In fünf Jahren kommt der finale Crash

Franz Walter geißelt die SPD für ihren unvermeidlichen Niedergang

Am Schluss gehen mit ihm die Pferde durch. Die Destruktionswucht des Kapitalismus wende sich gegen die eigenen Voraussetzungen, im Jahr 2015 drohe der finale Crash, zitiert er den konservativ-populärwissenschaftlichen Publizisten Meinhard Miegel. Am Ende stünden negative Mobilisierung, Defätismus und soziale Aggression. Franz Walter, viel schreibender Politikwissenschaftler aus Göttingen mit vielen klugen Beiträgen zur Entwicklung der Volksparteien, hat unter dem Titel Vorwärts oder abwärts? ein Bändchen zur Transformation der Sozialdemokratie vorgelegt. Sein zusammenfassender letzter Satz: „Man sollte nicht unbedingt damit rechnen, dass das 21. Jahrhundert ein sozialdemokratisches sein wird.“

Für diese These führt Walter zwei zentrale Begründungen an: Zum einen sei der Niedergang der Sozialdemokratie aufgrund der fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaften kaum aufzuhalten. Zum anderen hätten sich die sozialdemokratischen Protagonisten der vergangenen Jahre aufgrund eigener Individualisierung von ihrer Herkunft entfremdet und dadurch die Grundlagen der Sozialdemokratie zerstört. Das ist ein Widerspruch, in dem sich Walter oft verfängt: Als Traditionskompanie hätte die SPD angesichts der von ihm selbst beschriebenen Modernisierungswucht erst recht keine Chance.

Aber der Reihe nach. Walter zufolge begann der Untergang der Sozialdemokratie im Jahr 1973. Damals seien die Arbeiterklasse, der Planungsstaat und der demokratische Sozialismus zu Artefakten beziehungsweise Schimären geworden, weil das Ende der Wachstumsära eingeläutet worden sei: Die autofreien Sonntage machten die „Grenzen des Wachstums“ augenfällig, und an seine Grenzen stieß auch der Ausbau des Sozialstaates.

Schon 1973 war die gute alte Zeit vorbei

Das Jahr 1973 als das historische Wendejahr für die Sozialdemokratie zu bezeichnen, ist allerdings etwas überzeichnet. Schließlich regierte Helmut Schmidt noch erfolgreich bis 1982, Bruno Kreisky in Österreich bis 1980, und Francois Mitterand hatte seine Erfolge noch vor sich. Außerdem: Partei der Arbeiterklasse war die deutsche Sozialdemokratie nach eigenem Selbstverständnis schon seit ihrem Godesberger Parteitag 1959 nicht mehr. Sondern sie verstand sich als Partei der breiten Arbeitnehmerschaft, offen auch für Selbständige und Freiberufler. Ihre großen Wahlerfolge in den siebziger Jahren erzielte die SPD nach der Öffnung für die akademische Jugend. Gerade die Sozialdemokratie hatte in dieser Zeit – beispielsweise mit Jochen Steffen, Johano Strasser oder Erhard Eppler – programmatische Vordenker, die die neuen Herausforderungen in die sozialdemokratische Programmatik integrieren konnten. Im Jahr 1973 war die Volkspartei SPD jedoch – und insoweit hat Walter Recht – nach langem schwierigen Aufstieg auf dem Höhepunkt ihrer Hegemonie und Macht angelangt. Danach zerbrach das sozial-liberale Selbstvertrauen, und der soziale Wandel setzte die Sozialdemokratie verstärkt unter Druck.

An diesem Punkt setzt auch Walter an, wenn er die Auflösung der Arbeitermilieus analysiert: „Die einen steigen auf, die anderen ab.“ Die Kinder der Facharbeiter studierten, ergriffen akademische Berufe und entfremdeten sich von ihrer eigenen Herkunft. Franz Walter beschreibt die Kraftanstrengung dieses Aufstiegs und den Preis, der dafür zu entrichten war, mit großer Authentizität – er hat es selbst erfahren. Zugleich entstand aufgrund der sich entwickelnden Langzeitarbeitslosigkeit zunehmend eine Schicht von Ausgeschlossenen: die „neue Unterschicht“. Und die Sozialdemokratie schaffte es immer weniger, den sozialen Zusammenhalt herzustellen, die sozialen und kulturellen Milieus in ihrer Programmatik und in ihrer Haltung zu integrieren.

Keynes lebt und lässt schön grüßen


„Die Entzauberung des Keynesianismus“ ist ein schwächeres Kapitel in Walters Büchlein. Mit Karl Schillers Globalsteuerung hatte die Sozialdemokratie Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre in der Tat eine kurze Zeit ökonomischer Hegemonie erlebt. Mit dem Krisenjahr 1973 sieht Franz Walter  den Keynesianismus am Ende und die neoliberale Hegemonie aufziehen. Richtig mag sein, dass der Sozialdemokratie seitdem das überzeugende wirtschaftspolitische Programm fehlt. Aber der Keynesianismus war keineswegs am Ende, nicht einmal der schlichte Keynesianismus in Form von antizyklischer Konjunkturpolitik. Diese feierte in den Jahren 2008 und 2009 angesichts der Weltwirtschaftskrise zu Recht eine Wiedergeburt.

Seit den siebziger Jahren besteht das eigentliche Problem in der fortschreitenden Internationalisierung der Märkte, die vor allem die Trennung von Geld- und Gütermärkten verstärkte und später zu den Wertpapierexzessen führte. Der seit 2008 wieder viel rezipierte Keynes ist ein weltwirtschaftlich und vielfältig interventionistisch denkender Ökonom gewesen, dessen Breite an Handlungsoptionen die Nationalstaaten angesichts der Globalisierung aber zunehmend überforderte. Der unterregulierte „Superkapitalismus“ (Robert Reich) musste und muss zwangsläufig tiefgreifende Krisen mit sich bringen. Die geringe Überzeugungsfähigkeit der SPD in diesen ökonomischen Fragen im Wahlkampfjahr 2009 war selbst verschuldet: Das Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 hatte sie deutlich angesprochen, und noch Kurt Beck hatte als Parteivorsitzender eine international besetzte Kommission zur Finanzmarktpolitik unter Leitung von Peer Steinbrück eingesetzt.

Richtig auslassen kann sich Franz Walter nicht nur über die Politik des Dritten Weges und ihre Protagonisten Gerhard Schröder, Bodo Hombach und Tony Blair, sondern auch über diejenigen, die danach die aufstrebende Generation in der SPD sein wollten und diesen Weg unterstützt haben: die „Netzwerker“. Vielleicht muss man Walter als Renegaten, der lange in deren Gesprächszusammenhänge eingebunden war, nachsehen, dass er an der einen oder anderen Stelle die Gürtellinie streift. Aber es gibt auch grundlegende Einwände gegen seinen Verriss. War die Zeit der Blairs, Clintons und Schröders nicht eine der erfolgreichsten Phasen in der jüngsten Geschichte der Sozialdemokratie? Hat Labour in Großbritannien jemals länger die Macht in ihren Händen gehalten als in den  Jahren von „New Labour“ seit 1997? Hat es in den vergangenen Jahrzehnten klügere Gedanken zur Fortentwicklung der Sozialdemokratie gegeben als die von Anthony Giddens?

Wo sind denn die besseren Antworten?

Und  macht es sich Franz Walter nicht etwas einfach, wenn er das oberflächliche Hombach-Mandelson-Papier des Jahres 1999 zum Maßstab nimmt? Wo sind bis heute die besseren sozialdemokratischen Antworten auf Globalisierung und Individualisierung? Bleiben nicht bis heute die Ideen des aktivierenden Staates, des vorsorgenden Sozialstaates und des Vorrangs für Bildung richtig, aber im Kern unerfüllt? Zugegeben, es hat auch programmatische Verirrungen gegeben, so der Gerechtigkeitsdiskurs, der die soziale Gerechtigkeit als nur noch eine Gerechtigkeitsdimension unter anderen ansah, oder die Unterbelichtung wirtschaftsstruktureller Probleme und ökonomischer Regulationsfragen.

Korrekt beschreibt Franz Walter den Niedergang der europäischen Linken in der vergangenen Dekade. Aber sind die jeweiligen Entwicklungen der Sozialdemokratien in Europa tatsächlich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen? Sicher, wirtschaftliche Krisen und soziale Veränderungen verliefen ähnlich, aber die politischen Traditionen, die geschichtlichen Prägungen, die Verwurzelungen der Sozialdemokratie und die parteipolitischen Ausformungen der Linken sind in Europa doch höchst unterschiedlich. Der italienische Olivenbaum, die französischen Sozialisten, die skandinavischen Sozialdemokraten, die ihre Länder so tiefgreifend geprägt haben, dass auch die „mitfühlenden“ Konservativen sich an die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen nicht heranwagen, die postkommunistischen sozialdemokratischen Parteien in Osteuropa, die früher so tief in der Gesellschaft verwurzelten österreichischen Sozialdemokraten oder die niederländische Partij van de Arbeid – sie alle sind nur in ihrer spezifischen Entwicklung zu verstehen. Auch die jeweiligen Parteiensysteme sind kaum miteinander zu vergleichen und die jeweiligen Traditionen parteipolitischer Kooperation hochgradig verschieden. Vielleicht kommt ein neues Jahrzehnt der Sozialdemokraten und Sozialisten in Europa schneller, als die Untergangspropheten heute glauben. Auch Politik hat ihre Zyklen.
Aber blicken wir wieder etwas tiefer in die deutsche Sozialdemokratie. Der Machtverlust in den Kommunen, in vielen Ländern und im  Bund von 1998 bis 2009 ist tatsächlich ein tiefer Fall. Die strukturellen Veränderungen sind älter – ebenso wie das Unvermögen der Sozialdemokratie, darauf angemessen zu reagieren: der Machtverlust in den großen Städten, die fehlende Verankerung in den neuen Wachstumszonen der Bundesrepublik, dem deutschen „sun belt“; die sich verändernde Kultur der Arbeitnehmerschaft im Ruhrgebiet von der konservativen Klassenorganisation der IG Bergbau hin zum diffusen Aktionismus von Verdi; das Entstehen der Grünen aufgrund der misslungenen Integration von Ökologie- und Friedensbewegung in den achtziger Jahren; der schwierige Weg der Sozialdemokratie in die deutsche Einheit; der Machtgewinn erst durch den Verschleiß der Union am Ende der Ära Kohl.

Und im Wahlkampf die rote Fahne hissen

Die rot-grüne und dann schwarz-rote Regierungszeit seit 1998 hatte auch ihre Erfolge. Sie ist aber gleichzeitig eine Zeit des Niedergangs für die Sozialdemokratie. Viele Entwicklungen beschreibt Franz Walter richtig: die sich verstärkende soziale Polarisierung von Arm und Reich aufgrund anhaltender hoher Arbeitslosigkeit, die Gewinne der Reichen im Aufschwung und die Verfestigung der Armut in der Krise. Im Kern sind es jedoch nicht die Arbeitsmarktreformen als solche, die den Verlust an Vertrauen in die Sozialdemokratie hervorgerufen haben, sondern vor allem der Widerspruch zwischen Versprechen und Hoffnungen in Wahlkampfzeiten und der harten Realität der als soziale Einschnitte erlebten Reformen in der Regierungszeit. Reformen ohne vorbereitende Diskussionen und Erklärungen, zum Teil selbst ohne die Partei oder sogar ohne den Parteivorsitzenden einzubeziehen wie im Fall der Rente mit 67. Frei nach Franz Müntefering: Tun, was man tun muss – und im Wahlkampf die rote Fahne hissen.

Diese Top-down-Politik der „modernen“ Sozialdemokratie beschreibt Franz Walter richtig. Die Folgen waren die schwindende Verankerung der Partei in der Bevölkerung, die fallenden Mitgliederzahlen und die neue Konkurrenz von links. Die desaströsen Wahlergebnisse des Jahres 2009 waren das Ergebnis eines tiefen, so schnell nicht wieder rückgängig zu machenden Vertrauensverlustes der SPD (besonders in den Unterschichten) sowie schweren Fehlern im Wahlkampf, die vor allem auf der fehlenden Machtperspektive basierten. Es kommt einem angesichts der schwarz-gelben Regierungswirklichkeit rückblickend noch unvorstellbarer vor, dass die Sozialdemokratie auf die Option einer Ampel-Koalition mit der Westerwelle-FDP setzen konnte.

Walters Schlusskapitel sind mit viel Polemik gespickt. Vier Markierungen für den Weg der Sozialdemokratie aus ihrem tiefen Tal lassen sich dennoch herausarbeiten:

- - „Die Zeit der politischen Monopole für spezifische soziale Lager dürfte vorbei sein, die Fähigkeit zum Bündnis wird zur elementaren Tugend.“

- - „Die Anführer der SPD sollten ihren entwertenden Umgang mit den eigenen Mitgliedern, Multiplikatoren, Anhängern überdenken.“

- - „Vertrauen benötigt gesellschaftliche Sicherheit und die Erfahrung sozialen Ausgleichs, ja der Mentalität der Gerechtigkeit, damit die eigene Lebensplanung kalkulierbar wird.“

- - „Die moderne soziale Mitte, so undeutlich ihre Existenz auch sein mag, wird in den folgenden Jahrzehnten das ‚Gravitationszentrum‘ (Emmanuel Todd) politischer Weichenstellungen bleiben. Eine Politik der integrativen, ausgleichenden Mitte ließe sich mit den sozialen Erfahrungen der sozialen Mitte verknüpfen.“

Franz Walter glaubt, dass die notwendigen Klärungsprozesse der SPD nur dann gelingen können, wenn sich die Partei ernsthaft mit gesellschaftlichen Strömungen auseinandersetzt. Solche Anstrengungen hat die SPD auf jeden Fall nötig. Dabei könnte auch Walters Rat gefragt sein.

Franz Walter, Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin: Suhrkamp Verlag 2010, 142 Seiten, 12 Euro

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