Kapriolen der direkten Demokratie

Die jüngsten Entwicklungen auf der Länderebene bekräftigen bestehende Zweifel an der Praxis der Volksgesetzgebung. Sie stellt ein Versprechen dar, das letztlich nicht erfüllbar ist

Von den sieben Parteien, die im kommenden Bundestag vermutlich vertreten sein werden, haben sich bis auf eine – die CDU – alle dafür ausgesprochen, Volksabstimmungen auch auf der Bundesebene einzuführen. Das gilt zumindest auf dem Papier, denn mit besonderem Nachdruck wurde die Forderung bisher nirgends verfolgt. Das Thema rangierte auf der Agenda stets weit unten und spielte in den vergangenen Bundestagswahlkämpfen keine größere Rolle. Ob sich das durch die AfD ändern wird, bleibt abzuwarten. Die Rechtspopulisten stehen inzwischen an der Spitze der Plebiszitbefürworter, die zuvor von SPD, Grünen und Linkspartei gebildet wurde. Dass dies die letzteren in gewisse Argumentationsnöte bringt, liegt auf der Hand. Indem sich die AfD für die Einführung direktdemokratischer Elemente „nach Schweizer Vorbild“ ausspricht, tritt sie nämlich für dasselbe Modell direkter Demokratie ein, das auch den linken Parteien vorschwebt und das die direktdemokratische Verfassungsgebung in Deutschland bislang ausnahmslos bestimmt hat: die so genannte Volksgesetzgebung. Nur tut die AfD das in radikalerer (und insofern konsequenterer) Form.

Das TXL-Volksbegehren dürfte erfolgreich sein

Zweifel an der direkten Demokratie werden zugleich durch die Erfahrungen gesät, die man mit der Volksgesetzgebung dort macht, wo sie bereits existiert: in den Ländern und Kommunen (dort in Form von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid). Nimmt man die jüngsten Fälle und Entwicklungen in Berlin, Thüringen und Hamburg, sind auch hier ironischerweise die regierenden linken Parteien die Hauptleidtragenden. So muss sich der rot-rot-grüne Senat in Berlin darauf einstellen, dass das Volksbegehren für den Weiterbetrieb des Flughafens Tegel, der mit der Eröffnung des neuen Flughafens Berlin-Brandenburg eigentlich geschlossen werden soll, beim Volksentscheid im September erfolgreich sein wird. In Thüringen nutzt die oppositionelle CDU die vorhandenen Verfahren der Volksgesetzgebung, um die von Linkspartei, SPD und Grünen geplante Gebietsreform zu verhindern. Zudem will sie mit dem fakultativen Referendum sogar ein noch weitergehendes plebiszitäres Instrument in die Verfassung einführen, das den Bürgern künftig gestatten würde, vom Parlament beschlossene Gesetze auf direktem Wege zu Fall zu bringen. Und in Hamburg, wo die Regierenden (auch die CDU) in der Vergangenheit bei Volksabstimmungen wiederholt den Kürzeren zogen, dürfte der rot-grüne Senat heilfroh gewesen sein, dass das Verfassungsgericht weiteren Verfahrenserleichterungen einen Riegel vorgeschoben hat, als es im Oktober 2016 ein Volksbegehren für „Mehr Demokratie“ als verfassungswidrig zurückwies.

Wieso sollte es auf Bundesebene besser klappen?

Doch wie sollen SPD, Grüne und Linkspartei vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen glaubhaft für die Einführung derselben Verfahren auf Bundesebene eintreten? Die Frage beantwortet sich von selbst. Würden sich die politischen Akteure beim Thema direkte Demokratie ehrlich machen, müssten sie zugeben, dass die Volksgesetzgebung ein letztlich nicht erfüllbares Versprechen darstellt. Auf der Länderebene, wo die Verfahren bereits bestehen, sind sie ein permanenter Streitgegenstand. Rechtlich wird darüber gestritten, ob die Volksbegehren zulässig und – wenn es zum Volksentscheid kommt – ihre Ergebnisse bindend sind. Die Entscheidung darüber bleibt am Ende den Verfassungsgerichten vorbehalten, die ihre ohnehin beträchtliche Funktion als „Mitgesetzgeber“ im deutschen Regierungssystem dadurch weiter ausdehnen. Politisch geht es darum, welchen Spielraum man den plebiszitären Verfahren geben möchte, ob deren Einsatz durch die konkrete rechtliche Ausgestaltung erleichtert oder erschwert werden soll. Dabei können auch scheinbar nebensächliche Fragen wie die, ob ein Volksentscheid zeitgleich mit einer regulären Wahl stattfindet, große Bedeutung erlangen.

Das Hauptproblem der Volksgesetzgebung ist ihre oppositionelle Funktionslogik, die sich mit der parlamentarischen Regierungsweise nicht in Einklang bringen lässt. Das parlamentarische System basiert darauf, dass die durch Wahlen legitimierte regierende Mehrheit die Gestaltungshoheit über die Gesetze hat. Die Opposition kann die Regierung in Zugzwang bringen, sie öffentlich unter Druck setzen, ihr den „eigenen Gestaltungswillen aufzwingen“, wie es Kurt Schumacher einmal ausgedrückt hat – als Minderheit ist sie am Regieren aber nicht beteiligt, zumindest nicht direkt. Vielmehr bleibt sie ganz auf ihre Alternativfunktion zurückgeworfen, die sie mit dem Ziel wahrnimmt, die Regierung nach der kommenden Wahl abzulösen.

Die Volksgesetzgebung hebt diese Rollenteilung auf. Denn mit ihrer Hilfe kann die Opposition tatsächlich mitregieren – indem sie Vorhaben der Regierung zu Fall bringt oder eigene Vorhaben gegen deren Willen durchsetzt. Eine Auswertung sämtlicher in den Ländern eingebrachten Volksbegehren zeigt, dass mehr als die Hälfte davon „Dagegen“-Initiativen waren beziehungsweise sind. Allein aus den vergangenen Jahren gibt es dafür markante Beispiele: So wurde zum Beispiel in Hamburg die vom schwarz-grünen Senat geplante Einführung einer sechsjährigen Primarschule 2010 per Volksentscheid gekippt. In Bayern setzten die Bürger im selben Jahr gegen das bestehende, als zu halbherzig empfundene Gesetz der CSU einen strengeren Nichtraucherschutz durch. Und in Berlin lehnten die Bürger 2014 die von der Großen Koalition beschlossene teilweise Bebauung des Tempelhofer Felds ab.

Unredlichkeit und politische Falschspielerei

Volksbegehren gehen zwar nicht nur von den (oppositionellen) Parteien aus oder werden von ihnen getragen. Sie stellen für diese aber ein verführerisches Instrument in der Auseinandersetzung mit der Regierung dar, mit der sie ihre eigene Position im Wettbewerb verbessern können. Wie schnell dabei die Grenze zur Unredlichkeit und zur politischen Falschspielerei überschritten ist, beweist der aktuelle Fall des Volksbegehrens zum Flughafen Tegel. Nachdem die FDP bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 mit dem Thema kräftig punkten konnte, war es für sie naheliegend, ein Volksbegehren für den Weiterbetrieb des Flughafens anzustrengen. Dieses erreichte mühelos die notwendige Unterstützung von sieben Prozent der Stimmberechtigten bis zum Ablauf der Frist am 20. März. Auch die CDU, die die Schließungspläne während ihrer Regierungszeit mitgetragen hatte, vollzog in der Opposition eine Kehrtwende und ließ ihre Mitglieder über ihre Position in der Frage entscheiden. Das Ergebnis: 83 Prozent der teilnehmenden Mitglieder stimmten für den Weiterbetrieb des alten Flughafens. Laut Umfragen sprechen sich rund drei Viertel der Berliner dafür aus, Tegel offen zu halten – ein Erfolg im Volksentscheid wäre den Unterstützern also zum jetzigen Zeitpunkt gewiss.

Auch bei einem Erfolg ist aber keineswegs sicher, dass das Vorhaben tatsächlich in die Tat umgesetzt wird und Tegel in Betrieb bleibt. Da der Planfeststellungsbeschluss des neuen Flughafens in Schönefeld an die Schließung von Tegel geknüpft ist und die wirtschaftlichen Folgen eines Weiterbetriebs auch das Land Brandenburg betreffen würden, wären langjährige gerichtliche Verfahren mit ungewissem Ausgang programmiert. Kann Berlin aus dem mit Brandenburg geschlossenen Vertrag (Landesentwicklungsplan Flughafen) einfach aussteigen? Dass das Problem den Initiatoren durchaus bewusst ist, beweist die Formulierung des Volksbegehrens, die nicht als Gesetzestext angelegt ist, sondern als mehr oder weniger verbindlich zu betrachtende Aufforderung. Der Senat soll danach alle Maßnahmen einleiten, „die erforderlich sind, um den unbefristeten Fortbetrieb des Flughafens Tegel als Verkehrsflughafen zu sichern“. Ob diese Maßnahmen die dem Weiterbetrieb entgegenstehenden rechtlichen Hindernisse ausräumen würden, bleibt eine offene Frage. So oder so hätten die Regierungsparteien bei einem verlorenen Volksentscheid ein Problem. Müsste Tegel dennoch geschlossen werden, würde man ihnen vorwerfen, den Volkswillen zu missachten. Wäre hingegen der Weiterbetrieb rechtlich machbar, müssten sie eine Forderung umsetzen, hinter der sie politisch nicht stehen.

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Widrigkeiten, die die oppositionell einsetzbaren Volksrechte in einem parlamentarischen Regierungssystem verursachen. Wenn diese bereits in den Ländern kaum beherrschbar sind und Dauerstreitigkeiten um die rechtliche Zulässigkeit und politische Ausgestaltung der Verfahren auslösen, sollte man noch einmal darüber nachdenken, ob die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene wirklich eine gute Idee ist. Weil die direkte Demokratie „von unten“ heute in allen Bundesländern und Kommunen existiert, ist sie als „Modell“ auch für den Bund automatisch gesetzt. Um dieses Junktim zu durchbrechen, müsste eine programmatische Neuausrichtung in der Frage der Plebiszite den Unterschied zwischen beiden Ebenen stärker hervorheben. Am besten geeignet scheint dafür der Verweis auf die größere Komplexität der Entscheidungsmaterien auf Bundesebene.

Was sinnvoll ist – und was nicht

In den Ländern und Kommunen kann es nicht darum gehen, die Volksrechte abzuschaffen oder stillzulegen; hier müssen die Verfassungsgeber bei deren Ausgestaltung und Umsetzung mit den beschriebenen Problemen klarkommen. Dabei kann es in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedliche Lösungen geben. Auf der Bundesebene würde die Volksgesetzgebung dagegen wegen ihres föderalismusbedingt größeren potenziellen Anwendungsbereichs wesentlich gravierendere Konflikte im Verhältnis zum parlamentarischen Gesetzgeber heraufbeschwören als in den Ländern. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die Beteiligung des Bundesrates an einem Volksgesetzgebungsverfahren tatsächlich durch die „Ländermehr“-Lösung, die SPD, Grüne und Linkspartei in ihren bisherigen Entwürfen vorschlagen, ersetzt werden kann.

Auch bei einem Verzicht auf die von unten ausgelösten Verfahren gäbe es eine Reihe von Instrumenten, die sich für eine plebiszitäre Ergänzung des Grundgesetzes eignen würden. Die Absage an die Volksgesetzgebung ist insofern nicht gleichbedeutend mit einer Absage an die direkte Demokratie. Vergleichsweise problemlos integrierbar wäre erstens ein obligatorisches Verfassungsreferendum, das allerdings auf die Kernbestandteile der Verfassung begrenzt sein müsste. Zweitens böte sich ein von einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages mit Zustimmung des Bundesrates auslösbares Entscheidungsreferendum an. Auf der Länderebene könnte ein solches Instrument die bestehenden Verfahren ebenfalls sinnvoll ergänzen. Gerade bei Infrastrukturvorhaben wären sie, weil sie bereits am Beginn des Vorhabens stehen, besser geeignet als die immer nur nachträglich einsetzbaren Volksbegehren. Und drittens sollten die Bürger die Möglichkeit erhalten, den Bundestag mittels einer unverbindlichen Volksinitiative zur Beratung eines Vorschlags aufzufordern.

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