Irgendwer kickt immer mit dir

Fußball ist was für Märchenerzähler. Er lebt, obwohl der Kommerz ihn zu zerstören droht. Wo andere Sportarten vergehen, bleibt Fußball immer vital. In diesem Sommer kehrt er dahin zurück, wo er hingehört: auf die Straße. Eine Liebeserklärung

Fußball ist was für Märchenerzähler. Und deswegen ist Fußball so populär. Jeden Samstag erzählen sie uns auf dem Platz die alte und immer gleiche Geschichte wieder: Jeder kann es schaffen, vom Tellerwäscher zum Millionär, vom Bettelmann zum Königssohn, vom kleinen Franz zum großen Kaiser. Was die Pisa-Studie längst als politisches Wunschdenken entlarvt hat: die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft nach oben – im Fußball geht das noch. Wer in Deutschland die soziale Selektion durch die Grundschule hinter sich hat, ist einsortiert in eine Schicht, der er kaum mehr entkommt. Es sei denn, er kickt. Für die Jungfußballer sind die großen Gehälter noch in Reichweite.

Draußen auf dem Bolzplatz

Bei anderen Sportarten ist das anders. Längst klagen die Eltern hochbegabter Skifahrer und Tennistalente über unbezahlbare Reise- und Ausrüstungskosten. Schneesichere Hochalpinlagen und Tennis-Schulen in Florida können sich eben nur die Gutbetuchten leisten. Bei allem Enthusiasmus übersteigen diese Investitionen in der Regel die finanziellen Möglichkeiten der bundesrepublikanischen Normalfamilie. Talentierte Jungfußballer brauchen dagegen nur einen Ball. Und der ist für zehn Euro im Sportladen um die Ecke zu haben. Tennis, Skifahren oder gar Golf – jene Sportart, die nach Polo derzeit den größten sozialen Abstand nach unten gewährleistet – finden nicht auf der Straße statt. Aber draußen auf dem Bolzplatz triffst du immer einen, der mit dir kickt. Daran hat sich nichts geändert, seit football im ausgehenden 19. Jahrhundert in Großbritannien populär wurde. Die großen Fußballer waren schon damals Helden aus der Unterstadt. Sie sind es heute noch.

And at the end the Germans win

Zur Fußball-Weltmeisterschaft besucht die Internationale der Aufsteiger unser Land. Die Medienmeute freut sich. Sie kann das beliebte samstägliche Märchen vom sozialen Aufstieg nun täglich und noch viel bunter erzählen: in Brasilien mit Pelé, in Argentinien mit Maradona, in Deutschland mit dem Kaiser, der nicht von ungefähr so heißt. Heute bereist der Sohn eines kleinen Postbeamten als Adliger die Welt und trifft als Präsident des WM-Organisationskomitees auf kaiserlicher Augenhöhe Premierminister und Ministerpräsidenten.

In diesem Sommer sind 31 Länder „zu Gast bei Freunden“. So heißt der ebenso verunglückte wie gut gemeinte Slogan dieser Weltmeisterschaft. Deswegen hat Medien-Deutschland in diesem Sommer eine unausgesprochene Urlaubssperre. In Deutschlands Sportredaktionen wird zur traditionellen Sommerlochzeit der personelle Notstand ausbrechen. In dieser sonst nachrichtenarmen Zeit werden die Sportseiten auf den doppelten Umfang wachsen und noch den letzten Seitenaspekt beschreiben. Radiosender werden ihre Musikanteile zusammenstreichen und die großen Fernsehsender mit gutem Grund auf Rekordquoten hoffen. It’s soccer time – und jeder guckt hin. Selbst jene Zeitgenossen, die sich vor Jahren noch mit intellektuellem Dünkel in der Zeit mokierten über die „22 erwachsenen Männer, die sich um einen Ball streiten“, sind seit der Einlassung des englischen Fußballers Gary Lineker einigermaßen wehrlos: „Football is a simple game; 22 men chase a ball for 90 minutes and at the end, the Germans win.“

Jahrzehntelang haben sich die Engländer mit dem Trauma der Niederlagen ihres Teams gegen die Deutschen bei der Weltmeisterschaft 1970 und der Europameisterschaft 1972 (im Wembley-Stadion!) herumgeschlagen. Mit der besten deutschen Elf aller Zeiten um Beckenbauer, Netzer und Breitner stieg auch deren Ruhm beim intellektuellen Establishment – nicht zuletzt, weil Paul Breitner nie das Gerücht dementierte, seine Bettlektüre sei die Mao-Bibel. So brüstet sich der Philosoph Walter Jens, seines Zeichens der erste Rhetorikprofessor der Republik, gerne damit, bis heute die Namen der Weltmeister-Elf von 1954 aus dem Gedächtnis aufsagen zu können.

Ein Paralleluniversum für alle

Das Wunder von Bern markiert den Zeitpunkt, zu dem sich die Bundesrepublik aus den Nachkriegsmühen befreite. Herbert Zimmermann setzte dazu das akustische Fanal, sein aus dem Hintergrund schießen müssender Rahn gilt als einer der meistgespielten Soundbites in der Geschichte des deutschen Radios – der Aufbruch Deutschlands zum Wirtschafts- wie zum Fussballwunder war geschafft. Seither hat sich auch die Führungselite des Landes offen zum Fußball bekennen dürfen. Als Medienkanzler Gerhard Schröder ins Amt kam, inszenierte er kameragerecht den perfekten Spannstoß. Die Nähe zum Fußball sollte Nähe zu den Massen schaffen. Helmut Kohl, einer distanzierteren Generation von Politikern angehörend, hatte sich da noch deutlich zurückgehalten, auch wenn er als gelernter Mittelläufer eine authentische Fußballbiografie aufzuweisen hatte.

Die mediale Wirkung des Fußballs ist hinlänglich untersucht. Er zieht die Massen an, weil keiner weiß, wie das Spiel ausgeht. Diese Spannung bieten allerdings auch andere Sportarten. Doch Fußball bietet mehr. Er ist ein Paralleluniversum, an dem wir alle teilhaben können. So war die Entscheidung für Jens Lehmann als Torhüter der Nationalmannschaft aus medialer Sicht die wichtigste Stellenbesetzung nach der Wahl der Bundeskanzlerin im vergangenen Jahr. Mitdiskutieren konnte dabei jeder. Die Frage wurde nicht nur in den Sportbeilagen der Tageszeitungen oder den Klatschseiten der Regenbogenpresse gewälzt, sondern auch auf den dritten Seiten der seriösen Blätter. Einen ähnlichen Hype um seine Person erlebte in Deutschland im Grunde nur Tennisstar Boris Becker, der – wie der Kaiser – als „Roter Baron“ per Spitzname in den Adelsstand erhoben wurde. Mittlerweile jedoch beschränkt sich die öffentliche Aufmerksamkeit für Becker auf die Regenbogenpresse. Oliver Kahn und Jens Lehmann schafften es dagegen in die Tagesthemen und die FAZ – gleich neben Bush, Merkel und Müntefering.

Netzers Marsch durch die Institutionen

Erstaunlich ist: Die Sportarten Tennis, Ski und Formel 1 verschwinden aus den deutschen Schlagzeilen, wenn es an erfolgreichen deutschen Protagonisten mangelt. Der Fußball aber bleibt bestehen und wechselt nur seine Hauptdarsteller. Das können Trainer sein wie Sepp Herberger, dessen Fußballmetaphorik („Das nächste Spiel ist immer das schwerste“) selbst Generationen von politischen Journalisten einen verbalen Steinbruch bot. Das können Spieler sein wie Franz Beckenbauer oder Günter Netzer, die von den Medien längst als wichtige Vorzeigedeutsche wahrgenommen werden. Wobei übrigens erst Netzer den Wirtschaftsbegriff „Analyst“ in einen konkret fassbaren Zusammenhang brachte und damit verständlich machte. Wenn es in Deutschland den Typus des „Analysten“ überhaupt gibt, dann ist es Günter Netzer, dieser hochseriöse, sprachlich so präzise wie unprätentiöse Sezierer der Geschehnisse auf dem Platz. Auf diese Weise schaffte der passionierte Ferrarifahrer den Durchmarsch – erst durchs Mittelfeld, dann durch die Institutionen ins öffentlich-rechtliche Fernsehen.

Zur Not holen sich die Medien die Hauptdarsteller der Fußballwelt aus dem Ausland: David Beckham macht auch auf deutschen Sportseiten eine gute Figur und gilt darüber hinaus hierzulande als Vorreiter des neuen Ideals des metrosexuellen Mannes. Der Fußballstar wird zur Popfigur. Dieser Sport hat es also längst von den degoutanten hinteren Teilen der Zeitungen nach ganz vorn geschafft. Gemachte Männer sind damit nicht nur die Spieler auf dem Platz. Auch gelernte Sportjournalisten nehmen heutzutage zunehmend prominente gesellschaftliche Ränge ein. Reinhold Beckmann und Johannes B. Kerner sind von Sport-Fachjournalisten zu publizistischen Stichwortgebern herangewachsen.

Vom Volksparkstadion zur „AOL-Arena“

Schon Tagesthemen-Moderator Hans Joachim Friedrichs hatte darauf hingewiesen, sein journalistisches Handwerk als Chef des Aktuellen Sportstudios verfeinert zu haben. Wer den Fußball erklären kann, kann offensichtlich auch bei anderen Themen nicht viel falsch machen. Passend dazu ist auf dem amerikanischen Markt das Buch How soccer explains the world erschienen. Der amerikanische Journalist und Autor Franklin Foer will nicht weniger, als mit dem Fußball die Welt analysieren: Zeige mir, wie du kickst – und ich sage Dir, wer Du bist.

Der Fußball lebt, obwohl der Kommerz ihn zu zerstören droht. Dabei wird auch nicht vor der Demontage von Traditionen, Namen und anderen Heiligtümern haltgemacht. Das Westfalenstadion in Dortmund heißt heute Signal-Iduna-Park. Und das Hamburger Volksparkstadion nennt sich AOL-Arena. Immer öfter muss das traditionelle Publikum aus dem Arbeitermilieu Platz machen für die vermögenden Mieter der wettersicheren Stadion-„Lounge“ mit Bedienung und feinem Essen. Das Perlhuhnbrüstchen auf bretonischer Vinaigrette ersetzt die Bockwurst vor dem Stadion. Kein Wunder, dass bereits eine Gegenbewegung entsteht: Das Fanmagazin Elf Freunde ist für die Basis längst mehr als ein Geheimtipp. „Holt Euch das Spiel zurück – zehn Foderungen aus der Kurve“, lautete der Titel einer Ausgabe im Sommer 2005.

Zurück auf die Straße!

In diesem Sommer wird der Fußball dahin zurückkehren, wo er herkommt: auf die Straße. Weil die Stadien längst nicht allen Interessierten Platz bieten, sollen WM-Besucher um eine neue mediale Erfahrung reicher werden. „Public Viewing“ nennen die Veranstalter das gemeinsame Gucken der Spiele auf den öffentlichen Plätzen der Städte. Zehntausende werden sich dort treffen. Einer ihrer Helden könnte Kevin Kuranyi sein. Der deutsche Stürmer mit brasilianischer Mutter und ungarischem Großvater hat das Märchen vom sozialen Aufstieg ebenso vorgelebt wie Lukas Podolski und Miroslav Klose, die Söhne polnischer Eltern sind. Alle drei sind Aufsteiger in einem Land, das außerhalb des Sports Menschen wie ihnen den sozialen Aufstieg in der Regel verwehrt. Sollten sie Weltmeister werden, würden sie zu neuen Leitfiguren der deutschen Leitkultur.

Es bleibt, wie es immer war: Fußball ist nicht nur Sport. Fußball ist was für Märchenerzähler. In diesem Sommer wird wieder eines wahr werden. Wenn nicht für uns in Deutschland, dann für Brasilien. Oder für Argentinien. Oder Italien. Oder England. Oder Frankreich, Costa Rica, Holland oder Polen. Maßgeblich ist noch immer auf’m Platz.

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