Kein "verlorenes Jahrzehnt"!

Als die "Berliner Republik" gegründet wurde, war Deutschland noch das (um die DDR erweiterte) Bonner Gemeinwesen. Seither mussten die Deutschen mehr über sich lernen, als ihnen oft lieb war


Die vermeintlichen Leitmedien der westlichen Welt sind sich einig: Die vergangenen zehn Jahre, das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, gehen als „decade from hell“, so das amerikanische Time Magazine  im November 2009, in die Geschichte ein – oder sollten, besser noch, aus ihr verschwinden. War es doch, so eiferte der deutsche Spiegel prompt nach, ein „verlorenes Jahrzehnt“ und eine „Dekade der Unvernunft“. Zwischen dem 11. September 2001 und der großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009: nur Terror und Kriege, riskantes Spiel und tiefe Abstürze auf allen Bühnen des Weltgeschehens?


Blickt man auf zehn Jahre der Zeitschrift Berliner Republik, auf die Titelthemen und die durchgängigen Leitmotive der Debatten, entsteht ein ganz anderes Bild der zu Ende gehenden Dekade, die für das wiedervereinigte Deutschland – nach dem Regierungsumzug – das erste Jahrzehnt der Berliner Republik geworden ist. Wohltuend, nein: Erhellend und aufklärerisch im besten Sinne ist schon der andere Stil. Jeremiaden, aggressive Schreckensszenarien, weinerlichen Pessimismus wird man dort nämlich nicht finden. Stattdessen klare Themen und drängende Fragen einer neuen Gesellschaftspolitik: „Das Kinder-Programm“ oder: „Welche Gerechtigkeit?“, um nur beliebig zwei Titel aus dem Jahre 2003 zu nennen, die über das ganze Jahrzehnt hinweg Debatten geprägt haben.

Eine Zeit der Suche nach neuen Antworten

Man könnte lange darüber nachdenken, ob mehr dahinter steht als die Eigendynamik bestimmter medialer Mechanismen oder die vermutete Lust des Publikums an Apokalypse oder an Selbstmitleid, wenn die „Nuller-Jahre“ in ein Narrativ der Höllenfahrt, bestenfalls noch des dümmlichen Nichtstuns, verpackt werden. Man könnte vermuten, dass andere Deutungen dieses Jahrzehnts damit nicht nur unbewusst an den Rand des Diskurses und des öffentlichen Bewusstseins gedrängt werden sollen. Es mag sein, dass das, was die letzten zehn Jahre gerade für Deutschland, für die Berliner Republik vor allem anderen waren, im Moment nicht sonderlich gern gehört wird – in der Öffentlichkeit ebenso wie bei Parteien unterschiedlichster Couleur. An zehn Jahrgängen der Berliner Republik lässt sich jedoch leicht nachvollziehen: Es war eine Zeit des Lernens und Umdenkens, eine Zeit des Paradigmenwechsels in der Gesellschaftspolitik, das Wort im weitesten Sinne verstanden. Es war eine Zeit, in der schwierige Realitäten nicht länger verdrängt und geleugnet wurden, in der neue Antworten gesucht, ehrlicherweise aber nicht immer gefunden oder politisch verwirklicht werden konnten.


Was war, wo war die Bundesrepublik Mitte, Ende der neunziger Jahre? Es war ein um die gescheiterte DDR erweitertes Bonner Gemeinwesen, das noch fast vollständig in der Selbstsicherheit und dem Fortschrittsbewusstsein der Nachkriegsjahrzehnte ruhte. Die Rente ist sicher. Einwanderungsland? Ach, woher denn! Der Strom kommt aus der Steckdose. Der Sozialstaat läuft prima; packen wir die Pflegeversicherung noch drauf. Wenn die neuen Länder ihre Startschwierigkeiten überwunden haben, ist alles wieder im Lot. Bildung? Kein Thema. Millionenfache Arbeitslosigkeit seit den späten siebziger Jahren? Der nächste Aufschwung kommt bestimmt!

Abschied von den Illusionen

Ohne die Anstrengungen und Erfolge im Zuge der deutschen, auch der europäischen Einigung kleinreden zu wollen: Jedenfalls für Deutschland verdienen die neunziger Jahre viel eher das Etikett des „verlorenen“ Jahrzehnts als die Dekade darauf. In der Spätphase der Regierung Kohl hatte es scharfsichtige innerparteiliche Mahner gegeben. Aber auch die rot-grüne Regierung startete 1998 noch nicht unter der Prämisse des Abschieds von Illusionen. Erst in den folgenden Jahren setzte sich in Politik und Gesellschaft – sicher nicht unwesentlich befördert durch Berlin als den neuen Schauplatz – eine realistische Denkweise durch, die zu Reformen und neuen Aufbrüchen mahnte und neue Konzepte dafür erdachte.


Die Liste ist lang, den Lesern der Berliner Republik aber wohlvertraut: Der demografische Wandel und seine Folgen für soziale Sicherung, Arbeitsmarkt, Familien, Bildung. Die Anerkennung von Migration als soziale Realität und politische Herausforderung; auch: als eine kulturelle Herausforderung im Umgang mit Muslimen in der Mitte unserer Gesellschaft. Die aufbrechenden neuen sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich: die Existenz einer neuen Unterschicht; die Frage nach den Mittelklassen und den Eliten. Das schwierige Eingeständnis, dass die Massenarbeitslosigkeit weder beim nächsten Aufschwung verschwinden werde noch – genauso bequem! – Vorbote einer Gesellschaft ohne Erwerbsarbeit sei. Die generationelle Nachhaltigkeit der Politik, vor allem in den öffentlichen Haushalten. Vernachlässigte Kinder, vergessene Bildungschancen. Das Spannungsfeld von Freiheit und Gerechtigkeit. Und über allem: die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates im 21. Jahrhundert.

Und die nächsten zehn Jahre? So weitermachen!

Die meisten dieser Themen haben einen gemeinsamen Nenner – und mit ihm lässt sich das zurückliegende Jahrzehnt vielleicht besser beschreiben als mit grellen Suggestionen des Verfalls. Es ging darum, eine neue Gesellschaftspolitik zunächst zu entdecken, dann zu vermessen, in ihren Konsequenzen auszuloten. Diese Gesellschaftspolitik war zunächst ein Weg der Selbsterkenntnis: Die Deutschen haben in den vergangenen zehn Jahren mehr über sich in Zusammenhalt und Spaltung gelernt, als ihnen oft lieb war. Sie beschrieb sodann neue Handlungsoptionen, in durchaus ambivalenter Weise: einerseits als das Ende der vertrauten Allzuständigkeit des Staates (nicht nur für die Ostdeutschen), andererseits als neue Bereitschaft zur politischen Intervention, wo zuvor Laisser-faire und Gleichgültigkeit regiert hatten. Oder: Einerseits im Bemühen um einen neuen Begriff von Freiheit, in dem Bürgerinnen und Bürger, einer reifen Demokratie und Zivilgesellschaft gemäß, selbstverantwortlich handeln können; andererseits in der Erkenntnis, dass zu viele Schwächere von dieser Freiheit noch nicht Gebrauch machen können und zuvor der staatlichen Stützung und Förderung bedürfen.


Die Berliner Republik hat diese Erkenntnisprozesse nicht nur begleitet – sie hat sie wesentlich vorangetrieben, hat die Agenda neu definiert und Vorschläge diskutiert: kontrovers, immer aber jenseits einer billigen Heilsgewissheit älterer Tage. Sie hat die letzte Dekade insofern viel besser auf den Begriff gebracht als viele ihrer großen Magazin-Schwestern.


Und der Ausblick, die nächsten zehn Jahre? So weitermachen! «

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