Integration bedeutet Investition

Erst einmal verursachen Aufnahme und Unterbringung zu uns geflohener Menschen Kosten für den Staatshaushalt. Doch als gut qualifizierte Mitbürger können einstige Flüchtlinge zu Aktivposten für Volkswirtschaft und Sozialsysteme werden. Wer jetzt nicht kraftvoll in sie investiert, muss später draufzahlen

Die Frage, wie viele Flüchtlinge ein Land aufnehmen kann, wird häufig mit Verweis auf die Kosten für Unterbringung, Integration und Verwaltung beantwortet. Deutschland – so das Argument – könne sich die Versorgung der Flüchtlinge einfach nicht leisten. Allein deshalb müsse es seine Grenzen schließen.

Die Realität sieht allerdings anders aus. Denn erstens sind die Staatskassen so gut gefüllt wie seit langem nicht. Schätzungen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute zufolge beträgt der gesamtstaatliche Haushaltsüberschuss in diesem Jahr 23 Milliarden Euro. Das entspricht fast einem Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Im Jahr 2016 wird das Etatplus ähnlich hoch ausfallen.

Für das kommende Jahr beziffern die Institute die Flüchtlingskosten auf rund elf Milliarden Euro, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht von 9 bis 14 Milliarden Euro aus – wobei unterstellt wird, dass in diesem Jahr 1,2 Millionen und 2016 rund 850 000 Asylbewerber nach Deutschland kommen. Selbst wenn die pessimistischen Schätzungen des Münchner Ifo-Instituts herangezogen werden, das unter Berücksichtigung der Aufwendungen für Unterbringung, Ernährung, Kitas, Schulen, Deutschkurse, Ausbildung und Verwaltung im Jahr 2016 mit Mehrausgaben von 21,1 Milliarden Euro rechnet, ist zumindest gesamtstaatlich betrachtet genug Geld im Topf.

Dass sich die Staatshaushalte in einem verhältnismäßig guten Zustand präsentieren, hat auch damit zu tun, dass das Geld für die Flüchtlinge ja nicht in einem schwarzen Loch verschwindet. Es wird ausgegeben – etwa um Nahrungsmittel und Kleidung einzukaufen oder um Unterkünfte zu bauen und Lehrer einzustellen. So entstehen Einkommen, und weil diese Einkommen besteuert werden, finanzieren sich die staatlichen Ausgaben zumindest zu einem Teil von selbst.

Ersten Schätzungen zufolge dürfte das deutsche Bruttoinlandsprodukt deshalb 0,2 Prozentpunkte höher ausfallen als wenn die Mittel zur Tilgung von Schulden aufgewendet und damit dem Wirtschaftskreislauf entzogen worden wären. Aus konjunktureller Sicht wirkt die Flüchtlingskrise wie ein Wachstumsimpuls.

Dass der Streit um die Kosten dennoch die Schlagzeilen bestimmt, rührt vor allem daher, dass die Steuereinnahmen zwischen den staatlichen Ebenen und den Gebietskörperschaften höchst ungleich verteilt sind: Im Bundeshaushalt besteht durchaus noch Luft nach oben, und es gibt Kommunen, die geradezu im Geld schwimmen. Andere Gemeinden stehen allerdings finanziell am Abgrund. Deshalb muss die gerechte Verteilung der Mittel oberste Priorität haben. Hier ist bislang zu wenig geschehen.

Und sollte – zweitens – das Geld tatsächlich nicht reichen, wären die Risiken für die Staatshaushalte gering. Deutschland kann sich praktisch zum Nulltarif verschulden: Die Regierung könnte das fehlende Geld also jederzeit günstig an den Finanzmärkten aufnehmen. Rechtlich ist das kein Problem: Die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse erlaubt eine Neuverschuldung von rund zehn Milliarden Euro im Jahr. Zudem hat die Europäische Kommission bereits angekündigt, dass sie die Regeln des Europäischen Stabilitätspakts angesichts der Herausforderungen durch die Flüchtlingskrise flexibel auslegen wird.

Blauäugig dürfen wir nicht sein

Ökonomisch erscheint eine höhere Neuverschuldung ebenfalls gerechtfertigt. Die Finanzwissenschaft kennt zwei wesentliche Begründungen für eine staatliche Kreditaufnahme: die Stabilisierung der Konjunktur und die Finanzierung von Investitionen, deren Erträge in der Zukunft anfallen und die dann für die Tilgung der Kredite und Zinszahlungen zur Verfügung stehen.

Ausgaben für die Integration von Flüchtlingen sind nichts anderes als eine öffentliche Investition. Sie tragen dazu bei, die Flüchtlinge zu qualifizieren und in Arbeit zu bringen. Damit leisten sie einen Beitrag zur Wertschöpfung und bezahlen – wie jeder andere Arbeitnehmer auch – Steuern und Sozialabgaben. Diese Beiträge wiederum kann der Staat für den Schuldendienst verwenden. Im Idealfall bezahlen die Flüchtlinge also zu einem späteren Zeitpunkt die Schulden zurück, die der Staat heute ihretwegen aufnimmt. Angesichts der guten Konjunktur und der rapide sinkenden gesamtstaatlichen Schuldenquote kann sich das Land eine solche zeitliche Verschiebung von Ausgaben und Einnahmen leisten.

Nun sollte man nicht blauäugig sein: Dieses Szenario setzt voraus, dass die Integration auch tatsächlich gelingt – dass also die Flüchtlinge nicht Transferempfänger bleiben, sondern für sich selbst sorgen können und in die Sozialsysteme einzahlen. Gelingt dies nicht, werden entweder die Abgaben und Sozialbeiträge dauerhaft steigen oder die Sozialleistungen müssen gekürzt werden, weil sonst die Mittel nicht ausreichen, um die zusätzlichen Leistungsempfänger zu versorgen.

Klar ist auch, dass die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt keine leicht zu schulternde Aufgabe sein wird. Das durchschnittliche Qualifikationsniveau der Neuankömmlinge ist gering. Experten schätzen, dass mehr als die Hälfte ungelernt ist, also weder über einen mittleren Schulabschluss verfügt noch über eine Berufsausbildung. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat gezeigt, dass von den Asylbewerbern, die in den vergangenen 20 Jahren nach Deutschland gekommen und hier geblieben sind, im Jahr 2013 fast 60 Prozent ungelernt waren.

Auf die Qualifizierung kommt es an

Die Erfahrung mit früheren Migrationswellen zeigt, dass die Integration in den Arbeitsmarkt oft Jahre dauert. Und weil das Niveau der Daseinsvorsorge in Deutschland vergleichsweise hoch ist, muss auch der von den Flüchtlingen an Steuern und Abgaben entrichtete Beitrag hoch sein, damit sie unterm Strich einen positiven Beitrag zur Finanzierung des Staates leisten. Weil dessen Höhe vom Arbeitslohn abhängt und dieser wiederum von der Arbeitsproduktivität, wird es auch unter finanziellen Gesichtspunkten nicht ausreichen, die Flüchtlinge nur in Billigjobs zu stecken.

Die Schlussfolgerung daraus kann nur lauten, dass wir alles tun müssen, um die Flüchtlinge möglichst schnell zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Ökonomisch gesprochen: Wir müssen ihr Humankapital aktivieren. Aus haushaltspolitischer Perspektive bedeutet das zunächst einmal, zusätzliche Mittel für Investitionen in Bildung und Ausbildung bereitzustellen. Deutschland braucht neue Schulen, mehr Lehrer und womöglich auch ganz neue Ansätze, um berufliche Bildung mit dem Erwerb von sprachlichen und anderen Qualifikationen zu kombinieren. Dieses Geld muss schnell fließen, denn je früher mit der Integration begonnen wird, desto größer sind die Erfolgschancen. Haben sich Parallelgesellschaften erst einmal herausgebildet, ist es häufig schon zu spät.

Anlass zur Hoffnung bietet die Tatsache, dass ein großer Teil der Flüchtlinge jünger als 30 Jahre ist – und damit in einem Alter, in dem Qualifikationsmaßnahmen erfahrungsgemäß Wirkung zeigen. Dennoch wird es unter den Neuankömmlingen immer Menschen geben, deren Produktivitätsniveau so niedrig ist, dass sie unter den geltenden arbeitsrechtlichen Bedingungen in Deutschland keinen Job finden. Wenn der Mindestlohn nicht angetastet werden soll, muss deshalb auch über neue staatliche Lohnzuschüsse nachgedacht werden. Sonst bleiben diese Menschen womöglich dauerhaft arbeitslos, was integrationspolitisch verheerend wäre. Lohnzuschüsse werden den Haushalt ebenfalls belasten, zumal sie allen Arbeitnehmern zugutekommen müssten, um eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.

An zu wenig Geld darf die Sache nicht scheitern

Ein Grundgesetz der Ökonomie lautet, dass auf Erden nichts umsonst ist. Dieses Gesetz gilt kurzfristig auch in der Flüchtlingspolitik. Die Aufnahme der Neuankömmlinge kostet Geld  – und dieses Geld steht erst einmal nicht für andere Zwecke zur Verfügung. Anstatt die Haushaltsüberschüsse für die Versorgung der Flüchtlinge zu verwenden, könnte der Staat auch die Steuern senken, mehr Geld für Investitionen ausgeben oder Schulden tilgen. Insofern erfordert das Öffnen der Grenzen von der heimischen Bevölkerung die Bereitschaft zum Verzicht.

In der mittelfristigen Betrachtung sind die Zusammenhänge allerdings weniger eindeutig: In dem Maße, in dem die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integriert werden und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, tragen sie zur Finanzierung des Staates bei und erhöhen die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten. Weil der zu verteilende Kuchen größer wird, muss die einheimische Bevölkerung nicht verzichten, wenn sich die Neuankömmlinge ein Stück davon nehmen.

Die oberste politische Priorität muss darin bestehen, die Weichen so zu stellen, dass die Integration der Flüchtlinge gelingen kann. Ohne Frage: Dies wird ein organisatorischer und logistischer Kraftakt, für den es in der Geschichte kaum Beispiele gibt und bei dem – so ehrlich sollte man sein – auch einiges schiefgehen kann. In Zeiten extrem niedriger Zinsen und rekordverdächtiger Steuereinnahmen sollte der Versuch aber nicht am Geld scheitern.

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