Größter Kämpfer für den "Standort Deutschland"

Wie bedeutend war Gerhard Schröder als deutscher Kanzler? Gregor Schöllgens monumentale Biografie versorgt die Debatte mit Details und Argumenten

Er sei „einer der wirkungsmächtigsten Kanzler, der wie kaum ein anderer die Bundesrepublik Deutschland tiefgreifend verändert“ habe. Es ist der 9. November 2005. Auf der letzten Kabinettssitzung der rot-grünen Koalition würdigt Innen-minister Otto Schily den scheidenden Regierungschef: Gerhard -Schröders Willensstärke, sein strategischer Weitblick, seine Unbeirrbarkeit, seine Entschluss- und Durchsetzungskraft, sein Charisma, sein reformerischer Mut hätten ihn dazu befähigt, Deutschland grundlegend zu erneuern und zu modernisieren. Sagte er „Charisma“? Ja, Schily verwandte dieses Synonym für Außeralltäglichkeit und schien sich damit eines Sakrilegs schuldig zu machen. Denn das adelnde Attribut „Charisma“ ist unter Sozialdemokraten seit Urzeiten für den unerreichbaren Willy Brandt reserviert. Selbst der hoch angesehene Helmut Schmidt musste sich stets mit der Unterscheidung begnügen, nicht euphorisch „geliebt“, sondern bloß „anerkannt und respektiert“ worden zu sein. Schilys Charakterisierung mag für die Schröder-Hasser in der SPD völlig abwegig sein. Eine kurze Betrachtung darüber lohnt sich dennoch.

So hat der Soziologe Wolfgang Lipp den Charisma-Begriff aus Max Webers Herrschaftstypologie durch eine Stigma-Theorie ergänzt. Danach gilt: Kein Charisma ohne Stigma. Unter Stigma wird dabei eine durch die Gesellschaft auferlegte „Schuldsignatur“ verstanden. Stigmatisierte sind demgemäß keineswegs nur Gebrandmarkte, denn das soziale Stigma, so Lipp, könne in charismatische Fähigkeiten umschlagen, nicht zufällig, sondern durch eine bestimmte Handlungsform: die Selbststigmatisierung, „die ostentative, nach außen gestellte Aufsichnahme sozialer Schuld“. Dabei verschafft sich soziales Randgeschehen zentrale Aufmerksamkeit.

Bei Willy Brandt setzte der Charismaschub mit der „Selbststigmatisierung“ ein, die er beim Kniefall in Warschau für sein Volk zelebrierte. In den rückständigen fünfziger und sechziger Jahren galten zudem seine vaterlose Herkunft und sein ehrbares Emigrationsschicksal als gesellschaftliche Stigmata. Ob Gerhard Schröder es zum Charismatiker hätte bringen können? Zumindest beherrschte er das Mittel der Selbststigmatisierung perfekt: Wenn es thematisch angebracht schien, setzte er es punktuell ein, indem er öffentlich an seine subproletarische Herkunft, das ärmliche Kriegerwitwenschicksal und Putzfrauendasein seiner Mutter erinnerte. Im zweiten TV-Duell mit Edmund Stoiber 2002 gelang dies so verblüffend, dass sich der Unionsrivale plötzlich genötigt sah, nachzuplappern, dass auch er aus kleinen Verhältnissen stamme.

Der in Erlangen lehrende Historiker Gregor Schöllgen weist in seiner über 1 000-seitigen Schröder-Biografie nach, dass die „wenig geordneten“ häuslichen Verhältnisse noch „abenteuerlicher“ waren, als sie bislang in der Pose der Selbststigmatisierung zum Ausdruck gekommen sind. So stieß der Autor bei seinen Nachforschungen in amtlichen Archiven auf bislang unbekannte Dokumente, wonach der Vater, Fritz Schröder, in den dreißiger Jahren ein kleinkrimineller Seriendieb war, der mehrfach wegen Notraubs im Knast saß. Mutter Erika heiratete ihren Schwiegervater, eine „abenteuerliche Konstellation“, was die Geschiedene aber nicht daran hindern sollte, für Gerd weiterhin eine gute Oma zu sein.

Zentrales Lebensmotiv: „Ich wollte raus da“

„Wer keine Grenzen kennt, den können diese nicht aufhalten. Kommen sie doch einmal in Sicht, versucht Schröder, sie an den Horizont zu verschieben. Ein Leben lang. Die großen Seefahrer hatten diese Perspektive, bis die Gestade in Sicht kamen, denen sie zustrebten. Aufsteiger haben diese Perspektive auch“, verortet Schöllgen Schröders Unbändigkeit. Sogar konservativen Betrachtern imponiert diese „phänomenale Karriere“. Adenauer- und Kohl-Biograf Hans-Peter Schwarz nennt Schröder eine „fast Bismarcksche Figur“: „ein herrlich ungebremster Machtpolitiker, wie sie in Deutschland eigentlich wenig kommen“.

„Ich wollte raus da“, ist sein zentrales Lebensmotiv. Und als er es schon relativ weit gebracht hat, vom Juso-Vorsitz über das Bundestagsmandat zur zukunftsträchtigen Oppositionsführerschaft im niedersächsischen Landtag Mitte der achtziger Jahre, lässt er nicht locker: „Du musst doch mal gucken, ob es nicht die ganze Grütze gibt und nicht nur einen Teller voll.“ Schöllgen konturiert scharf: „Schröder ist ein Machtmensch. Er sucht die Macht, er ist süchtig nach Macht.“ Wegen „individualistischer Aktionen immer wieder kritisiert“, habe er aus Fehlern gelernt, sei selten nachtragend gewesen, habe die Schuld nicht bei anderen gesucht, ein „Niederlagen-Verkrafter“, was gewiss für ihn spricht und ihn gänzlich von seinem Rivalen Oskar Lafontaine unterscheidet.

Wo vorübergehende Freunde ihm die charakterliche „Festigkeit“ absprechen, hält Schöllgen dagegen: „Dieser Gerhard Schröder ist ein starker Mann, und er kennt die Situation einer gegen alle nur zu gut.“ Zum Beispiel als die mächtige SPD Nordrhein-Westfalen zunächst ein Bollwerk gegen den übermütigen Hannoveraner errichtet, angeführt von „Bruder Johannes“ Rau, der „hinter der Fassade des guten Menschen trickst und foult, was das Zeug hält“. Für den Aufsteiger gilt: Viel Stallgeruch, wenig Seilschaften. „Warm geworden sind die beiden, Gerhard Schröder und die Partei, miteinander nie … Ohne die Flucht des Rivalen Oskar Lafontaine hätte er die Führung weder übernehmen müssen noch übernehmen wollen.“

„Koch und Kellner“ als Zerrüttungsprinzip

Schilys Charisma-Zuschreibung widerspricht vor allem -Schröders Projektverweigerung gegenüber Rot-Grün. „Kein Bruch und auch kein Aufbruch“, sondern nur eine „Zweck-ehe“ spielt er seinen Wahltriumph von 1998 unambitioniert herunter. Kein Charisma ohne Vision. Schröder ist der oberste Platzhirsch in der „Enkel“-SPD, der den Grünen unterschwellig zu verstehen gibt, ihre Existenz nur für einen historischen Betriebsunfall der Schmidt-Ära zu halten. Er besteht auf der Hackordnung von „Koch und Kellner“, die sich am Ende nicht als produktive Arbeitsteilung, sondern als Zerrüttungsprinzip erweisen sollte. Beim einsamen Neuwahl-Entschluss im Mai 2005 wird der Partner gar nicht erst gefragt. „Wenn Schröder nicht die Nerven verloren hätte“, sagte Joschka Fischer noch Jahre später, „dann hätte die Agenda 2010 uns die Macht nicht gekostet“.

Die Unterstellung, Gregor Schöllgen habe dem Privileg, in alle Dokumente und Archive einsehen zu dürfen, allzu wohlwollend Tribut gezollt, trifft zumindest für die Würdigung von Schröders außenpolitischer Entwicklung nicht zu. Frühere Positionen werden in alle Einzelteile zerlegt: Seine Einstellung zur Neutronenbombe sei „ein ziemlicher Unsinn“ gewesen, zum Nato-Doppelbeschluss habe er eine „sehr schwache Position“ bezogen und „politische Agitation reinsten Wassers“ betrieben. Schöllgen: „Tatsächlich war die Nachrüstung eben keine Strategie des amerikanischen Kapitals, die letzte sozialdemokratisch geführte Regierung in Westeuropa zu beseitigen“, wie Bundestagsneuling Schröder 1981 verschwörungstheoretisch unterstellt hatte. Auch seine Bundesrats-Trickserei an der Seite Lafontaines 1990, den Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion abzulehnen, sind für Schöllgen im Nachhinein kaum nachvollziehbar: „Kann man ernsthaft annehmen, mit einem derart dilettantischen und chaotischen Taktieren eine Mehrheit der Wähler auf seine Seite zu ziehen?“ Im Jahr 1992 lehnt Schröder noch entschlossen Bundeswehr-Einsätze ab, die über Blauhelm-Aktionen hinausgehen: „Kaum zu glauben, dass derselbe Mann nicht einmal sieben Jahre später den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten politisch zu verantworten hat – und das ohne ein Mandat der Vereinten Nationen.“

Doch Menschenrechtspolitik war nie Schröders Ding – er nennt Erich Honecker nach dessen Bonn-Visite im September 1987 einen „ehrenwerten Mann“, Wladimir Putin später einen „lupenreinen Demokraten“ und entwickelt Verständnis für die angeblich beleidigten Gefühle des chinesischen Volkes, wenn Politiker in Deutschland den Dalai Lama empfangen. In Peking strebt Schröder einen „seriösen, im gegenseitigen Respekt geführten Menschenrechtsdialog“ an: „Der Kanzler versteht, dass man die Gastgeber keinesfalls an den Pranger stellen darf … Fortan werden auch Listen mit Namen bedrängter Oppositioneller oder Künstler, für die sich die deutsche Seite verwendet, nur noch übergeben, nicht mehr erörtert.“

Berührungsängste kannte Schröder nie

Als Putin 2001 vor dem Deutschen Bundestag spricht, nutzt Schröder die nach dem 11. September angespannte Situation zu einer höchst „problematischen Konzession“, indem er den russischen Feldzug gegen das abtrünnige Tschetschenien „differenzierter“ bewertet wissen wollte – als begrüßenswerten Teil eines weltweiten Anti-Terror-Kampfes und als „innere Angelegenheit Russlands“. In dieser Zeit, als der mutige Entschluss reift, sich nicht am Irak-Krieg zu beteiligen, „telefoniert Gerhard Schröder immer wieder mit Wladimir Putin“. Doch keine Angst, die Geschichte muss nicht umgeschrieben werden; die Nichtbeteiligung an Bushs Strafaktion gegen Saddam Hussein bleibt Schröders Ruhmesblatt.

Schöllgens Werk beweist nachdrücklich, dass Schröder keine Berührungsängste kennt. Anders gesprochen: Er lässt keinen „Schurken“ aus und schlägt damit dem Kulturrelativismus in der SPD eine breite Schneise. So kann Schröder nicht nur mit Putin und den Chinesen gut, sondern auch mit Silvio Berlusco ni und Recep Tayyip Erdogan. Letzterer ist noch 2009 zu Schröders 65.Geburtstag in Hannover ein gern gesehener Gast. Auch mit George W. Bush versteht er sich trotz Irakkrieg gut. Selbst zwischen den neokonservativen Finasseur Jacques Chirac und ihn „passt bald kein Blatt mehr“, als die beiden, in enormen Haushaltsnöten steckend, augenzwinkernd übereinkommen, die Kriterien für die Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes „fortschrittlich“ zu interpretieren. Dem gegenüber stehen fast zerrüttete Verhältnisse mit Gleichgesinnten, wie das zum New-Labour-Premier Tony Blair.

Am Ende hadern alle in der SPD mit den Medien

„Gerhard Schröder kann mit den Medien“. Seine Nähe zum Spiegel, dem „Macho-Laden mit hypertrophem Selbstbewusstsein“, ist dem hohen Maß an Deutungshoheit und Macht des Magazins geschuldet. Der „Medienkanzler“ ist das Ergebnis aus „Talent und Instinkt, harter Arbeit und dem riskanten Experiment mit Versuch und Irrtum.“ Er sucht die Kameras, und die suchen ihn: „Er ist der Star der Zeitungen und Magazine.“ Denn die Medien wussten, was sie an ihm hatten: sein Mut zum Risiko, zum persönlichen Scheitern, seine Flucht nach vorn, mit einkalkulierend, dass ihn die eingeleiteten Reformen die Mehrheit und damit die Macht kosten konnten. Auf Warnungen aus der Partei, „allein mit den Medien kannst Du nicht regieren“, reagiert er abweisend. Doch nach dem Wahlsieg 2002 beginnt eine neue Etappe im Verhältnis Gerhard Schröders zu den Medien. Sie werden zu „erbitterten Gegnern“. Am Ende hadern alle in der SPD mit den Medien, Schröder, weil er sich von ihnen verlassen, ja verraten fühlt, und seine Gegner unter den Genossen, weil „der Unmut über die Agenda 2010 doch größer ist, als die Medien vermitteln“ (Klaus Staeck).

Schöllgen wirbt um Verständnis für Schröders „suboptimalen“ TV-Auftritt am Wahlabend des 18. September 2005. Es sei „der einsame Kampf des Aufsteigers an drei Fronten“ gewesen, an denen getrennt marschiert, aber vereint geschlagen worden sei – von der Opposition, den Medien, den Gewerkschaften und Teilen der eigenen Partei. Als Schröder bei der Präsentation von Schöllgens Buch zu seiner „testosteronen Explosion“ befragt wird, nimmt er von jeder Selbstkritik Abstand: „Ich möcht’s nicht missen.“ Am Ende seiner Kanzlerzeit war nur noch „Argwohn und Verbitterung, Hochmut und Abneigung“ vor allem gegenüber den Journalisten geblieben, die er in einer Art Verschwörung gegen sich wähnte.

Auf Schöllgens Präsentation treffen sich Schröder und Angela Merkel wieder. Beim Streit um die Castor-Transporte 1997 waren die beiden – er als niedersächsischer Ministerpräsident und sie als Bundesumweltministerin – erstmals aneinander geraten. Er hält sie damals „für inkompetent und reichlich naiv“, woraufhin sie sich schwört: „Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn irgendwann genauso in die Ecke stellen werde. Ich brauche dazu noch Zeit, aber eines Tages ist es so weit. Darauf freue ich mich schon.“ Heute besteht zu solchen Revanchegelüsten kein Anlass mehr. So gesteht die Machttaktikerin freimütig, dass sie Schröders Rückzug vom Parteivorsitz seinerzeit nicht verstanden habe. Hohen Respekt hat sie vor seinem politischen Mut und seinen Qualitäten als Wahlkämpfer. Als „pragmatisch“ und „ungemein situativ“ erfährt sie ihn, als instinktsicherer Taktiker sei er „fast unschlagbar“ gewesen.

Hingegen schmerzt es, wenn die Kanzlerin bei der Präsentation neben ihren Lobreden auf die Agenda 2010 auch auf „fundamentale Unterschiede in der Außenpolitik“ verweisen muss. Als Oppositionsführerin hatte sie sich vor dem Irak-Krieg mit einem Kurztrip in die Vereinigten Staaten noch ziemlich blamiert. Es sei unerhört gewesen, so Schöllgen, ausgerechnet vor einem amerikanischen Publikum kundzutun, dass Schröder nicht für alle Deutschen spreche, wo doch im Dezember 2002 laut Umfragen 71 Prozent der Bevölkerung (mit steigender Tendenz) gegen einen Kriegseinsatz der Deutschen im Irak-Krieg gewesen seien. Die Verhältnisse zwischen Merkel und Schröder haben sich seitdem mit Putins Krim-Annexion und Russlands hybridem Krieg in der Ostukraine seitenverkehrt. Heute ist es ihr Amtsvorgänger, der mit seinen Ratschlägen zur Sanktionspolitik der EU oder zur Teilnahme an Putins olympischer Eröffnungsfeier in Sotschi ähnlich danebenliegt wie damals Merkel mit ihrem überflüssigen Solidaritätsbesuch in den USA.

Gregor Schöllgens Mammutwerk über eine der „spektakulärsten politischen Karrieren der Bundesrepublik“ gipfelt in dem dramatischen Befund: Mit der Agenda 2010 und Hartz IV „verabschiedet der siebte Bundeskanzler sich und die Bürger des vereinten Deutschland von der Bundesrepublik Konrad Adenauers und Ludwig Erhards“. Ein Charismatiker wird man damit nicht, schließlich lehrt uns der Soziologe Max Weber, dass sich über technisch-ökonomische Sachrationalität kein Charisma ausbilden lässt. Aber es bleibt die Respektsbezeugung, dass sich kein Kanzler so konsequent wie Schröder für den Erhalt des „Standorts Deutschland“ engagiert habe. Und Richard von Weizsäcker urteilt nach Jahren, dass gemessen an den Leistungen in Schröders Kanzlerjahren nur Adenauer und Helmut Schmidt mithalten könnten.

Der Ex-Kanzler ist danach als Berater und Unternehmer häufiger unterwegs gewesen als während seiner siebenjährigen Regentschaft. Und als die Nord Stream AG für den Vorsitzenden seines Aktionärsausschusses dessen 70. Geburtstag 2014 im St. Petersburger Jussupow-Palast austrägt, geht das Bild mit der herzlichen Umarmung des weltweit geächteten Wladimir Putin um die Welt. Es wird einstweilen Schröders Ruf zerstören. Gegen das Argument, er habe als Kanzler der Firma Gazprom einen Auftrag gegeben, in deren Dienste er nur wenige Wochen nach der Amtsübergabe getreten sei, wendet Schöllgen jedoch ein, der dritte SPD-Kanzler habe gar nicht wissen können, dass er am 18. September 2005 die Wahl verlieren werde. Es sei also keine „Hintertür“ im Spiel gewesen.

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