Jusos vor der Tür

Erfahrungen eines jungen ostdeutschen Sozialdemokraten

Der 1. Mai 1984 war ein schöner Tag. Es war der Arbeiterkampftag. Ich war gerade acht Jahre alt und wohnte in Obernissa, Thüringen. Am Feiertag bestand die einzige Beschäftigung darin, zum Fußballturnier zu gehen, Bratwürste für eine Mark zu essen und den Bauch mit roter Limo abzufüllen. Außerdem waren die Älteren auf dem Sportplatz, und so konnte ich mich mit meiner heimlichen Jugendliebe bei uns zu Hause treffen. In meinen Erinnerungen schien am 1. Mai immer die Sonne.

Irgendwann wurde das anders. Meine Eltern ließen sich scheiden, ich zog mit meiner Mutter nach Erfurt und wurde Städter. Das Leben spielte sich nicht mehr im Mikrokosmos Dorf ab. Wir zogen in einen Plattenbau mit Zentralheizung, und ich kam in eine neue Schule. Augusto Czsar Sandino - diesen Namen hatte ich noch nie gehört, und auch Nicaragua kannte ich nicht.

Das sollte sich ändern. Die Schüler trugen fast immer Halstuch, vor jeder Stunde gab es einen Klassenappell und am Mittwoch Pioniernachmittag. Ich wurde ein richtiges Kind der DDR. Morgens Schule, am Nachmittag Radsport und abends die Hausaufgaben. Atheist, Sozialist und Antifaschist. Aus kleinen Verhältnissen kommend, war ich das förderwürdige Kind der DDR. Ich erfüllte die Erwartungen, wurde Vize-Bezirksmeister im Radsport und erhielt in der fünften Klasse die Auszeichnung für gutes Lernen. Der Grundstein war gelegt, die Karriere im Visier. Zweifel, ob da irgend etwas nicht in Ordnung sei, kamen mir nicht. Ich fühlte mich wohl und geborgen im sozialistischen Einheitstrott.

Der 1. Mai 1989. Statt der Sonne kam Erich Honecker. Unsere Klasse musste gemeinsam mit all den anderen Schulen, Betriebskampfgruppen und Kollektiven an der Tribüne der Honoratioren vorbei und glücklich winken. Ich türmte zusammen mit einem Freund. Tags darauf wurde meine Mutter in die Schule bestellt, und ich durfte als Klassenbester und Gruppenratsvorsitzender nicht die größte Auszeichnung eines Thälmannpioniers annehmen - die dreiwöchige Fahrt in die Pionierrepublik. Gefahren ist ein anderer, der war zwar nicht gut in der Schule war, aber dessen Vater Vorsitzender des Elternbeirates war. Mein Weltbild wankte. Ich war in meinen Grundfesten zutiefst erschüttert. Und diese schreiende Ungerechtigkeit glotzte mich tagtäglich von der anderen Schulbankseite blöd an. Meine Mutter, mit Ausreiseplänen spielend, munterte mich zum Opponieren auf.


Im September 1989 kam es in der Aula meiner Schule zum ersten verbalen Widerstand. Unsere Direktorin und die Freundschaftspionierleiterin versuchten uns einzureden, dass die Ungarnflüchtlinge mit Drogen betäubt und dann in den Westen verschleppt wurden. Dann passierte etwas Unglaubliches. Schüler der zehnten Klasse standen auf und widersprachen. Sie berichteten von Bekannten, die ganz und gar nicht unfreiwillig die Botschaft in Prag besetzten, und davon, dass sie es richtig finden, den eisernen Vorhang zu öffnen wie in Ungarn.

Ich sagte, dass ich nicht unbedingt in die BRD wolle, aber Reisefreiheit an sich schon toll finden würde. Immer nur an die Ostsee und mit etwas Glück ans Schwarze Meer oder an den Balaton war auf Dauer doch öde. Immer mehr beteiligten sich an der Diskussion, und die Veranstaltung geriet aus den Fugen. Die anwesenden Lehrer waren schockiert, bekamen die Lage nicht mehr in den Griff. Die junge Freundschaftspionierleiterin konnte es nicht fassen, wie sich alle Pioniere und FDJler von ihren Vorstellungen entfernten. Sie fing an zu weinen. Wir fühlten uns plötzlich stark und unbesiegbar. Ich hatte das erste Mal offen meine Meinung gesagt. Ein saugeiles Gefühl.

Wochen später geriet ich in meine erste Demonstration in Erfurt. Ich kam gerade vom Fußballtraining. Die Menschen skandierten "Wir sind das Volk" und "Stasi in den VEB". Diese beiden Erlebnisse haben mein politisches Bild und das der meisten Menschen der ehemaligen DDR geprägt. Demokratie ist für mich erkämpft worden. Leider wird das heute zu oft und gerade im Osten vergessen. Was macht das typisch Ostdeutsche aus? Gibt es Unterschiede im politischen Denken und in der Handlungsweise? Ja.

Junge ostdeutsche Politiker sind pragmatischer. Pragmatisch heißt: Das Ziel steht im Vordergrund - nicht der Weg dorthin. Das Ziel ist rot, der Weg dorthin schwarz. Diesen schwarzen Weg nehme ich in Kauf, das Zurückschneiden sozialer Leistungen auf ein gesundes Maß, um einen handlungsfähigen Staat und damit die langfristige Erhaltung sozialer Sicherungssysteme zu erreichen. Für gelernte Sozialdemokraten ist das Teufelszeug. Es gibt nur einen Weg, der steht immer fest und wird nicht mehr hinterfragt.


Während meine jetzigen Kollegen in der SPD die gewohnte Juso-Sozialisation hinter sich gebracht haben, gab es die im Osten nicht. Die Strukturen in der Partei sind durchlässiger für junge Leute. Im Westen muss man die Ochsentour machen. Zehn Jahre Plakate kleben, Ortsvereinskassierer sein und Juso-AGs leiten. Wer wie ich die Bundeskongresse der Jusos erlebt hat, auf denen getrennt in Frauen- und Männerplena die Perfektionierung des Sozialismus nach sowjetischem Vorbild diskutiert wird, der gibt den Westen entnervt auf und freut sich auf die Arbeit zu Hause. Denn die ist sachorientiert; man übernimmt ein Projekt, zum Beispiel die Schaffung eines Jugendklubs, und hat große Chancen, diese Idee auch durchzusetzen.

Natürlich stößt man auch sehr schnell an finanzielle Grenzen. Doch das fördert die Flexibilität in der Suche nach neuen Finanzierungsquellen und Betreibermodellen. Diese reale Politikerfahrung fehlt vielen Jusos. Mangels Gestaltungsmöglichkeit kümmern sie sich eher um Solarschulen auf Kuba und die Verstaatlichung der deutschen Wirtschaft.

Anfang der 70er spalteten sich die Jusos in zwei Flügel, die Stamos (wegen des "staatsmonopolistischen Kapitalismus") und die Refos (Reformsozialisten). Die oft mit Verbitterung geführten Diskussionen auf Kongressen drehen sich darum, ob man bei Arbeitszeitverkürzungen den vollen Lohnausgleich zahlt oder den vollen Lohnausgleich noch mit einer Sonderzahlung verbindet. Nicht nur die absurden inhaltlichen Diskussionen, auch die Art des Politikverständnisses stoßen bei mir auf Abwehr.

Fünfunddreißigjährige Jusokarrieristen, die den Aufstieg aufgrund der Undurchlässigkeit der Partei nie geschafft haben, geilen sich dann in nächtelangen Disputen daran auf, ihre Delegierten einzuschwören und Mehrheiten für belanglose Anträge zustande zu bringen. Eine Auseinandersetzung mit den realen Problemen Jugendlicher findet nicht statt, geschweige denn mit dem politischen Gegner. Denn der wurde immer in den eigenen Reihen gesucht und gefunden.

Eine Partei, die wie die SPD sechzehn Jahre in der Opposition war, muss wohl so eine Parteijugend hervorbringen, denn politische Karrieren werden hier nicht vom Wähler entschieden, sondern vom Parteiestablishment. Und dem genügt man nur mit fleißiger Arbeit in den Parteistrukturen unabhängig von der Akzeptanz in der Bevölkerung.

Ich musste erleben, wie ein neuer Delegierter eines Landesverbandes als Verstoßener auf dem Flur der Jugendherberge schlief. Er hatte bei einem Antrag über die Zukunft der Bundeswehr nicht wie vom Landesverband vorgegeben gestimmt. Noch einmal wird er sicherlich nicht als Delegierter aufgestellt.

Für jemanden wie mich, für den die Meinungsfreiheit eines der höchsten Güter ist, wirkt dieser Umgang abstoßend. Diese Strömungskämpfe haben zum einen dazu geführt, dass die Jusos gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert werden, und zum anderen, dass aktive Jusos, die den Sprung in die Parlamente geschafft haben, eine Schere im Kopf haben. Die erste Frage, die sie sich stellen, ist: "Auf welcher Seite steht der andere?"

Viele können aufgrund ihrer Vorgeschichte nicht mehr miteinander reden. Und auch in diesem Punkt ähneln sie der jetzigen Parteispitze. Deren Befindlichkeiten resultieren aus Streitigkeiten während ihrer aktiven Jusozeit. Ich habe nie einen sachbezogenen Grund für die Zerwürfnisse gefunden. Es ging wie immer nur um Personalpolitik. Wer kriegt welchen Posten? Sind damit auch alle Quoten erfüllt? Die Frage, ob ein Bewerber überhaupt qualifiziert ist, spielt nur sekundär eine Rolle.


Bei jungen ostdeutschen Politikern ist das anders. Deren Karrieren starten nicht in parteinahen Gewerkschaften oder Sozialverbänden. Quereinsteiger sind eher die Norm. Da es so gut wie keine Stammwählerpotentiale gibt, ist die "Abwahl" eines Politikers viel wahrscheinlicher als dessen Wiederwahl. Seine Arbeit wird scharf beobachtet. Deshalb ist man darauf bedacht, Zustimmung zu finden.

Unpopuläre Entscheidungen stehen aus diesem Grund seltener auf der Agenda, und für konzeptionelle Ideen über die nächste Legislaturperiode hinaus gibt es kaum Raum. Überhaupt findet eine gesellschaftliche Diskussion über Werte und Ziele von Politik kaum statt.

Kein führender Politiker - ausgenommen Kurt Biedenkopf - traut sich, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen und den oft verwechselten Unterschied zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit politisch zu definieren. Junge Ossis sind offener im Umgang mit politisch Andersdenkenden, sie akzeptieren den Staat, wie er ist, und bekämpfen ihn nicht außerparlamentarisch, sie haben keine langjährige politische Erfahrung, verstoßen deshalb öfter gegen die eingespielten Regeln. Sie hinterfragen Gesetze aus einem bisher unbekannten Blickwinkel und sind unkonventionellen Lösungsansätzen nicht abgeneigt, da die starke Ideologisierung fehlt.

Dies liegt vor allem an der teilweise haarsträubenden Problemlage im Osten - hohe Arbeitslosigkeit, fehlende Steuereinnahmen für die Finanzierung öffentlicher Leistungen wie Infrastruktur und Polizei. Das verlangt schnelle und flexible Entscheidungen und nicht die Überprüfung, ob dies auch mit dem Parteiduktus von vor dreißig Jahren vereinbar ist.

Sehr deutlich wird diese Tatsache in der Kommunalpolitik. SPD, PDS und CDU treffen in den Stadtparlamenten die meisten Entscheidungen einstimmig. Auch der Wähler hasst nichts mehr als billige Parteipolemik. Er will Sacharbeit für das Land. Ideologien gelten als innovationshemmend. So langweilig die Jusoschule auch sein mag, eines lernt man dort: Härte. Wie schaffe ich mir Mehrheiten? Wie führe ich strittige Debatten, und wie ziehe ich jemanden auf meine Seite?

Persönlich musste ich oft erleben, dass alle von mir gebrachten noch so guten Sachargumente nicht ausreichten, um eine Abstimmung über zukünftige Wirtschaftspolitik zu gewinnen. Auch wenn diese nicht stichhaltig widerlegt werden konnten, gab es doch eine Mehrheit auf der anderen Seite. Der Antrag spielte nur eine untergeordnete Rolle. Im Vorfeld des Kongresses wurden bereits Personalpakete geschnürt, in denen auch die inhaltlichen Anträge miteinbezogen waren. So haben sich zum Beispiel die Bezirksverbände der Jusos aus Bayern, Hannover und dem westlichen Westfalen zusammengeschlossen, um die Mehrheit zu sichern. Untereinander wurden gleichzeitig die Posten, wie Stellvertreter und Vorsitzender, abgesprochen.

Damit waren auch die inhaltlichen Anträge beschlossen. Die Mehrheit war ja eh klar. Die Diskussion war nur noch Show. Ich hatte eigentlich gedacht, dass in einer Demokratie der Qualifizierteste genommen wird, die inhaltlichen Diskussionen erst auf den Jusokongressen stattfinden und Entscheidungen dort gefällt werden und nicht schon bei der Sicherung der Mehrheit.

Zu diesen strategischen Schwächen kommt die angelernte Zurückhaltung der Ostler noch hinzu. Oft sind die Ostler im Bundestag diejenigen mit der größten Detailkenntnis; allein am Verkauf mangelt es. Doch der ist im politischen Betrieb unabdinglich. Manchmal ist es eben besser, einen zitierfähigen Spruch parat zu haben, als jede Einzelheit erklären zu können, die dann doch niemanden interessiert.

Wenn ein Deutscher im Ausland gefragt wird, wo er herkommt, dann bezeichnen sich im Zweifelsfall alle "Ossis" als "Wessis". Umgekehrt ist dies nicht der Fall. Zumindest im politischen Geschäft scheint sich mit dem Umzug nach Berlin etwas zu ändern. Berlin ist vom Osten umzingelt. Eine Auseinandersetzung mit dem Osten und der Abbau falscher Einschätzungen scheinen jetzt möglich. Aussagen wie die meiner jungen Kollegin Ekin Deligöz aus Bayern in einem Streitgespräch: "Für mich hat sich seit der Wiedervereinigung nichts geändert" sind dann nicht mehr möglich. Die Unterschiede sind ganz klar da.

Durch die Ostler in der SPD ist es bunter geworden. Die Meinungsbildung ist vielfältiger. Die Ostler stellen die eingefahrenen Strukturen in Frage. Das schockiert die Etablierten. Für klassische westdeutsche Politiker ist es zum Beispiel schwer vorstellbar, wenn man auf einer Seite des SPD-Blocks (links oder konservativ) steht und trotzdem die Positionen wechselt. Für mich ist das vollkommen okay, wenn ich mit dem Ziel des anderen Blocks übereinstimme. Doch das passt nicht ins Weltbild der westlichen SPD. Es ist eben nicht politically correct.

Dieser Text ist zuerst erschienen in dem von Jana Simon, Frank Rothe und Wiete Andrasch herausgegebenen Sammelband "Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist", Aufbau Verlag, Berlin 2000, 240 Seiten, 29.90 DM.

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