Gut versichert Dank Euro

Die Unterschiede zwischen den Euro-Volkswirtschaften gelten als Problem. Im Wahlkampf klingen die Mainstream-Parteien deshalb defensiv - gerade so, als sollten wir trotz Euro für die europäische Einigung sein. Tatsächlich aber ist gerade die Verschiedenheit der Euro-Länder von Vorteil. Denn in Wirklichkeit funktioniert die Währungsunion wie eine Versicherung

In der öffentlichen und akademischen Diskussion scheint es inzwischen Konsens zu sein, dass eine Währungsunion zwischen sehr unterschiedlichen Ländern nicht funktionieren kann. Die Parteien im Zentrum, von den Grünen bis zu den Christdemokraten, appellieren im Europa-Wahlkampf deshalb an die Wählerschaft, sich auf ein europäisches Gefühl des Zusammenhaltes zu besinnen und das Erreichte – vor allem Wohlstand in Frieden – nicht zu vergessen. Das ist auch nicht falsch. Aber es klingt ganz so, als sollten wir trotz des Euro für die europäische Einigung sein. Die gemeinsame Währung ist dann der Preis, den insbesondere wir Deutschen für alle europäischen Errungenschaften zahlen müssen, vor allem für offene Exportmärkte. Aus dieser Perspektive liegt die Frage nahe: Können wir Wohlstand in Frieden und europäischen Zusammenhalt nicht auch ohne die gemeinsame Währung haben?

Wer für die europäische Integration samt gemeinsamer Währung argumentieren will, muss deshalb zeigen, dass die Verschiedenheit der Mitglieder vorteilhaft für eine Wirtschafts- und Währungsunion ist. Würde sie nur funktionieren, wenn alle Länder sich einander angeglichen haben, wäre sie wirklich nicht zu retten.

Warum Unterschiede eine gute Sache sind

Warum also sind die Unterschiede eine gute Sache? Die Schlüsselworte lauten Versicherung und Risikodiversifizierung. Ein großer Pool von Versicherten, der sich aus Mitgliedern mit unterschiedlichen Risiken zusammensetzt, senkt die individuellen Risiken jedes Einzelnen. So zahlt jedes Mitglied eine geringere Versicherungsprämie, als es beiseite legen müsste, um selbst für den möglichen Schadensfall vorzusorgen. Je unterschiedlicher die Mitglieder, desto stärker ist der Gewinn der Diversifikation. Unterschiedlich meint hier in einem versicherungsrelevanten Sinn, dass die Risiken der Mitglieder negativ korreliert sind: Wenn mein Risiko hoch ist, ist das des anderen niedrig und umgekehrt. Deshalb ergibt es durchaus Sinn, Junge und Alte in einer Kranken- und Unfallversicherung zusammenzubringen. Junge haben ein geringeres Risiko als Alte, zu erkranken, sind aber stärker gefährdet, in einen Unfall verwickelt zu werden.

Der Euroraum als Sozialversicherung

Aber würden sich die Jungen nicht besserstellen, wenn nur sie in eine gemeinsame Krankenversicherung einträten? Und wäre eine Unfallversicherung ausschließlich für Senioren nicht die bessere Variante? Dieser Logik folgt, wer eine Währungsunion für den Norden und eine für den Süden Europas empfiehlt. Dann wären die Nordeuropäer nur mit denjenigen Staaten in einem Versicherungspool, die als ähnlich gelten und die mit einem geringeren Risiko behaftet sind, in ökonomische oder finanzielle Schwierigkeiten zu gelangen. In Wirklichkeit zeigt die Analogie zur Kranken- und Unfallversicherung, wie kurzsichtig die Argumentation ist.

Wir alle werden einmal alt, und wir alle waren einmal jung. Wer sich nur mit seinesgleichen versichert, kann allenfalls den reinen Zufall kompensieren – beispielsweise ein schwere Grippe zu bekommen oder einen Unfall zu haben, unabhängig vom Alter. Die negativ korrelierten Risiken – also dass Krankheiten und Unfälle in unterschiedlichen Altersgruppen unterschiedlich häufig auftreten – werden hingegen nicht systematisch genutzt. Jeweils für sich können die Gruppen der Jungen und der Alten im Grunde nur kollektiv sparen und dadurch für den Schadensfall vorsorgen. Die eine Variante gleicht einer Sozialversicherung, die einen großen Risikopool mit einem einheitlichen Beitragssatz bildet. Die andere Variante ähnelt einer Privatversicherung, die für jede Risikogruppe verschiedene Prämien einkalkuliert.

Der Euroraum gehört eher zum Typ Sozialversicherung, er gleicht einer Kranken- und Unfallversicherung für Junge und Alte zusammen. Versicherungsrelevante Unterscheidungen betreffen hier vor allem die Fragen, wie offen die jeweiligen Volkswirtschaften sind und wie hoch ihr Einkommensniveau im Vergleich zum Durchschnitt der Mitglieder ist. Die Offenheit macht die heimische Volkswirtschaft empfindlich für Währungsschwankungen. Auf- und Abwertungen sind das perfekt negativ korrelierte Risiko: Eine Abwertungskrise Italiens war immer auch eine Aufwertungskrise Deutschlands. Durch eine Währungsunion kann man dieses Risiko eliminieren. Auch wenn das nicht heißt, dass damit die Gefahr unterschiedlicher Inflationsdynamiken verschwindet.

Hohe oder niedrige Einkommensniveaus relativ zum Durchschnitt machen es mehr oder weniger wahrscheinlich, dass das Einkommenswachstum eines Landes unter oder über dem Durchschnitt liegt. In den Jahren vor der Eurokrise konnte man das gut beobachten. Die Länder mit unterdurchschnittlichem Einkommen – von Griechenland bis Spanien – wuchsen stärker als die stagnierenden Hocheinkommensländer. Allerdings war das nur ein Trend: Irland war bereits ein Hocheinkommensland und wuchs immer noch beträchtlich. Portugal hingegen war ein Niedrigeinkommensland, das stagnierte. Die Risikoteilung erfolgte in diesen Jahren vor allem über den Handel. Die Produktionskapazitäten in schnell wachsenden Ländern kommen an ihre Grenzen. Der Bedarf wird über steigende Importe gedeckt. Die Unternehmen in stagnierenden Ländern können profitabel exportieren, während sie ihre Produkte im Inland nur mithilfe von Diskontabschlägen und „Geiz ist geil“-Kampagnen los werden. Der von Währungsturbulenzen unbeschwerte Handel zwischen den Mitgliedsländern hat in jenen Jahren innerhalb der Union zu einer Einkommenskonvergenz geführt.

Als Spanien unseren Arbeitsmarkt stabilisierte

Die Kehrseite jeder Versicherung ist die gegenseitige Abhängigkeit. Nehmen Motorradunfälle oder alkoholbedingte Alterskrankheiten zu, sind durch steigende Versicherungsprämien auch diejenigen Mitglieder der Versicherung betroffen, die nur öffentliche Verkehrsmittel benutzen und abstinent leben. Umgekehrt gilt: Geht es den Menschen im Versicherungspool besser, können die Beiträge gesenkt werden. Das hohe Wachstum in Spanien und Griechenland hat die Beschäftigung und die Nachfrage nach Produkten aus Deutschland stabilisiert.

Eine Versicherung beseitigt die zugrundeliegenden Risiken nicht, sie macht sie nur tragbarer. Auch die Versicherung der Währungsunion hat die zugrundeliegenden Risiken von Offenheit und von Reife (beziehungsweise nachholender Entwicklung) nicht abgeschafft. Die Kehrseite der positiven Entwicklung war, dass die Offenheit und Einkommenskonvergenz mit steigender Verschuldung einherging. Das war kein unvorhergesehenes Ereignis, vielmehr war die Finanzmarktintegration eine gewünschte Folge der Währungsunion, nur stellt sich das in ökonomischen Modellen immer reibungsloser dar, als es in der Praxis tatsächlich ist.

Eine Überhitzung der Volkswirtschaften mit hohem Wachstum führt zu einer hohen Kreditaufnahme, weil die Einkommenserwartungen optimistisch sind, Hauspreisblasen entstehen und viele Unternehmen gegründet werden. Sie alle haben nur Bestand, wenn die Expansion weiterläuft. In den exportstarken Ländern mit stagnierendem Binnenmarkt gibt man der Bevölkerung einstweilen zu verstehen, dass nur so die Beschäftigung aufrecht zu erhalten sei und ein steigender öffentlicher wie privater Konsum die Lage am Arbeitsmarkt gefährden könne. Das geschieht zulasten der betrieblichen Innovation und des Lebensstandards, auch wenn der Kapitalstock der Unternehmen wächst und die Einkommen der höheren Angestellten steigen.

Als dann die internationale Finanzkrise durch Rezession und Bankenrettung in eine europäische Staatsschuldenkrise überging, taten die glücklich Davongekommenen so, als hätten die südeuropäischen Länder die Krise mutwillig herbeigeführt. Aber Staaten sind keine einheitlichen Akteure. Um im Bild zu bleiben: Auch die Gruppen der „Jungen“ und der „Alten“ sind nicht homogen, nur weil mehr junge Menschen Motorrad fahren und ältere Bier- und Weintrinker eher alkoholbedingte Krankheiten bekommen. Natürlich hat jeder die Wahl, Motorrad zu fahren oder Alkohol zu trinken – oder eben nicht. Es sind individuelle Entscheidungen zum eigenen Wohle, die übrigens auch nicht deshalb getroffen werden, um anderen zu schaden.

Sicher leben ohne Euro? Wohl eher nicht

Genau so werden die südeuropäischen Länder jetzt aber behandelt. Natürlich waren sie anfälliger für die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise und haben möglicherweise auch nicht alles getan, um ihre Ungleichgewichte in den Griff zu bekommen. Aber das gilt für alle Euromitglieder gleichermaßen. Und wo kein Kredit gegeben wird, da gibt es auch keine Schulden. In Deutschland behaupten Finanzminister Wolfgang Schäuble und manche willfährigen Nationlökonomen aber noch immer, dass die Leistungsbilanzdefizite in Südeuropa zu schweren Ungleichgewichten führen, während die Leistungsbilanzüberschüsse des Nordens gesundes Wirtschaften bedeuten.

Das Problem ist, dass man in den Vertrag zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion allerhand Ausschlussklauseln geschrieben hat, aus Angst vor Versicherungsmissbrauch. Diese Klauseln lassen das Versicherungsarrangement genau dann nicht zum Zuge kommen, wenn es am dringendsten gebraucht wird – also dann, wenn sich eine Regierung im Zuge einer Rezession und Bankenkrise hoch verschuldet hat, was nicht zuletzt der Stabilisierung des Euroraumes dienen kann.

Wenn Länder teilweise willkürlich von den Bondmärkten abgestraft werden, verweigert man ihnen den Beistand so lange, bis die Währungsunion selbst in die Bredouille kommt. Denn sie sollen ja nicht in die Versuchung geraten, dasselbe noch einmal zu tun. Als gäbe es da ein Individuum mit Erinnerungsvermögen, dem man eine Lehre erteilen könnte. Tatsächlich ist diese Euro-spezifische Eskalation der Krise selbstverschuldet, und zwar durch zu wenige, und nicht durch zu viele Versicherungsinstrumente.

Deshalb lautet die Antwort auf die Frage der skeptischen Wähler, ob man Wohlstand in Frieden nicht auch ohne den Euro haben kann: vielleicht. Gewiss kann man ein langes, glückliches Leben führen, wenn man nicht gut versichert ist. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering. Und deshalb sind die meisten Menschen bereit, für ihre Sicherheit eine Versicherungsprämie zu zahlen. Man verzichtet dauerhaft auf ein wenig Einkommen, um gegen mögliche größere Einkommensverluste gewappnet zu sein. Klar ist: Eine demografisch alternde, reife Volkswirtschaft wie Deutschland tut gut daran, ihren Wohlstand durch eine funktionierende, gemeinsame Währung zu versichern.

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