Ihr seid nicht allein

Am 22. November wählen die Niederländer ihr neues Parlament. Die sozialdemokratische PvdA hat gute Chancen, den christdemokratischen CDA als stärkste Partei abzulösen. Hier erläutert der PvdA-Spitzenkandidat, für welche Prinzipien er als Premier stehen würde

Nichts darf sich ändern, wenn wir wollen, dass es besser wird“ – so lautet allzu oft das Motto der Alten Linken in Europa. So gut wie jede Reform wird dann als neoliberale Machenschaft abgelehnt, die nur zum Ziel habe, den Sozialstaat auszuhöhlen und die Arbeitnehmer um ihre Rechte zu bringen. Wer diese Position vertritt, verweigert sich jedoch einer einfachen Wahrheit: Die Herausforderungen, vor denen die europäischen Staaten heute stehen, sind so enorm, dass Reform und Wandel notwendig sind, wenn es uns darum geht, den sozialen Zusammenhalt zu stärken – nicht nur zwischen Armen und Reichen, sondern auch zwischen den Generationen sowie zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft.

Es wäre dumm, dies für eine im Grunde konservative Agenda zu halten. Sicherlich, in den meisten europäischen Ländern ist die Neue Rechte die wichtigste Triebkraft des Wandels, manchmal sogar des radikalen Wandels gewesen. Ich selbst habe diese Erfahrung gemacht. In Opposition zu einer konservativen Regierung stehend, die unentwegt Reform um Reform durchzieht, ist es ungemein verführerisch, die Wähler mit dem Programm „Bloß keine Veränderungen!“ bei Laune zu halten. Andere Sozialdemokraten stehen vor ähnlichen Dilemmata. Viele Progressive befinden sich daher in einer ziemlich defensiven Stimmung. Man muss nur die Art und Weise betrachten, in der die französischen Sozialisten auf der Welle der Proteste gegen Sozialstaatsreformen reiten; oder die hinhaltende Zusammenarbeit der deutschen Sozialdemokraten bei den Reforminitiativen der Großen Koalition; oder die dünne Basis für die gewaltigen Reformen, die in Italien unter der neuen Regierung Prodi notwendig sind.

In gewisser Weise jedoch macht die Neue Rechte denselben Fehler wie die Alte Linke, wenn auch unter einem genau umgekehrten Motto: „Alles muss sich ändern, wenn wir wollen, dass es besser wird.“ Das ist ein genauso schwerer Fehler, vor allem aus zwei Gründen: Erstens, indem hier die vor uns liegenden Herausforderungen – von der Einwanderung bis zur alternden Gesellschaft – so düster beschrieben werden, dass jeglicher Optimismus aus unseren Gesellschaften gesaugt wird. Das macht die Menschen weniger aufnahmebereit für Veränderungen und beschädigt die dringend nötigen Grundlagen des Vertrauens und des Optimismus, die wir nicht nur brauchen, um Reformen zu verwirklichen, sondern auch, um Unternehmergeist und Wachstum zu ermöglichen.

Wer sind unsere Verbündeten?

Zweitens: Indem sie verkündet, dass sich alles ändern müsse, schafft die Neue Rechte zusätzliche Verunsicherung in einer Zeit, in der die Leute ohnehin schon unsicher darüber sind, wie ihr Leben verlaufen wird. Sie sind sich angesichts der globalisierten Wirtschaft ihrer Jobs nicht sicher. Sie sind sich angesichts einer immer differenzierteren, immer multiethnischeren Gesellschaft ihrer Identität nicht sicher. Sie sind sich nicht sicher über die genaue Beschaffenheit der terroristischen Bedrohung – und auch nicht darüber, wie sich die Gesellschaft verändern wird, wenn wir versuchen, diese Bedrohung zu bekämpfen. Sie sind nicht sicher, was auch in Zukunft noch vom Staat garantiert werden wird und was sie selbst werden leisten müssen. Vor all diesen Unsicherheiten stehend wissen sie nicht, wer ihre Verbündeten sind und fragen sich, wer sich für sie einsetzen wird.

Genau hier liegt der Unterschied zwischen progressiver Politik und konservativer Politik für die kommenden Jahrzehnte. Werden wir den Leuten sagen: „Die Welt ist im Wandel, Ihr seid auf Euch selbst gestellt, macht was draus“? Oder werden wir sagen: „Wir wollen, dass Ihr wisst, Ihr seid nicht allein; wir glauben daran, dass wir gemeinsam stärker sind; wir können den Wandel der Welt nicht zurückdrehen, aber wir können zusammen versuchen, neue Wege zu entwickeln, damit Ihr Euer Leben in die Hand nehmen könnt“?

Zusammenhalt ist nicht altmodisch

Die liberalkonservative Agenda betont die individuelle Verantwortung, ignoriert die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts und fordert einen kleineren öffentlichen Sektor. Damit vergrößert sie die ohnehin vorhandene Unsicherheit nur noch weiter. Die progressive Antwort auf diese Agenda sollte nicht ein Programm unter dem Motto „Keine Veränderungen!“ sein oder auf alten Arrangements beharren, die angesichts der alternden Gesellschaft, wachsender ethnischer Vielfalt und einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr passen. Stattdessen sollte diese progressive Antwort auf den folgenden Säulen ruhen:

Erstens: Wir sollten den sozialen Zusammenhalt wertschätzen. Wir sollten nicht den Fehler machen, den Ruf nach sozialem Zusammenhalt, nach kollektiven Arrangements und einer starken öffentlichen Sphäre für ein altmodisches Hobby der Alten Linken zu halten. Zusammenhalt ist nicht altmodisch. Und er sollte den Kern des modernen progressiven Denkens darüber bilden, wie wir die Verunsicherung der Menschen in einer Welt verringern, in der wir uns nicht mehr aller Dinge sicher sein können, derer wir uns einmal sicher waren. Zusammenhalt ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern eine essenzielle Voraussetzung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Eine nicht gespaltene Gesellschaft verursacht weniger Kosten der Konfliktlösung. Sie ermutigt alle ihre Mitglieder, die Initiative zu ergreifen und die soziale Leiter zu erklimmen. Und sie macht Gebrauch von allen verfügbaren Talenten. Dies setzt zugleich einen progressiven Begriff von nationaler Identität voraus, ehrgeizige Maßnahmen zur Integration von Neuankömmlingen in die Gesellschaft, den Kampf gegen physische und kulturelle Segregation, gegen Parallelgesellschaften, und es erfordert massive Investitionen in die Betreuung und frühe Bildung von Kindern.

Wachstum durch gute Sozialpolitik

Zweitens: Wir sollten soziale und wirtschaftliche Ziele zusammenführen. Besonders in den skandinavischen Ländern finden wir Beispiele dafür, dass gute Sozialpolitik das Wachstumspotenzial nicht beeinträchtigt, sondern vergrößert. Das erfordert harte Entscheidungen und grundlegende Politikwechsel. Das Problem vieler westlicher Wohlfahrtsstaaten liegt oft weitaus mehr in der Zusammensetzung ihrer öffentlichen Haushalte als in deren Umfang. Zum notwendigen Politikwechsel gehört ein öffentlicher Sektor, der Investitionen statt Einkommenstransfers betont. Und diese Investitionen sollten vor allem Kindern und ihren Müttern gelten, statt Männern in mittlerem Alter, die gerne früh in Rente gehen möchten. Die Neue Rechte geriert sich als Protagonistin großer Steuersenkungen; die Alte Linke war die Protagonistin hoher öffentlicher Ausgaben. Moderne Progressive sollten die einzige taugliche Agenda für sich in Anspruch nehmen: den Gewinn zu maximieren, den die Gesellschaft aus den Leistungen der Steuerzahler zieht.

Drittens: Wir sollten Flexibilität und Sicherheit miteinander vermählen. Ein flexibler Arbeitsmarkt wird oft als neoliberale Erfindung dargestellt, die die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu Lasten der Arbeitnehmerrechte vergrößern solle. Aber die Erfahrungen in mehreren Ländern zeigen, dass es unter bestimmten Bedingungen möglich ist, größere Flexibilität – die ohne Zweifel zu mehr Jobs führt – mit größerer Sicherheit zu kombinieren. Arbeitnehmerrechte werden nicht mehr durch lebenslange Arbeitsverträge garantiert, sondern dadurch, dass „zwischen Jobs“ zu sein nicht mehr bloß ein Euphemismus für (dauerhafte) Arbeitslosigkeit ist, sondern tatsächlich eine kurze Phase, während derer der Staat dem Arbeit suchenden ein Einkommensniveau nicht weit unterhalb seines letzten Gehalts gewährleistet. Unter diesen Bedingungen wird Flexibilität zu einem Instrument von Progressiven und nicht von Konservativen. Dies gilt besonders dann, wenn diese Flexibilität verbunden wird mit erhöhter Rentensicherheit, bezahlbarer Gesundheit und exzellenter Bildung für alle. In den Niederlanden versuchen wir dies mit einem Dreiparteienvertrag nach dem Muster dessen zu verwirklichen, was einst „Poldermodell“ genannt wurde. Dieser Vertrag würde vorsehen, dass die Arbeitnehmer größere Flexibilität einschließlich eines geringeren Kündigungsschutzes akzeptieren; dass sich die Arbeitgeber zu höheren Aufwendungen für die Weiterbildung (besonders älterer Mitarbeiter) verpflichten; und dass die Regierung effektivere Maßnahmen zur Wiedereingliederung zeitweilig Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt garantiert.

Die Sorgen der Menschen als Ausgangspunkt

Viertens: Wir brauchen eine neue europäische Agenda für Wachstum. Die Menschen überall in Europa wollen wissen, ob wir zur Modernisierung im Stande sind und ob unsere Lebensweise angesichts des ständig zunehmenden Wettbewerbs in der Welt aufrechterhalten werden kann. Auf diese Herausforderung stellt die Lissabon-Agenda eine unzureichende Antwort dar. Sie widmet sich zwar der Notwendigkeit des Wandels, sie geht jedoch nicht auf die Alltagssorgen ein, mit denen die Menschen der Frage gegenüberstehen, wie sich dieser Wandel auf das auswirken wird, was ihnen einmal sicher schien – was aber heute nicht mehr sicher ist. Eine neue Agenda muss daher „ideologischer“ sein im Hinblick auf die Notwendigkeit, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, den die Menschen als unbedingtes Charakteristikum des europäischen way of life ansehen. Diese neue Agenda muss auch „populistischer“ sein, indem sie die Sorgen der Menschen zu ihrem Ausgangspunkt macht. Und sie muss „realistischer“ sein im Hinblick auf ihre Ziele und darf nicht vorgaukeln, wir könnten oder sollten höheres Wachstum erzielen als Staaten wie Indien oder China. Und sie muss „qualitativer“ sein hinsichtlich ihres Ansatzes, Wachstum und Produktivität nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern als Instrumente zur Verbesserung der Lebenschancen von Menschen. Derzeit verbreitet sich der Eindruck, Politiker hätten nur Augen für die Interessen der multinationalen Unternehmen und ihrer Shareholder, nicht aber für die Interessen der vielen Millionen Menschen, die von ihrer eigenen Arbeitskraft und nicht von Kapitalerträgen leben. Wenn dieser Eindruck nicht beseitigt wird, werden die europäischen Staaten niemals genug Unterstützung für notwendigen Wandel erleben. Dann aber sind sie zu Stagnation und schließlich auch Niedergang verurteilt.

Fünftens schließlich: Wir sollten in die Zustimmung der Öffentlichkeit investieren. Gerade verunsicherte Menschen werden nicht automatisch die Reformen akzeptieren, die nötig sind, um unsere Wohlfahrtsstaaten zu bewahren. Das erfordert den Aufbau neuer Bündnisse mit modernisierten Gewerkschaften, die Dezentralisierung öffentlicher Dienstleistungen auf die lokale Ebene und die Einführung neuer Formen direkter und partizipativer Demokratie wie etwa Referenden. Nur dann werden Reformen Zustimmung finden. Und nur Reformen, denen die Menschen zustimmen, werden dauerhafte Wirkung entfalten.

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