In der Verflechtungsfalle

Das Scheitern der Föderalismuskommission belegt auf traurige Weise das institutionelle Reformdilemma in der Bundesrepublik. Es darf nicht das letzte Wort bleiben - auf dem Spiel steht nicht weniger als die Handlungsfähigkeit der Demokratie

Undank ist bekanntlich der Welten Lohn: Auch wenn die 32 Mitglieder der Föderalismuskommission mit ihren Verhandlungen im Dezember 2004 nicht gescheitert wären, hätte ihnen die interessierte Öffentlichkeit für das dann gefundene Kompromisspaket wohl kaum Beifall gezollt. Zu kompliziert ist das Geflecht der durch die Reform berührten Interessen, als dass am Ende ein großer Wurf hätte herauskommen können. Dieser stand von vornherein nicht zu erwarten. Insofern ist es auch zu kurz gegriffen, das Scheitern der Reform dem Verfahren und der ausschließlich aus Politikern zusammengesetzten Kommission anzulasten. Ein breiter angelegter Verfassungskonvent würde sich gewiss auf couragiertere Reformschritte verständigen können, als es die Kommission nach einjähriger Arbeit getan hat. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich die Entscheidungsträger auf die Vorschläge auch verpflichten ließen. Deshalb war es vom Ansatz her richtig, Fragen wie Länderneugliederung, Steuergesetzgebung oder Finanzausgleich, die an die Existenzgrundlagen des deutschen Bundesstaates rühren, aus den Verhandlungen vorsorglich auszuklammern. Umso enttäuschender ist es, dass die Verantwortlichen trotz dieser günstigen Ausgangslage kein Ergebnis zustande gebracht haben.

Zwischen kurzfristigem Nutzen und Prinzipien

Bei der Föderalismusreform verquicken sich drei grundsätzliche Konflikte zu einer schwierigen interessenpolitischen Gemengelage. Erstens konkurrieren Parteien bzw. Regierung und Opposition miteinander. Zweitens stehen die Interessen des Bundes gegen jene der Länder. Und drittens rivalisieren die Gliedstaaten auch untereinander, wobei sich die kleineren und wirtschaftlich schwächeren Länder tendenziell mit dem Bund verbrüdern – die so genannte „zentralistische Koalition“.

Zunächst zum parteipolitischen Konflikt. Dieser hat, was in der Debatte nicht immer richtig gesehen worden ist, eine machtpolitische und eine ideologische Dimension. In machtpolitischer Hinsicht geht es um den kurzfristigen Nutzen einer Frage im Parteienwettbewerb, ideologisch gesehen um prinzipielle politische Standpunkte. In Bezug auf die machtpolitischen Interessen hatte man zu Beginn der Verhandlungen vermutet, dass sich diese weitgehend neutralisieren würden. Schließlich müsse die Opposition damit rechnen, sich schon bald selbst in der Rolle der Regierung zu befinden. Hier war man vielleicht etwas zu optimistisch. So ist das Interesse der Union an einer Entmachtung des Bundesrates womöglich durch die Perspektive einer eigenen Mehrheit in der Länderkammer über das Jahr 2006 hinaus begrenzt worden. Umgekehrt – und noch wichtiger – hat die von der rot-grünen Koalition in den letzten beiden Jahren unter der Überschrift „Agenda 2010“ betriebene Reformpolitik gezeigt, dass sich aus der legislativen Mitwirkung der Opposition handfeste strategische Vorteile für die Regierung ergeben können. Zum einen wird der politische Gegner auf diese Weise in Mithaftung genommen (und somit in seiner Kritikfunktion beschränkt); zum anderen vergrößern die durch die oppositionelle Mehrheit in der Länderkammer entstehenden Kompromisszwänge den Handlungsspielraum der Regierung im eigenen Lager. Hier mag einer der Gründe dafür liegen, dass Kanzler Schröder und die Koalition der Arbeit der Kommission bis zum Schluss eher missmutig gegenüberstanden; offenbar konnten und können sie auch mit einem Nicht-Ergebnis gut leben.

Etatistisch reimt sich auf zentralistisch

Auch die ideologische Dimension des parteipolitischen Konflikts ist von den Beobachtern in mancherlei Hinsicht zu leicht genommen worden. So sehr sich die rot-grüne Regierung und ihr sozialdemokratischer Teil dem neoliberalen Mainstream in der Sozial- und Wirtschaftspolitik angenähert haben mögen, bleiben sie doch in ihrem politischen Grundverständnis weiterhin etatistisch geprägt, was sich in den die Staatsorganisation betreffenden Fragen auf „zentralistisch“ reimt. Bei der Union und besonders der FDP lässt sich demgegenüber feststellen, dass sie ihre marktliberalen Positionen zunehmend auch in den Bereich der Institutionenpolitik hinein verlängern. Das Begriffspaar „solidarischer Föderalismus“ versus „Wettbewerbsföderalismus“ bringt die Kontroverse auf den Punkt. Der Übergang zu einem wettbewerbsföderalen System mit eigenen Steuerkompetenzen der Länder und der Abschaffung oder Reduktion des Finanzausgleichs wird zwar nur von einzelnen Exponenten dieser Richtung ernsthaft ins Auge gefasst. Dennoch dürften die ideologischen Unterschiede zum Scheitern der Verhandlungen mit beigetragen haben, da die überwiegend etatistisch gesinnten Vertreter der rot-grünen Regierungsmehrheit einer Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Länderebene generell wenig abgewinnen können.

Eine solche Rückverlagerung ist aber geboten, wenn die Länder im Gegenzug dazu gebracht werden sollen, auf einen Teil ihrer heutigen Zustimmungsrechte im Bundesrat zu verzichten. Hier kommt der zweite Konflikt – jener zwischen Bund und Ländern – ins Spiel. In den kritischen Kommentaren der vergangenen Wochen ist zu wenig gewürdigt worden, dass die Kommission in einem ganz zentralen Bereich der Reform ihr Ziel schon erreicht hatte. Die Länder sollten danach in Zukunft für die Ausführung der Bundesgesetze selbst zuständig sein, also die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren ohne Zutun des Bundes regeln können; die Zustimmungserfordernisse gemäß Artikel 84 Absatz 1 des Grundgesetzes würden dadurch weitgehend wegfallen. Darüber hinaus hätten die Länder auch eine Reihe von materiellen Kompetenzen erhalten, die heute im Bereich der konkurrierenden oder Rahmengesetzung vom Bund wahrgenommen werden. Hier ist an erster Stelle das Besoldungsrecht zu nennen, das den Gliedstaaten zumindest auf der Ausgabenseite ein Stück ihrer finanziellen Gestaltungsfreiheit zurückgeben könnte.

Warum der Bund am längeren Hebel sitzt

Fritz W. Scharpf hat in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine unlängst die von ihm selbst aufgestellte These der unentrinnbaren „Politikverflechtungsfalle“ durch den Hinweis eingeschränkt, dass der Bund in den Föderalismusverhandlungen letztlich am längeren Hebel sitzt. Es sei nämlich allein an ihm, darüber zu entscheiden, ob er durch einen Verzicht auf die Regelung des Verwaltungsverfahrens seine Gesetze von der Zustimmungspflicht gemäß Artikel 84 Absatz 1 befreie oder nicht. Nach dem mit den Ländern gefundenen vorläufigen Kompromiss sollen davon lediglich Gesetze „mit erheblichen Kostenfolgen“ ausgenommen sein – diese benötigen in jedem Falle die Zustimmung des Bundesrates. Wenn dies so ist, stellt sich natürlich die Frage, warum der Bund von jener Möglichkeit nicht bereits in der Vergangenheit Gebrauch gemacht hat. Die Antwort verweist auf die institutionellen Eigeninteressen der Ministerialbürokratie, die ihre Hoheit über die Gestaltung der Gesetze behaupten möchte und deshalb dazu neigt, alles bis ins kleinste Detail regeln. Wird dieses Interesse in Zukunft zurückgedrängt, könnte der Bund seine Handlungsfreiheit also auch ohne weitere Zugeständnisse an die Länder ausdehnen.

Die Bildungspolitik als Battleground

Insofern war es vielleicht etwas kurzsichtig, dass die Länder (beziehungsweise einige von ihnen) die Verhandlungen an der Frage der Kompetenzverteilung in der Bildungspolitik haben scheitern lassen. Manche Beobachter haben darin nur einen Vorwand gesehen, damit die Ministerpräsidenten ihre bisherigen Mitwirkungsrechte im Bundesrat behalten können, was aber angesichts der eben beschriebenen Umgehungsmöglichkeiten der Zustimmungspflicht nicht sehr überzeugend ist. Parteipolitische Motive dürften ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Die Union kann ihre schul- und hochschulpolitische Kompetenz am ehesten dadurch unter Beweis stellen, dass die von ihr regierten Länder in den einschlägigen Rankings besser abschneiden als die sozialdemokratischen Länder.

Für die SPD wiederum sind die unterschiedlichen Leistungsniveaus ein nützlicher Hebel, um eine stärkere Zentralisierung der Bildungspolitik anzumahnen. Für die Zuspitzung entscheidend war aber auch hier die Überlagerung durch den grundsätzlichen Interessenkonflikt zwischen Bund und Ländern. Der Bund wollte und will seine Kompetenzen in der Bildungspolitik verteidigen, die ihm durch die länderfreundliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (infolge der durch die Verfassungsänderung von 1994 revidierten Kriterien für die Inanspruchnahme der konkurrierenden und Rahmengesetzgebung) zuletzt zunehmend entwunden wurden. Das noch ausstehende Urteil zu den Studiengebühren wird diese Tendenz höchstwahrscheinlich fortschreiben. Auf der anderen Seite betrachten nicht nur die unionsgeführten, sondern auch große sozialdemokratisch regierte Länder wie Nordrhein-Westfalen die Bildungspolitik als ureigene Domäne, in die der Bund nicht oder nur begrenzt hineinregieren dürfe. Dass die fortgesetzten Übergriffe von Bundesministerin Bulmahn auf ihr Terrain keine Sympathie auslösen würden und als „wenig hilfreich“ (Peer Steinbrück) empfunden wurden, liegt auf der Hand.

Die Ländervertreter sind gegenüber dem Bund argumentativ insofern im Vorteil, als sie ihre Position auf die Gesamtlogik der Reform stützen können, die als Preis für die reduzierten Mitwirkungsrechte im Bundesrat eine Rückverlagerung und Entflechtung der Gesetzgebungszuständigkeiten vorsieht. Warum davon ausgerechnet die Bildungspolitik ausgenommen bleiben sollte, ist in der Tat schwer einzusehen. Dennoch beleuchtet der Streit um die Kompetenzverteilung in diesem Politikfeld ein zentrales Problem der Reform. Was demokratietheoretisch nämlich unmittelbar eingängig ist – dass mit einer klaren Zuweisung der Kompetenzen an die eine oder andere Ebene auch eine klare Zurechenbarkeit politischer Verantwortung einhergeht –, kann unter funktionalen oder Effizienzgesichtspunkten handfeste Nachteile haben. Auch innerhalb der Politikfelder sind viele Materien und Probleme so beschaffen, dass deren Einzelaspekte mal einer zentralen und mal einer dezentralen Regelung bedürfen. Die differenzierte und zugleich flexible Kompetenzaufteilung, die das Grundgesetz durch die Institute der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung herbeigeführt hat, trägt dem Rechnung.

Warum Entflechtung Wunschdenken bleibt

Allein aus diesem Grunde wird eine Entflechtung in vielen Bereichen Wunschdenken bleiben, wie auch die vorliegenden Ergebnisse der Kommission deutlich machen. Nicht nur, dass die Gemeinschaftsaufgaben gemäß Artikel 91a und 91b des Grundgesetzes größtenteils beibehalten werden sollen. Auch die Stärkung der Bundeskompetenzen in der Kriminalitätsbekämpfung, der Verzicht des Bundes auf die Regelung der Verwaltungsverfahren und die für einen Teil der konkurrierenden Befugnisse verabredeten Zugriffsrechte der Länder würden in der Konsequenz eine nochmalige Verflechtung bewirken. Die Weigerung des Bundes, sich aus der Bildungspolitik vollständig zurückzuziehen, lässt sich vor diesem Hintergrund durchaus nachvollziehen. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Zentralisierung der dortigen Zuständigkeiten auch sachlich geboten ist und – falls ja – zwingend vom Bund wahrgenommen werden müsste.

Noch steht die zentralistische Koalition

Gibt es in diesem Punkt keine Bewegung, dann wird die Einigung auf ein Gesamtpaket noch in diesem Jahr nur schwer erreichbar sein. Ein Ausweg ließe sich allenfalls dann finden, wenn der Bund den Ländern auf anderen Gebieten zusätzliche Kompetenzen einräumen würde. Dazu müsste er sich freilich in Gebiete vorwagen, die von den Ländern selbst zum Tabu erklärt worden sind, etwa die Regelungshoheit über die ihnen zufließenden Steuern (Vermögenssteuer, Erbschafts- und Schenkungssteuer, Grunderwerbssteuer), die nach dem bisher Vereinbarten weiterhin ausschließlich beim Bund liegen soll. Da eine Steuerautonomie auch in anderen Bereichen der Finanzverfassung (besonders beim Finanzausgleich) Änderungen nach sich ziehen würde, wollte sich die Mehrheit der Länder auf einen so radikalen Reformschritt nicht einlassen.

Selbst die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben erschien den meisten von ihnen als ein zu hohes finanzielles Risiko. Mit einer wettbewerbsföderalen Umgestaltung des Systems einverstanden erklärt hätten sich allein die großen, finanzstarken Vertreter wie Bayern, Baden-Württemberg oder Hessen, die gegen die übermächtige Phalanx von Bund und finanzschwachen Ländern jedoch wenig ausrichten können. Dem Bund kommt also auch hier eine Schlüsselrolle zu: Würde er aus der „zentralistischen Koalition“ ausscheren und die großen Länder in ihrem Streben nach zusätzlicher Gestaltungsfreiheit unterstützen, dann bräuchten diese nicht so vehement auf ihr vermeintliches „Hausgut“ in der Bildungspolitik zu pochen. Für ein solches Umdenken gibt es zurzeit allerdings wenig Anzeichen.

Die Virulenz des Konflikts zwischen starken und schwachen Ländern lässt sich daran ablesen, dass in Ostdeutschland selbst FDP-Politiker unverhohlen für einen Stärkung der Bundeskompetenzen (etwa in der Bildungspolitik) eintreten. Kommentatoren wie Stefan Dietrich von der Frankfurter Allgemeinen haben daraus resignierend den Schluss gezogen, dass man der Übermacht nachgeben und das Heil der Reform nun in der anderen Richtung suchen müsse: in einer noch konsequenteren Zentralisierung. Es liegt freilich im Wesen der Politikverflechtungsfalle, dass auch dieser Ausweg versperrt ist. So wie der Bund eine Reduktion der Zustimmungsrechte des Bundesrates nur erreichen kann, wenn er den Ländern eine größere Autonomie bei der Gesetzesdurchführung einräumt, so ist er auch bei der Stärkung beziehungsweise Aufrechterhaltung seiner Kompetenzen in der Kriminalitätsbekämpfung und Bildungspolitik auf deren Einverständnis angewiesen.

Es bleibt ein Zeitfenster von 15 Monaten

Zu einer verfassungsrechtlichen Neuordnung der föderalen Beziehungen gibt es deshalb keine Alternative, wenn die Regierungsfähigkeit des Landes verbessert und das System gleichzeitig demokratischer gestaltet werden soll. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es keines Konvents nach europäischem Vorbild, da die Grundlinien der Reform im Wesentlichen feststehen. Das von der Föderalismuskommission vorgelegte Paket müsste nur an wenigen Stellen aufgeschnürt und ergänzt werden. Den politischen Akteuren verbleibt dazu ein Zeitfenster von etwa 15 Monaten. Haben sie es bis dahin nicht geschafft, dürfte die Chance einer Reform auf Jahre hinaus vertan sein.

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