Heimat in der Fremde

Was heute für die einen wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten erscheint, versuchen die anderen umso erbitterter vor Veränderung und Neuankömmlingen zu schützen

Heimat ist bekanntlich ein Begriff, den es nur im Deutschen gibt – ebenso wie Zeitgeist, Blitzkrieg oder Angst. Populär wurde er mit der Landflucht weiter Bevölkerungsteile während der Industriellen Revolution und dem Bedürfnis, sich in einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen der eigenen Wurzeln zu vergewissern. Der Begriff verhieß einen Flecken Erde, verschont vom gesellschaftlichen Modernisierungsdruck – und den Trost, den das Wissen um eine gemeinsame Abstammung, Sprache und Tradition versprach.

Schnee von gestern, könnte man denken, doch diese Vorstellungen von Heimat prägen uns auch heute noch. Immerhin: Schlägt man im Duden nach, steht dort geschrieben, dass Heimat das Land, der Landesteil oder der Ort sei, in dem man geboren und aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt. Entscheidend sei die enge emotionale Verbundenheit gegenüber einem bestimmten Ort oder einer Region. Das ist eine etwas zeitgemäßere Definition – und dennoch: Es bleibt ein Unbehagen. Sei es, weil man schon so oft umgezogen ist, dass man weder genau sagen kann, wo man herkommt, noch wo man hingeht. Sei es, weil meist jene den Begriff vor sich hertragen, die meinen, Heimat sei nur etwas für Eingeborene und nichts für Zuwanderer. Das Gefühl der Heimatlosigkeit auf der einen, die Angst vor Heimatverlust und Überfremdung auf der anderen Seite: zwei Extrempole einer Debatte, die deutlich machen, dass wir keine allgemeingültige Vorstellung mehr davon haben, was Heimat überhaupt bedeutet – und ob Heimat heute noch einen Wert für uns hat.

Eine typisch moderne Vorstellung

Auch wenn uns der Heimatbegriff alles andere als modern vorkommt, so ist die Idee, an einem Ort verwurzelt zu sein, doch eine typisch moderne Vorstellung. Diese konnte sich erst entwickeln, als der Einzelne nicht mehr an seinen Herkunftsort gebunden war. Zwei Prozesse sind es, die mit Beginn der Moderne zunächst zu einer Konjunktur des Konzepts beigetragen haben – und deren Zuspitzung in jüngster Zeit dazu führt, dass wir nicht mehr wissen, wovon eigentlich die Rede ist, wenn wir „Heimat“ sagen.

Erstens kommt es zu einer „Entbettung“ (Anthony Giddens) sozialer Beziehungen aus ihrem lokalen Kontext und einer sukzessiven Intensivierung weltweiter Beziehungen durch neue Transport- und Kommunikationsmittel. Die Folge: Nah und Fern, Vertrautes und Fremdes vermischen sich zunehmend. Zum einen, weil sich der verfügbare „Lebensraum“ des Einzelnen vergrößert. Zum anderen, weil Ereignisse in anderen Regionen und Ländern an Bedeutung gewinnen. Parallel dazu kommt es, zweitens, vor dem Hintergrund des inhärenten Wachstumszwangs der kapitalistischen Produktionsweise zu einer ungeheuren „Beschleunigung“ (Hartmut Rosa) des sozialen Wandels. Unter dem Druck der Veränderung werden tradierte Handlungsmuster und Erfahrungswerte zunehmend infrage gestellt.

Heimat besitzt, wer heimisch wird

Diese Veränderungen der raumzeitlichen Strukturen führen zu dem, was der Soziologe Anthony Giddens einmal als Verlust der „Seinsgewissheit“ beschrieben hat: das Vertrauen in die Kontinuität der eigenen Identität, das eine stabile und als sinnhaft empfundene Umwelt ermöglicht. Denn während in vormodernen Gesellschaften ein jeder seinen festen Platz in der Sozialordnung einnahm, löst sich im Zuge des Modernisierungsprozesses die Bindung an Herkunft, Tradition und Gemeinschaft. Nicht nur wer man ist, sondern auch wo man lebt, wird zunehmend zu einer Frage der Wahl – eine Entwicklung, die Verlust und Chance zugleich bedeutet: weil das Versprechen, unabhängig von der eigenen Herkunft seine Identität frei wählen zu können, den Einzelnen dazu herausfordert, einen eigenen Platz in der Welt zu finden. Heimat ist in diesem Sinne nichts, was man hat oder besitzen kann, sondern das Ergebnis eines gelungenen Heimischwerdens in der Welt, der tätigen Auseinandersetzung mit sich und seiner Umgebung. Dieser Herausforderung stellt sich der Einzelne, indem er das eigene Leben mittels eines selbst gewählten Lebensplanes gestaltet und sich nach und nach neue Umgebungen aneignet. So entstehen die Vorstellung einer linearen Zeit und die Idee eines konzentrischen Raumes, in dessen Mittelpunkt das eigene Zuhause steht. Die moderne Konstruktion einer Heimat ersetzt also gewissermaßen die mittelalterliche Bindung des Menschen an das von ihm zu bebauende Ackerland.

In unserer Spätmoderne gerät dieses konzentrisch-lineare Ideal von Heimat jedoch in die Krise, weil sich das Tempo des sozialen Wandels mit den digitalen und politischen Revolutionen seit dem Ende der achtziger Jahre noch einmal spürbar beschleunigt hat – so die Diagnose des Soziologen Hartmut Rosa. Die Folge: Weil die institutionellen Rahmenbedingungen, Handlungsmuster und Erfahrungswerte zunehmend instabiler werden, scheint nichts mehr von Dauer zu sein. Wer etwa heute mit Anfang 20 einen Beruf ergreift, wird kaum mehr sagen können, ob er ihn mit Mitte 30 noch ausüben wird – geschweige denn, ob er dann noch in der gleichen Stadt wohnen wird. Neue, flexible und spielerische Formen von Identitäten, die die Chance verheißen, sich immerzu neu zu erfinden, sind die Konsequenz. Gleichzeitig nimmt mit den permanent steigenden Anforderungen nach mehr Flexibilität und Mobilität die Anpassungsleistung zu, die auch jene zu erbringen haben, die nach wie vor am Ideal eines linearen Lebensplanes und -eines stabilen Zuhauses festhalten wollen. Für sie wird es unter -spätmodernen Bedingungen zunehmend unmöglich, das eigene Leben planend zu gestalten und sich stabil an einem Ort zu verankern.

Zugleich erreicht die Vermittlung von Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit mit der fortschreitenden Globalisierung eine neue Qualität: Um zu merken, dass sich das Globale auch im Lokalen abspielt, müssen wir nicht einmal mehr das Haus verlassen; das, was in anderen Teilen der Welt passiert, hat spürbare Auswirkungen auch in den entlegensten Winkeln hierzulande. Die Herausforderungen, vor denen ländliche Kommunen angesichts der Zuwanderung von Vertriebenen aus Bürgerkriegsländern wie Syrien stehen, zeigen dies deutlich.

Die Reaktionen auf die mit diesem Wandel verbundenen Unsicherheiten könnten unterschiedlicher nicht sein: Während die einen den „Progress“ in die weite Welt und die Mannigfaltigkeit der Optionen wählen, entscheiden sich die anderen für den „Regress“ (Bernhard Waldenfels) auf den vermeintlich vertrauten Heimatboden. Während die einen auf den gesellschaftlichen Wandlungsdruck mit einer bewussten Dezentrierung und Flexibilisierung ihrer Identität reagieren, versuchen die anderen, sich durch Rückzug in den vertrauten Nahraum den Anforderungen einer zunehmend komplexen und unübersichtlichen Welt zu entziehen. Heimat? Was für die einen wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten erscheint, wollen die anderen umso erbitterter vor dem Fremden schützen.

Wer sind wir und wo wollen wir hin?

Dabei handelt es sich um zwei extreme -Bewältigungsstrategien, die verdecken, dass das klassisch-moderne Ideal von Heimat nach wie vor virulent ist – und dass auch der Heimatbegriff den Gesetzen des Wandels unterliegt. In einer Welt, die sich permanent verändert, in der wir täglich auf Vertrautes wie Fremdes treffen, müssen wir daher neu bestimmen, was Heimat für uns bedeutet. Um sich den Begriff neu anzueignen, reicht es jedoch nicht, sich nur seiner Geschichte zu vergewissern. Wir müssen diese auch weiterspinnen: Das, was überholt ist, können wir getrost verwerfen, aber das, was uns bewahrenswert erscheint, sollten wir übernehmen. Dies bedeutet, eine Antwort auf die Frage zu finden, wer wir sind und wo wir hinwollen: Wie wollen wir in einer dynamischen Welt arbeiten, leben und uns auf Unbekanntes einlassen? Diese Frage muss jeder für sich und müssen wir als Gesellschaft beantworten.

Ein Gefühl der Verbundenheit mit der Welt

Heimat als ein Gefühl der Verbundenheit mit der Welt entsteht genau dann, wenn es uns gelingt, eine Antwort auf diese Frage zu finden – in der Gewissheit, dass wir sie stets aufs Neue stellen und beantworten müssen. Heimat ist also gerade nicht statisch, sondern das Ergebnis eines dialektischen Prozesses zwischen Vertrautheit und Fremdheit, zwischen bewährten Rezepten und Herausforderungen, die neue Antworten verlangen. Ein so verstandener Heimatbegriff grenzt sich dezidiert von der Vorstellung einer unbefleckten Heimat ab. Dies setzt jedoch voraus, „Heimat“ nicht als etwas natürlich Gegebenes zu begreifen, sondern den Prozess ihrer Konstruktion nachzuvollziehen. Die Idee einer ursprünglichen Heimat, die es von jeglichen fremden Einflüssen freizuhalten gilt, ist nichts anderes als die Reaktion auf einen nicht bearbeiteten gesellschaftlichen Wandel. Statt also die Idee der Heimat vorschnell zu verwerfen oder sie jenen zu überlassen, die den Begriff zu vereinnahmen drohen, sollten wir uns ihres Potenzials erneut vergewissern: Heimat als etwas, das Stabilität und Vertrautheit ebenso verspricht wie Offenheit gegenüber Fremdem und Neuem.

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