Kein Ausweg aus "Goliaths Falle"?

zu Tamar Amar-Dahl, Israels Kriege, Berliner Republik 1/2009

Selbst wenn man mit Tamar Amar-Dahls Kritik am israelischen Militarismus einverstanden ist, bleibt ihr Text doch die Antwort auf eine wichtige Frage schuldig: Wie kam es dazu? Woher kommt der "spezifisch israelische Militarismus"? Geht es um einen historischen Zufall, um eine Idiosynkrasie, um einen angeborenen kollektiven jüdischen Charakterfehler " oder gibt es dafür eine historische, kausale Erklärung? Ein Historiker hat ja Ursachenforschung zu betreiben. Wichtiger noch: Nur wer sich mit dieser Frage befasst, kann auch einen konstruktiven Lösungsvorschlag machen.

Meine Antwort: Was Tamar Amar-Dahl eigentlich beschreibt, ist die israelische Verehrung des Militärs, ja der Anwendung von Gewalt, und diese wiederum beruht auf der kollektiven, jüdisch-israelischen Wahrnehmung der Geschichte. Doch diesen Ansatz ignoriert die Autorin, weil sie von einer falschen Prämisse ausgeht, nämlich dass "die Urfrage die Palästinenserfrage" sei. Nein, die "Urfrage" ist die so genannte Judenfrage, und die Quellen des auf diese Weise kritisierten Zustandes " ob man ihn als "spezifisch israelischen Militarismus" bezeichnen darf, sei dahingestellt " liegen tiefer als im Jahr 1948, und weit entfernt vom Nahen Osten.

Warum sich Juden als Nation begriffen

Bereits die wichtigsten Begriffe fehlen bei Tamar Amar-Dahl: Europa, Nationalismus, Antisemitismus, Shoah. Die vormoderne Judenfrage war das Ergebnis des Wettbewerbs zwischen den monotheistischen Religionen und der Tatsache, dass Juden in christlichen oder muslimischen Staaten eine nicht gleichberechtigte Minderheit waren. Die moderne Judenfrage ist eine europäische Erfindung, ein Produkt von Säkularisierung, Modernisierung und Nationalisierung. Diese Prozesse hätten die alte Judenfrage eigentlich auflösen können. Aber ohne Säkularisierung, Nationalismus und dem damit verbundenen Antisemitismus wären Juden gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht auf die Idee gekommen, sich als Nation zu verstehen und wären später nicht nach Palästina ausgewandert, um einen Judenstaat zu gründen. Dass die Shoah diese nationaljüdische Antwort auf die Judenfrage zu bestätigen schien, kann nicht verwundern. Die jüdische Ohnmacht in Europa führte zu dem Bestreben, nicht mehr Opfer sein zu wollen.

Militarismus wie im deutschen Kaiserreich

Wenn also der deutsche, der europäische Leser über den israelischen Militarismus den Kopf schüttelt ("Schaut euch diese gewaltbereiten Juden an!"), darf er die europäische Rolle beziehungsweise Verantwortung an der Entstehung dieses Charakterzuges nicht ignorieren. Mehr noch: Auch die Palästinenserfrage war ein Resultat der europäischen Denkart des 19. Jahrhunderts. Denn anfangs hat sich die nationaljüdische Bewegung auf die Judenfrage konzentriert und die arabische Bevölkerung im Zielort Palästina auf typisch europäische Art und Weise ignoriert. Als man aber später die Araber und die Palästinenserfrage "entdeckte" und der Konflikt in Palästina begann, konnte sich die vermeintliche Lehre aus der Geschichte durchsetzen: Konflikte werden mit Gewalt gelöst (so in Europa 1918 und 1945). Also müssen die Juden, von einer feindseligen Umwelt umgeben, Gewalt anwenden.

Ein Militarismus entstand, der sich mit dem Militarismus des deutschen Kaiserreichs vergleichen lässt. Eine Gesellschaft, die (ob nun zu Recht oder Unrecht) davon ausgeht, dass ihr Staat von Feinden umkreist ist, neigt zum Militarismus. Doch im israelischen Fall bedeutet der Militarismus nicht, wie Tamar Amar-Dahl behauptet, dass "das Militär das Sagen hat", sondern dass die Gesellschaft das Militär als ultimativen Ausdruck der eigenen Stärke begreift, ihm die Rolle des Erlösers zuschreibt und es unter Druck setzt, diese Rolle zu spielen.

Das Militär wurde zynisch instrumentalisiert

Dementsprechend sind die zwei jüngsten Kriege Israels, der Libanonkrieg von 2006 und der Gazakrieg von 2009, eher auf den Druck der Zivilgesellschaft zurückzuführen (anders als der Sechs-Tage-Krieg von 1967), während das Militär (wenn man diesen pauschalisierenden Begriff überhaupt verwenden darf) die Grenzen seiner Macht erkannte. Die Parole "Lasst Zahal (das Militär) siegen" war von der Zivilgesellschaft geprägt und von Politikern zynisch instrumentalisiert worden. Auch das erklärt sich vor dem oben beschriebenen historischen Hintergrund.

Die israelische Rechte konnte diese Einstellung instrumentalisieren und einen Wahlerfolg erzielen: Nach ihrer Lesart hatte der Gaza-Krieg das Ziel verfehlt " und zwar nicht, weil Gewalt keine Lösung ist, sondern weil die Regierung Gewalt nicht konsequent genug anwenden wollte. Diesen israelischen Automatismus kennen die nicht zum Kompromiss Bereiten unter den Palästinensern. Deswegen terrorisieren sie die jüdisch-israelische Gesellschaft und provozieren so die gewalttätigen Reaktionen und die Sympathien für die Rechtsradikalen " mit dem Ergebnis, dass der Konflikt weiter geschürt und der Teufelskreis fortgesetzt wird.

Diese Taktik ist nicht nur deshalb erfolgreich, weil sie den Zielen der arabischen Fanatiker (Hamas, Hizbollah, Iran) dient, sondern auch, weil sie die Weltöffentlichkeit zu der Schlussfolgerung verleitet, Israel sei eine aussichtslose Utopie, die das Existenzrecht verloren habe. An dieser Stelle muss ich auf eine weitere Fehleinschätzung von Tamar Amar-Dahl hinweisen: Die arabische Präsenz steht nicht unbedingt "der zionistischen Utopie im Wege". Auch die zionistische Utopie kann prinzipiell in eine tolerante, zivile, liberale Praxis umgesetzt werden. Das hat die zionistische Gruppe "Friedensbund" bereits in den zwanziger Jahren gezeigt. Dass dieses Experiment misslang, erklärt die sonderbare Mischung aus europäischer Geschichte, kollektiver jüdisch-israelischer Erinnerung, zynischer Instrumentalisierung durch die israelische Rechte und des Erstarkens der radikalen Kräfte unter den Arabern beziehungsweise Muslimen.

Wie Europa wirklich helfen könnte

Schaut man wie Tamar Amar-Dahl auf die Geschichte des Konflikts deterministisch zurück, scheint es keinen Ausweg aus "Goliaths Falle" zu geben. Doch benutzen wir eine weitere Stelle im Text von Amar-Dahl, um ihren Determinismus zu widerlegen: Sie spricht von einer Militärregierung, die es in Israel vor dem Sechs-Tage-Krieg gegeben haben soll. Falsch. Es gab zwar eine Militärverwaltung für die arabische Minderheit in Israel (die damals für eine fünfte Kolonne gehalten wurde), aber diese wurde ein Jahr vor dem Krieg abgeschafft. Die israelische Politik hatte etwa 15 Jahre nach der Staatsgründung einen Schritt zur Entschärfung des innerisraelischen Konflikts unternommen.

Dies ist ein Beweis dafür, dass man aus der Geschichte vor 1945 eine alternative Lehre ziehen kann " wenn Politiker bereit sind, eine mutige Alternative wagen. Und es ist ein Grund für Europäer, an einer solchen Alternative mitzuwirken, anstatt mittels der Delegitimierung der Existenz des Staates Israel das eigene schlechte Gewissen reinzuwaschen.

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