Große Idee Gleichheit

Freiheitliche Demokratie setzt voraus, dass sich die Menschen in ihrer Eigenschaft als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen.

Freiheitliche Demokratie setzt voraus, dass sich die Menschen in ihrer Eigenschaft als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen. Zwar mögen manche von ihnen mehr haben und andere weniger, doch als Bürger sind sie einander gleichrangig. Das ist die Idee. Nur wo diese Idee von hinreichend vielen Bürgern als prinzipiell verwirklicht angesehen wird, erfährt die Demokratie dauerhaft die Zustimmung, von der sie lebt. Schwierig wird es, wo die Leute den Anspruch der staatsbürgerlichen Augenhöhe verinnerlicht haben, aber an diesem gemessen die Wirklichkeit als enttäuschend erleben. Das kann eintreten, wenn die Unterschiede von Besitz, Lebens- und Verwirklichungschancen innerhalb einer Gesellschaft als so überwältigend empfunden werden, dass immer mehr Menschen die Geschichte von ihrer staatsbürgerlichen Gleichheit nur noch als Bluff ansehen. Wo dies geschieht, gerät die Demokratie selbst in ihrem Innersten in Gefahr. Außer der Glaubwürdigkeit, die daraus erwächst, dass sie ihrem eigenen Anspruch genügt, besitzt sie kein Immunsystem.

So gesehen steht es heute gar nicht gut um die Demokratie in Deutschland (und in etlichen anderen europäischen Staaten). Zwar wird sich niemals ein für allemal bestimmen lassen, wo der tipping point liegt, an dem Unzufriedenheit mit der Demokratie in erdrutschartige Abwendung umschlägt. Aber es ist auch nicht besonders empfehlenswert, in dieser Frage die Grenzen auszutesten, so wie es die schwarz-gelbe Bundesregierung mit ihrem geradezu grotesk unausgewogenen „Sparpaket“ gerade erst wieder unternommen hat – der Schaden könnte sich irgendwann als irreparabel erweisen.

Wer so argumentiert, der bekam bislang regelmäßig zu hören: „Aber soziale Unterschiede spornen nun einmal an und wirken produktiv.“ Die normativ oder demokratiepolitisch begründete Idee größerer Gleichheit von Besitz und Lebenschancen wurde als untauglich für das wirkliche Leben verworfen. Wer sie trotzdem hochhielt, galt als als ökonomischer Analphabet oder verträumter „Weltverbesserer“.  

Das ist ab sofort vorbei, denn die Argumente der Ungleichheitsapologeten sind allesamt widerlegt. In ihrer bahnbrechenden Studie The Spirit Level haben die Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett nüchtern, minutiös und umfassend nachgewiesen, dass in jeder nur erdenklichen Hinsicht egalitäre Gesellschaften die besseren, glücklicheren, lebens- und überlebenstüchtigeren Gesellschaften sind. „Moderne Gesellschaften werden zunehmend darauf angewiesen sein, kreative, anpassungsfähige, erfinderische, gut informierte und flexible Gemeinwesen zu sein“, schreiben die Autoren, „also Gemeinwesen, die mit neuen Herausforderungen offen umgehen, wo immer diese auftauchen. Das aber sind nicht die Eigenschaften von Gesellschaften, in denen man andächtig auf die Reichen starrt und wo die Menschen vom Statusstress zerfressen werden, sondern das sind die Eigenschaften von Gesellschaften, in denen man gewohnt ist zusammenzuarbeiten und einander auf gleicher Augenhöhe zu respektieren.“

 Sozialdemokraten und andere Progressive suchen seit langer Zeit nach einer großen neuen, alles verbindenden Idee, die ihnen politisch neue Perspektiven eröffnet und zugleich in der Sache zukunftsweisend ist. Seit Wilkinson und Pickett ist klar: Der Egalitarismus ist solch eine „nächste große Idee“, ein game changer, der die Parameter der Politik grundstürzend verändern könnte. Mit dieser in ihrem Umfang erweiterten Sommerausgabe steigen wir in die neue Gleichheitsdebatte ein.    

Tobias Dürr, Chefredakteur

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