Inhalt grob zu umreißen, möchte ich Sennetts Rat über das Handwerk des wissenschaftlichen Schreibens folgen: zeigen, nicht sagen. Bildlich-metaphorisches Umreißen, nicht begriffsgenaues „totes Bezeichnen“.

Sennett hat zum Ziel, Hannah Arendt zu widersprechen, was er sich als deren Schüler nie getraut habe. Um seine Gegenposition aufzubauen, geht er quasi ethnologisch vor. Er betritt die Werkstatt eines Skulpturenbauers, blickt diesem über die Schulter und erschafft selbst ein Modell vom guten Handwerker. Zunächst erläutert Sennett seinem Publikum, was sein guter homo faber, der handwerklich tätige Mensch, mitnichten sei: weder ein sozialistischer Held der Arbeit noch ein romantisierter Zunfthandwerker noch ein freier Künstler. Dann macht er sich daran, die Werkstatt des Handwerkers zu beschreiben, den Handwerker selbst zu beleuchten und schließlich dessen Hand akribisch zu beobachten. Doch diese Ethnografie ist eben nur modellhaft.

Aus welchen empirischen Quellen schöpft Sennett? Und an welchem Ort befindet sich die Werkstatt des idealen homo faber? Gewiss gehört die Werkstatt in die westliche Geschichte und Zivilisation, doch sie ist eben nicht auf diese beschränkt. Die ganze Anlage seiner Suche verdeutlicht einen universalistischen Impetus. Insgesamt dienen unzählige Versatzstücke und Episoden dazu, die Skulptur des einen guten homo faber zu modellieren. Für die Modelliermasse greift Sennett – scheinbar beliebig – auf seinen persönlichen Erfahrungsschatz zurück, so dass das Ergebnis keine Hautfarbe hat, keiner historischen Epoche zugehört und noch nicht einmal einem bestimmten Arbeitstypus zuzuordnen ist. Am meisten überrascht, dass Sennett auch auf hochgradig gebildete, denkende und schreibende Handwerker hinweist.

Sennett scheidet das gute Handwerk vom schlechten pathologischen Tätigsein ab. Wie nassen Ton führt er dieses dem Modell zu, während er jenes verwirft. Transnationale Netzwerke von Linux-Programmierern oder Mediziner, die gebannt und fachsimpelnd eine per Video dokumentierte Operation verfolgen, werden als positive Beispiele genannt. Ihnen sei gemeinsam, dass sie mit Augenmaß eine Sache um ihrer selbst willen verfolgen. Dabei legen sie Fähigkeiten an den Tag, die sie durch Routine und ständige Wiederholung nach dem Prinzip trial and error erworben haben. Sennett, dem begnadeten Cellisten, schwebt besonders die körperliche Ausbildung der musizierenden Hand als Ideal vor. Das Geheimnis des Musikers sei eben nicht Talent und Eingebung, sondern schlicht: Üben, Üben, Üben.

An den akademischen Diskursen vorbei

Ein negatives Beispiel ist die schnelle, billige CAD-Software, die die Qualität architektonischer Entwürfe verringert. An dieser Stelle finden sich die Pathologien wieder, die auch Hannah Arendt für den homo faber als wesentlich erachtetet hat. Da ist der betriebsblinde Julius Robert Oppenheimer, der beim Bau der Atombombe den Kontakt zur Menschlichkeit verlor. Oder Ludwig Wittgenstein, ein obsessiv kalkulierender Hobbyarchitekt, der von den eigenen schlechten Ergebnissen immer wieder enttäuscht war. Die Skulptur des guten Handwerkers wird zwischen Skylla und Charybdis des pathologischen homo fabers hindurchgeleitet. Auf der einen Seite, bei Oppenheimer und Eichmann, steht Pandora, das „banale“ Mädchen, das bedenkenlos das Übel über die Welt bringt. Auf der anderen Seite, bei Wittgenstein, steht der griechische Gott der Schmiedekunst Hephaistos, der sein Handwerk ebenso übertrieben vollendete, wie er selbst unglücklich, schändlich und hässlich war.

Doch was ist nun von dieser bunten, zu einer Skulptur verdichteten Collage zu halten? Sennett wird es dabei selbst wie einem Kunsthandwerker gehen, der sein Werk der Öffentlichkeit feilbietet. Zunächst einmal handelt es sich um ein undiszipliniertes Werk. Klagen werden zu hören sein, dass niemand diese Skulptur des guten Handwerkers bestellt habe. Denn im Wesentlichen läuft das Buch an akademischen Diskursen vorbei und stellt eine um Jahrzehnte verspätete Replik auf Hannah Arendt dar. Der Band ist kein Beitrag zur Arbeits- und Industriesoziologie oder irgendeiner anderen Fachdisziplin. Er kommt ohne wissenschaftlichen Apparat aus und ist dabei doch keine reine Populärwissenschaft, denn er wartet mit anspruchsvollen philosophischen Gedankengängen auf. Dabei wird Sennetts eigener Anspruch, eine Kritik an Hannah Arendt geschrieben zu haben, sicher Kritik ausgesetzt sein. Denn mit Arendts Trias von Arbeiten, Herstellen und Handeln setzt sich der Autor nicht ernsthaft und begriffsgenau auseinander.

Sennetts Handwerker ist zudem eine nur schwer zu interpretierende Skulptur. So klar sie sein Ideal versinnbildlicht, so schwierig wird es dem Betrachter fallen, in Diskurs darüber zu treten. Am ehesten lässt sich der Handwerker aus einem Mitteilungsbedürfnis heraus verstehen, das auf die früheren Arbeiten des Autors zurückgeht. Sein Antrieb war wohl, jenen normativen Maßstab, jenen positiven Idealzustand zu rekonstruieren, der für seine frühere Kritik der heute bestehenden Arbeitsgesellschaft nützlich gewesen wäre.

Den Pragmatismus am Leben erhalten

In dieser Hinsicht ist der Handwerker auch eine unvollendete Skulptur. Den Anspruch, ein praktisch-politischer Prototyp zu sein, heftet Sennett seinem homo faber etwas unvermittelt gegen Ende ans Revers. Nur wenn man Sennetts biografischen Hintergrund als politischer Berater mit bedenkt, wird verständlich, warum er auch den Bereich des politischen Handwerks erfassen will. Im Buch selbst wird dieser Hintergrund nur grob umrissen. Sennett will die amerikanische Philosophie des Pragmatismus am Leben halten. Diese versuchte, einfache Tätigkeiten ins Zentrum des Denkens zu stellen und mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen gesellschaftliche Reformen anzustoßen. Man könnte Sennetts politische Botschaft mit einer alten Weisheit aus der Entwicklungshilfe auf den Punkt bringen: „Gib einem Mann einen Fisch, und Du ernährst ihn für einen Tag. Lehre ihn das Fischen, und er hat sein ganzes Leben zu essen.“

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