Gut gemeint und doch zu wenig

Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nennt viele Maßnahmen, mit denen die Armut in Deutschland bekämpft wird. Dennoch nimmt das Verarmungsrisiko zu, solange es nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit drastisch zu verringern

Es ist das Verdienst der rot-grünen Koalition, in ihrer ersten Koalitionsvereinbarung die Vorlage eines “Armuts- und Reichtumsberichts” vorzusehen. Dies stand 1998 in starkem Kontrast zur Haltung der Vorgänger-Koalition, die sich den seit Ende der siebziger Jahre laufenden Armutsprogrammen und -berichten der Europäischen Gemeinschaft häufig widersetzt hatte. Damit schuf die rot-grüne Koalition zugleich die Voraussetzungen dafür, die in die Verträge von Amsterdam und Nizza aufgenommenen sozialpolitischen Ziele – unter anderen die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung – auf der Basis empirisch gesicherter Kenntnisse anzustreben. Seit Einführung der so genannten Offenen Methode der Koordinierung für das Gebiet der sozialen Ausgrenzung und der Verpflichtung der EU-Mitgliedsländer, alle zwei Jahre einen “Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung” vorzulegen, macht die Europäische Union auch Vorgaben für die statistische Ermittlung vergleichbarer Ergebnisse über Einkommensarmut und Einkommensverteilung. Damit wurde der Bundesregierung die Entscheidung für eine eindeutige Armutsgrenze abgenommen, die sie im Ersten Armuts- und Reichtumsbericht nicht treffen wollte.

Nun legt die Bundesregierung unter dem Obertitel “Lebenslagen in Deutschland” ihren zweiten Armuts- und Reichtumsbericht vor. Dieser – mit Anhängen – 450 Seiten umfassende Bericht bietet eine Fülle von Informationen. Auch werden manche Schwachstellen des ersten Armuts- und Reichtumsberichts beseitigt. Man spürt, dass in den beteiligten Ministerien allmählich Verständnis für eine Armutsberichterstattung aufkommt: Man blickt also nicht mehr nur auf Durchschnittswerte oder typische Fälle. Die Reichtumsberichterstattung ist mit Angaben über hohe Einkommen und Vermögen ebenfalls besser vertreten, wenn man sich auch nicht zu einer eindeutigen Definition von Reichtum entschließen konnte.

Wer arm ist und wer nicht

In der Europäischen Union wird die Armutsrisikoquote nunmehr als derjenige Bevölkerungsanteil definiert, der mit weniger als 60 Prozent des Medians des äquivalenzgewichteten Nettoeinkommens auskommen muss. Als Median wird dabei das Einkommen jener Person bezeichnet, die bei einer Anordnung aller Personen vom niedrigsten zum höchsten Einkommen genau in der Mitte liegt, also die Bevölkerung in zwei gleich große Hälften teilt. Um Personen in Haushalten unterschiedlicher Größe vergleichen zu können, muss man ihnen einen Teil des Haushaltsnettoeinkommens zuordnen. Dabei würde aber eine Division des Haushaltsnettoeinkommens durch die Zahl der Haushaltsmitglieder vernachlässigen, dass beim gemeinsamen Wirtschaften Einsparungen eintreten und dass Kinder einen geringeren Bedarf als Erwachsene haben. Daher wird ein gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen verwendet. Nach der von der EU vorgegebenen neueren OECD-Äquivalenzskala erhält dabei die erste Person im Haushalt das Gewicht von 1,0. Weitere Mitglieder, die 14 Jahre oder älter sind, erhalten Gewichte von 0,5 und jüngere Kinder Gewichte von 0,3. Beispielsweise errechnet sich für den Haushalt eines Paares mit zwei Kindern unter 14 Jahren ein Gesamtgewicht von 2,1. Mit diesem Gewicht wird das Haushaltsnettoeinkommen dividiert, um das jedem Haushaltsmitglied zuzuordnende Einkommen zu ermitteln.

Der Bericht zeigt, dass in Deutschland die Armutsrisikoquote von 1998 bis 2003 von 12,5 auf 13,1 Prozent angestiegen ist. Parallel zu der um die Jahrtausendwende gesunkenen und wieder gestiegenen Arbeitslosigkeit ging auch die Armutsrisikoquote zeitweise etwas zurück, stieg dann aber aufs Neue und umso stärker an. Eine gleich gerichtete Entwicklung zeigte sich auch bei der Quote der Sozialhilfeempfänger, die Ende 2003 ohne Asylbewerber 3,4 Prozent betrug. Noch bedeutsamer ist aber, dass seit Ende der siebziger Jahre ein steigender Trend – zuerst nur in den alten, ab 1991 dann auch in den neuen Bundesländern – zu beobachten war. 1978 betrug die Armutsrisikoquote in Westdeutschland 9,0 Prozent (ohne Ausländer), die Sozialhilfeempfängerquote aber nur 1,5 Prozent.

Zu der Diskrepanz zwischen den beiden Quoten tragen drei Faktoren bei, die für die Beurteilung der Armutsentwicklung bedeutsam sind: Erstens gibt es die so genannte verdeckte Armut, also Sozialhilfeberechtigte, die ihren Anspruch aus verschiedenen Gründen nicht geltend machen. In dem Bericht wird festgestellt, dass auf drei Sozialhilfeempfänger nochmals eine bis zwei Personen in verdeckter Armut kommen. Man kann demnach davon ausgehen, dass zurzeit 5 bis 6 Prozent der Bevölkerung zumindest zeitweise oder gar längerfristig an oder unter der Sozialhilfeschwelle leben müssen. Zweitens liegt die von der EU festgelegte Armutsrisikogrenze deutlich über der Sozialhilfeschwelle. Diese Schwelle stellt außerdem ein breites Band dar, da die Sozialhilfe neben den nahezu einheitlichen Regelsätzen auch (angemessene) Miet- und Heizkosten zahlt, die bekanntlich in Deutschland starke Unterschiede aufweisen. Drittens hat die Europäische Union eine Äquivalenzskala vorgeschrieben, die von den in Deutschland geltenden institutionellen Regelungen deutlich abweicht. Im Gegensatz hierzu gewichtet die ältere OECD-Skala, die den in der Sozialhilfe implizierten Gewichten näher kommt, weitere Haushaltsmitglieder mit 0,7 beziehungsweise 0,5. Damit erhält ein Paarhaushalt mit zwei jüngeren Kindern das Gesamtgewicht von 2,7. Bei gleichem Haushaltsnettoeinkommen ergibt die ältere OECD-Skala daher ein niedrigeres Personeneinkommen als die von der EU verwendete jüngere OECD-Skala. Mit zunehmender Haushaltsgröße nimmt dieser Unterschied noch zu.

Auf die Skala kommt es an

Beim Vergleich verschiedener Haushaltstypen sieht man, dass die Armutsrisikogrenze gemäß EU-Standard überall deutlich höher liegt als die durchschnittliche Sozialhilfeschwelle. Bei der mit der älteren OECD-Skala berechneten Armutsrisikogrenze ist der Unterschied viel geringer; bei Paaren mit drei Kindern verschwindet er sogar ganz.

Die Berechnung mit unterschiedlichen Äquivalenzskalen hat zwar auf die gesamte Armutsrisikoquote nur einen geringen Einfluss, aber sie wirkt sich stark auf die Zusammensetzung der Armutspopulation und auf die Quoten einzelner Teilgruppen aus. Tendenziell werden bei der von der EU vorgegebenen Skala ein zu hoher Anteil von Ein-Personen-Haushalten und zu geringe Anteile von Mehr-Personen-Haushalten mit Kindern als “arm” ausgewiesen. Beispielsweise liegt die Armutsrisikoquote der Ein-Personen-Haushalte bei der Berechnung mit der EU-Skala bei rund 22,8 Prozent, mit der älteren OECD-Skala aber nur bei 14,1 Prozent. Demgegenüber ergeben sich für Paar-Haushalte mit Kindern laut EU-Skala 11,6 Prozent, nach der älteren OECD-Skala jedoch 14,6 Prozent. Auch bei der Armutsrisikoquote der Kinder unter 16 Jahren wird diese Diskrepanz sichtbar: Nach EU-Skala sind es 15, nach älterer OECD-Skala 18,6 Prozent. Bei Alleinerziehenden sind die Armutsquoten mit 35 bis 36 Prozent aber ähnlich hoch.

Am oberen Ende hat sich wenig verändert

Wenn sich die Sozial- und Familienpolitik an den auf Basis des EU-Standards ermittelten Armutsrisikoquoten orientieren würde, dann müsste sie neben der besonders hohen Armut von Alleinerziehenden vor allem die Armut bei Alleinstehenden (überwiegend allein lebende Rentnerinnen sowie junge Erwachsene) bekämpfen. Orientierte sie sich jedoch an den mit der älteren OECD-Skala ermittelten Armutsrisikoquoten, dann müsste sie vor allem anstreben, die Lage von Paaren mit mehreren Kindern und von Alleinerziehenden zu verbessern. Aufgrund dieser deutlich unterschiedlichen politischen Konsequenzen hätte man erwartet, dass sich besonders der vom Familienministerium beigetragene Abschnitt “Lebenslagen von Familien und Kindern” des neuen Armuts- und Reichtumsberichts ausführlich mit diesem Problem auseinandersetzt. Dies geschieht jedoch nicht.

Am oberen Ende der Einkommensverteilung hat sich von 1998 bis 2003 kaum etwas verändert. Der Anteil der obersten 10 Prozent der Bevölkerung am gesamten Nettoäquivalenzeinkommen ist zwischen 1998 und 2003 von 21,5 auf 21,3 Prozent zurückgegangen. Innerhalb dieser obersten 10 Prozent gibt es aber nochmals starke Unterschiede. Gemäß Steuerstatistik betrug 1998 der Anteil des obersten einen Prozents 9,9 Prozent, also fast das Zehnfache seines Bevölkerungsanteils.

Wie der Bericht ebenfalls zeigt, hat das Durchschnittsvermögen je Haushalt (ohne Betriebsvermögen) von 1993 bis 2003 um ein Viertel auf 133.400 Euro zugenommen. Gleichzeitig ist aber auch der Anteil der überschuldeten Haushalte von etwa 5 auf 9 Prozent angestiegen. Allein dies deutet bereits an, dass das Vermögen noch viel ungleichmäßiger verteilt ist als das Einkommen. Der Anteil der unteren Hälfte aller Haushalte am Gesamtvermögen macht gerade einmal 4 Prozent aus. Dagegen gehören den obersten 10 Prozent aller Haushalte 46,8 Prozent des Gesamtvermögens.

Der Bericht nennt eine Vielzahl von Maßnahmen, mit denen direkt oder indirekt Armut bekämpft wurde. Diese Maßnahmen sind anerkennenswert. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass die Armut tendenziell angestiegen ist. Sie waren also nicht ausreichend. Der Hauptgrund für das Verarmungsrisiko der unteren Schicht ist weiterhin die anhaltende Massenarbeitslosigkeit. Wenn es nicht gelingt, bis zum nächsten, in vier Jahren fällig werdenden, Armuts- und Reichtumsbericht die Arbeitslosigkeit drastisch zu verringern, wird die Armutsrisikoquote gemäß EU-Standard weiter ansteigen. Auch der Abstand der Armen von der Armutsrisikogrenze, die so genannte Armutslücke, wird noch zunehmen.

Für diese Befürchtung lassen sich zwei Gründe anführen: Erstens sinken durch die Hartz-Reformen alle Empfänger von Arbeitslosengeld II mit ihren Familien unter die Armutsrisikogrenze ab, während bisher ein Teil darüber lag. Auch der anrechnungsfreie Zuverdienst wird sie davor nicht bewahren. Zweitens werden die Mindestleistungen in Form der verbleibenden Sozialhilfe, der bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsunfähigkeit und des Arbeitslosengeldes II einschließlich des Sozialgeldes in den nächsten Jahren nur noch entsprechend der Steigerung der Renten angepasst. Die Rentensteigerungen bleiben aber gemäß dem mit der Rentenreform festgelegten Anpassungsverfahren systematisch hinter der Nettolohnsteigerung zurück. Zwar ist vorgesehen, alle fünf Jahre eine Überprüfung der Regelsätze anhand der Verbrauchsgewohnheiten der unteren Einkommensschicht (oberhalb der Sozialhilfeschwelle) vorzunehmen, um auch weiterhin die gesellschaftliche Teilhabe der Mindestleistungsbezieher zu ermöglichen, aber die bisherigen Erfahrungen mit derartigen Überprüfungen – dokumentiert in der Broschüre Zum Leben zu wenig... des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – berechtigen zu großer Skepsis. Jedenfalls fordern die großen Wohlfahrtsverbände, die mit den Problemen der Betroffenen hautnah in Berührung kommen, immer wieder eine deutliche Anhebung der Mindestleistungen. Dadurch würden die deutschen Mindestleistungen auch der Armutsrisikogrenze der Europäischen Union ein Stück näher kommen.

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