Kataloniens Krise überwinden

Wo eine Hälfte der Bevölkerung der anderen Hälfte ein exklusives nationalistisches Projekt aufzwingen will, ist Unabhängigkeit ein Rezept für Gewalt und Bürgerkrieg. Nur Neuwahlen und eine große Verfassungsreform können jetzt weiterhelfen

Das „Referendum“ über die Unabhängigkeit Kataloniens, das am 1. Oktober stattfand, hat für seine Betreiber keinen guten Ausgang genommen. Die Abstimmung war vom spanischen Verfassungsgericht für illegal erklärt worden, und die nationale Regierung tat alles in ihrer Macht Stehende, um sie zu verhindern. Schließlich beteiligten sich etwa 43 Prozent der stimmberechtigten Bürger, und die Abstimmung verfehlte alle internationalen Mindeststandards zu deutlich, als dass sie von irgendjemandem ernstgenommen werden könnte.

Diese Nation wird nicht unterdrückt

Für externe Beobachter handelt es sich auf den ersten Blick um einen Kampf zwischen zwei Regierungen, der spanischen und der katalanischen, die beide demokratisch gewählt sind. Die katalanischen Nationalisten versahen ihre Forderungen mit einer vermeintlich perfekten demokratischen Verkleidung: Wie können Demokraten einem Volk dessen in freier Abstimmung zum Ausdruck gebrachten Willen verweigern? Doch Anfang September hatte das regionale Parlament das Referendumsgesetz nur knapp verabschiedet, das zudem noch nicht einmal gemäß den Regeln und Verfahren dieses Parlaments zustande gekommen war. Das Gesetz behauptet, das katalanische Volk besitze das „unverzichtbare und unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung“, wie es die Vereinten Nationen reklamieren. Aber wie die Independentistas sehr gut wissen sollten, gilt das Recht auf Selbstbestimmung nur für Völker, die der Kolonialherrschaft oder Besatzung unterworfen sind sowie in undemokratischen Staaten. Nichts davon trifft auf Katalonien zu.

Sogar die Venedig-Kommission des Europarates hat kürzlich darauf hingewiesen, dass jedes Referendum über die Unabhängigkeit der spanischen Verfassung entsprechen muss und nur im Einvernehmen mit der spanischen Regierung erfolgen kann. Beides ist nicht der Fall. Die exzessive Gewaltanwendung der Polizei gegen Zivilisten in verschiedenen Wahllokalen war völlig unangemessen und hätte vermieden werden müssen, aber sie entkräftet nicht diese Argumente.

Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Katalanen weder unterdrückt noch an freien Wahlen gehindert werden. Der derzeitigen spanischen Verfassung, die jetzt von den Befürwortern der Unabhängigkeit so angeprangert wird, stimmten 1978 mehr als 91 Prozent der Katalanen zu – eine weitaus höhere Quote als in jeder anderen spanischen Region. Seit der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1977 haben sich die Katalanen immer wieder an freien Wahlen beteiligt und ihre Wünsche in vielerlei Weise zum Ausdruck gebracht. Bei mehr als 35 Wahlen haben sie – mit hoher Beteiligung – darüber entschieden, wer sie auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene vertreten soll.

Ein exklusives nationalistisches Projekt

Katalonien ist eine hochentwickelte und vielfältige Gesellschaft, die selbst im weltweiten Vergleich zu den Regionen mit dem höchsten Maß an Selbstverwaltung gehört. Es besitzt volle Kompetenzen auf den meisten Schlüsselgebieten, ob Bildung oder Gesundheit, soziale Dienste oder Polizei. Über die allermeisten Aspekte des katalanischen Alltagslebens wird ohne Einmischung aus Madrid auf der regionalen Regierungsebene entschieden.

Häufig wurde in den vergangenen Monaten das Argument vorgebracht, die Zulassung eines Referendums sei für Katalonien der einzige Weg, Spanien auf demokratische und rechtmäßige Weise zu verlassen. Doch wer so argumentiert, schert sich nicht um die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Im gegenwärtigen Kontext von sozialer Unzufriedenheit, politischem Populismus und intensiver Propaganda könnte ein Unabhängigkeitsreferendum die katalanische Gesellschaft in zwei Teile zerreißen. Es würde ihren sozialen Zusammenhalt untergraben, das Land international isolieren, Katalonien aus der EU und aus dem Euro katapultieren und die unzähligen Verbindungen – familiär, wirtschaftlich, historisch – zerstören, die Katalonien seit über fünf Jahrhunderten mit dem Rest des Landes hat. Dies bedeutet, dass einer Hälfte der Bürger Kataloniens ein exklusives nationalistisches Projekt aufgezwungen würde. Im Namen solcher Ideen hat Europa im vergangenen Jahrhundert schon zu viele Kriege erlebt.

Obwohl die Anwendung von Gewalt verurteilt werden muss, war es daher richtig, ein illegales Referendum zu verhindern. Tatsächlich hat die Regierung eines demokratischen Rechtsstaates gar keine andere Wahl, als diesen Weg einzuschlagen. Aber die Durchsetzung von Gesetz und Ordnung allein wird das tiefgreifende Problem natürlich nicht lösen, das die katalanische Gesellschaft spaltet. Nur eine politische Einigung wird die mit Händen zu greifende Unzufriedenheit beenden, die heute etwa die Hälfte der katalanischen Bevölkerung empfindet.

Die beste Option wäre eine Verfassungsreform mit dem Ziel, das Land in einen wirklichen Bundesstaat zu verwandeln. Dieser müsste die Selbstverwaltung Kataloniens ausbauen, seine finanzielle Autonomie verbessern sowie die katalanische Identität, Kultur und Sprache intensiver anerkennen. Spanien ist heute dezentraler als die meisten Bundesstaaten, aber es fehlt an einer föderal-institutionellen Architektur. Dabei geht es etwa um eine echte Zweite Kammer, um die klare Abgrenzung von Kompetenzen sowie um Organe der Zusammenarbeit zwischen den Regionen. Ein Bundesstaat wäre daher nicht nur geeignet, den katalanischen Forderungen Rechnung zu tragen, sondern er würde auch das Funktionieren Spaniens insgesamt verbessern. Einer Verfassungsreform müsste eine Mehrheit aller Spanier – einschließlich der Katalanen – zustimmen.

Rajoy ist unfähig und ungeeignet

Letztlich gründen alle Bundesstaaten auf einem impliziten „Loyalitätsvertrag“, den die Teile (also die Regionen) mit dem Ganzen (also dem Staat) schließen. Im Fall Kataloniens fehlt es eindeutig an dieser Loyalität. Was Spanien deshalb braucht, ist eine große politische Übereinkunft mit den katalanischen Nationalisten: mehr Autonomie und Anerkennung für Katalonien – und im Gegenzug Loyalität zur Verfassung sowie der Verzicht auf Unabhängigkeitsforderungen. Eine solche Übereinkunft stellt den einzigen Weg nach vorn dar, mit dem sich totale Konfrontation und völliger Bruch verhindern lassen.

Leider werden die Anführer der Unabhängigkeitsbewegung kaum bereit sein, über etwas anderes zu verhandeln als die Bedingungen ihrer Abspaltung. Umgekehrt zeigte sich zur Zeit der Fertigstellung dieses Textes die nationale Regierung entschlossen, die Selbstverwaltung Kataloniens auszusetzen – trotz (oder gerade wegen) der absichtlich zweideutigen Äußerungen des katalanischen Präsidenten zu seiner einseitigen Unabhängigkeitserklärung. Dieser beispiellose Eingriff in die katalanischen Institutionen dürfte angesichts des extrem polarisierten Klimas zur Eskalation der Spannungen sowie zur weiteren Verschlimmerung des Konflikts führen. Bis jetzt sind die Ereignisse in Katalonien fast völlig gewaltlos verlaufen, doch dies könnte sich schnell ändern.

Hinzu kommt, dass der derzeitige Premierminister Mariano Rajoy völlig unfähig und ungeeignet ist, einen Pfad der Verhandlungen einzuschlagen. Er und die meisten hochrangigen Figuren der konservativen Partido Popular (PP) sind auch verantwortlich für den Aufstieg der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung im letzten Jahrzehnt. Mit ihren Zentralisierungstendenzen sowie dem Fehlen jeglicher Sensibilität gegenüber katalanischen Eigenheiten haben sie genau diese Tendenzen gestärkt. Es war die PP, die das reformierte katalanische Autonomiestatut als verfassungswidrig bezeichnete, obwohl dieses von den nationalen und regionalen Parlamenten sowie vom katalanischen Volk verabschiedet worden war. Dies war ein entscheidender Moment im Kampf für die Unabhängigkeit. Das darauffolgende Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 erklärte Teile des Statuts für ungültig. Für Millionen von Bürgern bedeutete dies einen schweren Schlag. Immer mehr Menschen sahen die Unabhängigkeit nun als einzige Möglichkeit zur Stärkung der katalanischen Selbstverwaltung an. Seither schließt schon das Misstrauen, das eine große Mehrheit Kataloniens Rajoy entgegenbringt, jeden Kompromiss aus.

Für ein reformiertes Spanien

Daher besteht jetzt die beste Hoffnung in Neuwahlen: Spanien und Katalonien brauchen neue Regierungen, die von neuen Personen angeführt werden sollten. Diese müssen den Weitblick, die Intelligenz und Großzügigkeit besitzen, das Land mit einer umfassenden politischen Einigung aus dem Chaos herauszuführen.

Kurzum, viele spanische Demokraten sind davon überzeugt, dass in Katalonien letztlich eine echte Abstimmung stattfinden sollte – aber keine, die noch mehr Konfrontation und politische Instabilität heraufbeschwört. Vielmehr sollten sich die Katalanen zusammen mit allen anderen Spaniern für eine bundesstaatliche Verfassung entscheiden. Nur so kann ein reformiertes Spanien als vereinigtes, demokratisches und wohlhabendes Land langfristig erhalten bleiben.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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