In der Tradition von Freiheit und Gerechtigkeit

Die sozialdemokratischen Kernanliegen in schwieriger Zeit wieder in ihr Recht zu setzen - genau das ist das Ziel der "Agenda 2010". Warum die Sozialdemokratie im 140. Jahr ihres Bestehens erneut Verantwortung für Deutschland übernehmen muss

Im September 2002 ist der SPD ein historischer Sieg gelungen. Wir haben es erstmals geschafft, zwei Bundestagswahlen hintereinander als stärkste Fraktion zu gewinnen. Die Wählerinnen und Wähler haben uns aber nicht ihr Vertrauen ausgesprochen, damit alles so bleibt, wie es ist. Sie haben vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass sie es uns zutrauen, die Dinge so zu ändern, dass unsere Grundwerte der Freiheit, der Solidarität und der Gerechtigkeit in einem modernen Sozialstaat erhalten bleiben. Sie haben uns den Auftrag gegeben, Verantwortung zu übernehmen. Wir Sozialdemokraten haben es nun in der Hand, wie gut wir dieser Verantwortung nachkommen.


Das Deutschland des Jahres 2003 steht vor Veränderungen enormen Ausmaßes. Der Krieg im Irak belastet weltweit die ohnehin labile Konjunktur. Die wirtschaftliche Krise wirkt sich auch auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme in unserem Land aus. Doch die Wachstumsschwäche, mit der wir heute zu kämpfen haben, ist auch auf strukturelle Ursachen zurückzuführen. In den vergangenen Jahren haben wir durch unsere Reformen in der Rentenversicherung und auf dem Arbeitsmarkt wichtige Veränderungen vorgenommen. Dennoch bedarf es weiterer Reformen, damit unser Sozialstaat auch in Zukunft in seiner Substanz erhalten bleibt.


Der akute Handlungsbedarf lässt sich schon an den Zahlen ablesen: Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer großen Belastung geworden ist und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaffen. Zwar ist es uns gelungen, die Lohnnebenkosten seit 1998 leicht zu senken, aber zwischen 1982 und 1998 sind sie von 34 auf fast 42 Prozent angestiegen. Zur Zeit sind mehr als 4,7 Millionen arbeitslos gemeldete Menschen und fast eine Million offene Stellen zu verzeichnen. Die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft führt dazu, dass immer weniger Arbeitnehmer die Renten für immer mehr aus dem aktiven Erwerbsleben Ausgeschiedene erwirtschaften müssen. Die Wirtschaft stellt - trotz unserer umfangreichen Programme - zu wenige Ausbildungsplätze für die Jugend zur Verfügung. Durch unsere Haushaltskonsolidierung ist die Neuverschuldung deutlich gesunken. Aber angesichts einer über die 16 Jahre zuvor aufgewachsenen, bedrohlichen Staatsverschuldung und der gestiegenen Kosten unserer Solidarsysteme werden die Handlungsspielräume, in Zukunft zu investieren, bedrückend eng.

Das Weiter-so bietet keine Perspektive mehr

Wir haben die Ausgaben für Bildung und Forschung seit 1998 deutlich erhöht. Aber bald könnte es an ausreichenden Mitteln fehlen, Talente und Fähigkeiten vor allem der jungen Menschen hinreichend zu fördern - obwohl sie doch unser wichtigstes Zukunftskapital sind.


Die derzeitige weltwirtschaftliche Krise verdeutlicht nachdrücklich, wie tiefgreifend der Veränderungsbedarf ist. Gefragt sind jetzt mutiges Handeln und nachhaltige Reformen. Dabei sollten wir uns auch vor Augen führen, welche Chancen die gegenwärtige Situation bereit hält: Sie verbietet ein einfaches "Weiter-so" und ermöglicht es uns deshalb, gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft zu analysieren und unsere Solidarsysteme auf die sich rasch wandelnden Bedingungen einzustellen. Nur so werden wir es erreichen, dass unser Land eine gute Zukunft hat, in der jeder einzelne seine Begabungen und seine Kreativität entfalten und einbringen kann: für eine Gesellschaft, die an Wohlstand ebenso reich ist wie an Gemeinsinn.


Dabei müssen wir auch althergebrachte Handlungsmuster überdenken und unter Umständen verändern, selbst wenn dies zu teilweise schmerzhaften Folgen führen kann. Umso wichtiger ist es, dass unser Handeln nicht willkürlich ist, oder einfach nur Kostenargumenten gehorcht, sondern durch unsere sozialdemokratischen Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität definiert ist.


Diese Werte prägen nun seit 140 Jahren unsere Politik. Von Beginn an sind sie für uns Richtschnur und Ziel zugleich gewesen. Aber wir müssen zwei Dinge sorgfältig auseinanderhalten: Zum einen die Werte, die wir als Sozialdemokraten teilen und zum anderen die Instrumente, mit denen wir versuchen, diese Werte zu verwirklichen.

Die Mittel wandeln sich, die Ziele bleiben

Dabei gilt: Wir werden hinsichtlich der Prinzipien kompromisslos sein. Aber in Bezug auf die Instrumente, mit denen wir diese Prinzipien umsetzen, können und müssen wir sehr flexibel sein. Was früher einmal ein Mittel zur Gerechtigkeit gewesen ist, das muss heute nicht automatisch immer noch dafür tauglich sein. Und in Zeiten, da sich die ökonomische und soziale Basis der Gesellschaft so drastisch und rapide verändert, sind die Strukturen, in denen wir soziale Gerechtigkeit organisieren, ständig auf ihre Realitätstauglichkeit und tatsächliche Effizienz hin zu überprüfen und entsprechend anzupassen. Die Globalisierung ist keine "Option", die wir annehmen oder ablehnen könnten. Sie bestimmt unser Leben und Wirtschaften bis in den Alltag hinein. Und Gerechtigkeit ist eben nicht nur als Interessenausgleich der heute aktiven Generationen zu definieren, sondern in zunehmendem Maße auch als Gerechtigkeit zwischen den Generationen.


Heute engagieren sich junge Menschen für eine friedlichere und gerechtere Weltordnung. Ihr Ziel ist es, dass Konflikte ohne Gewalt gelöst werden, und dass die Globalisierung die Welt nicht weiter in Gewinner und Verlierer teilt. Sie wollen mehr Chancen für alle, nachhaltige Entwicklung und eine politische Gestaltung der Globalisierung. Sie wollen, dass weder in der Wirtschaft noch in der Politik das Recht des Stärkeren herrscht. Und sie pochen auf ihr Recht auf Mitgestaltung und Teilhabe. Diese jungen Menschen sind unsere Hoffnung. Aber wie wollen wir ihnen erklären, dass die Sozialdemokratie ihre natürliche politische Heimat ist, wenn wir es nicht zugleich schaffen, für sie und mit ihnen gemeinsam den Sozialstaat der Zukunft zu bauen? Auch deswegen stehen wir vor der Aufgabe, der nachfolgenden Generation einen wirtschaftlich und sozial starken Staat zu übergeben, der Chancen eröffnet, die Fähigkeiten des Einzelnen fördert, aber auch dessen Verantwortungsbewusstsein einfordert.


Wieder einmal ist es heute an uns Sozialdemokraten, die Gesellschaft zu verändern. Die Alternative könnte deutlicher nicht sein: Entweder wir modernisieren unser Land, und zwar als eine soziale Marktwirtschaft. Oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, für die Freiheit immer nur die Freiheit von wenigen ist und die das Soziale beiseite drängen würden.

Für die "positive Entfaltung" der Menschen

Die SPD des Jahres 2003 bekennt sich zu den individuellen Freiheiten, auf deren Grundlage eine gerechte und solidarische Politik überhaupt erst möglich ist. Dies hat in der Arbeiterbewegung eine lange Tradition, wie schon das Arbeiterprogramm von 1862 zeigt, in dem es heißt: "Der Zweck des Staates ist der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche Bestimmung ... zum wirklichen Dasein zu gestalten, es ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit". Nur in Freiheit können sich Gerechtigkeit und Solidarität in einer Gesellschaft entfalten. Aber nur dort, wo Menschen sich gerecht behandelt fühlen, sind sie auch bereit, Gemeinschaften zu bilden. Und nur dort, wo Menschen einander helfen wollen, kann Gerechtigkeit entstehen.


Die sozialdemokratischen Kernanliegen wieder in ihr Recht zu setzen, dass ist das Ziel der Agenda 2010. Denn eine dramatische Wirtschaftslage zwingt uns dazu, neue Balancen zwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und steuerlicher Entlastung zu schaffen. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsquote sind die Voraussetzungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und für eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft.


Doch als Sozialdemokraten können wir es nicht dabei belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken. Sozialer Zusammenhalt in einer Gesellschaft, in der sich der Altersaufbau und die Art und Dauer der Arbeitsverhältnisse dramatisch verändern, wird sich nur in einem modernen Sozialstaat organisieren lassen. Diesem Zweck - der Schaffung eines modernen, den neuen Herausforderungen angemessenen Sozialstaats - dienen die Reformen, die wir jetzt auf den Weg bringen: im Gesundheitswesen, bei der Rente, bei Arbeitslosen- und Sozialhilfen. Wenn wir die Chance verpassen, heute zu handeln, dann haben die sozialen Sicherungssysteme keine Überlebenschance. Das können und werden wir Sozialdemokraten nicht zulassen.


Wir brauchen einen Staat, der die Bürger aktiviert und ihnen Chancen eröffnet. Wir brauchen aber auch einen Staat, der Gewährleistungsfunktionen übernimmt - und zwar, dies ist das entscheidende, nicht nur heute, sondern auch für die nachkommenden Generationen. Wer hingegen die Gewährleistungsfunktionen des Staates nur auf die hergebrachten Ansprüche der heute Aktiven bezieht, verkennt die historische Aufgabe der Sozialdemokratie. Das wäre eine ungerechte und unsoziale Politik, die in der Konsequenz zu Unfreiheit und Verantwortungslosigkeit führen würde.


Wenn wir heute den Mut zur Veränderung aufbringen, dann wird die deutsche Sozialdemokratie ihre Regierungsfähigkeit in Zeiten großer Herausforderungen beweisen. Die SPD wird nicht vor Einzel- oder Gruppeninteressen zurückweichen, sondern ihren gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch durchsetzen. Damit werden wir auch verhindern, dass sich statt einer von uns gestalteten Sozialen Marktwirtschaft ein neokonservatives Modell durchsetzt. Unser Ziel ist es, den Sozialstaat in seiner Substanz zu erhalten. Dies wird uns mit der Agenda 2010 gelingen.


Gerade weil für uns Sozialdemokraten Freiheit und Frieden, soziale Gerechtigkeit und Solidarität so wichtig sind, müssen wir unser Land entschieden modernisieren. Diese Verantwortung ist uns von den Menschen am 22. September 2002 anvertraut worden. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist unser Auftrag, damit wir heute die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle auch in Zukunft ihre Chancen in einer freien, solidarischen und gerechten Gesellschaft nutzen können.

zurück zur Ausgabe