Grau ist alle Theorie, die Wahrheit liegt in der Provinz

Sozialdemokraten neigen dazu, den ländlichen Raum wahlpolitisch zu vernachlässigen. Das ist keine gute Idee, denn gegen und ohne das Land kann in Deutschland keine Volkspartei erfolgreich sein. Nicht jeder Wahlkreis kann gewonnen werden, aber überall lässt sich mit Ideen und Einsatz Boden gut machen

Bei vielen Sozialdemokraten und gerade bei sozialdemokratischen Wahlkämpfern herrscht immer noch die Meinung vor, die SPD habe im ländlichen Raum kaum Chancen. Sie solle diese Gebiete deshalb lieber ohne viel – am Ende ja doch vergeblichen – Aufwand der CDU oder CSU überlassen. Die ländliche Bevölkerung sei zu konservativ, die Flächen seien zu groß und die Themen vor Ort zu christdemokratisch. Aber stimmt das eigentlich? Und wenn es einmal stimmte – stimmt es dann auch heute noch? Können diese Gegebenheiten nicht auch eine gute Voraussetzung für erfolgreiche sozialdemokratische Politik und gute Wahlergebnisse sein?

Entscheidende Stimmen aus Meschede

Klar ist: Die SPD besitzt ihre Hochburgen hauptsächlich in den Großstädten und Ballungsgebieten. Doch wenn sie langfristig eine Volkspartei bleiben will, in der sich die gesamte Breite der Gesellschaft widerspiegelt, dann darf der ländliche Raum nicht vernachlässigt werden. Hier muss man um jeden Prozentpunkt kämpfen. Und wenn die SPD im Jahr 2017 vielleicht nur mit einem hauchdünnen Vorsprung die Bundestagswahlen gewinnt, kommen die entscheidenden Stimmen womöglich gerade vom Land, sei es aus Meschede, Arzberg, Teterow oder Schorndorf.

Die Bedeutung des ländlichen Raumes lässt sich mit Zahlen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft belegen: Flächenmäßig macht der ländliche Raum 90 Prozent Deutschlands aus. Und mehr als die Hälfte der deutschen Wohnbevölkerung lebt in Dörfern, Gemeinden und Städten auf dem Land. Dieses Stimmenpotenzial zu unterschätzen hieße, Niederlagen zu programmieren. Dabei darf besonders die Sicht auf das große Ganze nicht aus den Augen verloren werden. Denn wenn Wahlkreise von vornherein als verloren angesehen werden, fehlen im schlimmsten Fall am Ende genau die Stimmen aus diesen Kreisen für den Sieg auf Landes- oder Bundesebene. Der Einsatz vor Ort lohnt sich, selbst wenn man die Ärmel oft doppelt hochkrempeln und weite Wege in Kauf nehmen muss. Entschädigt wird man unter anderem durch die attraktivsten Landschaften unserer Republik. Man lebt und arbeitet nämlich häufig dort, wo andere ihren Urlaub machen.

Nehmen wir den Hochsauerlandkreis in der Industrieregion Südwestfalen. An diesem Beispiel lassen sich die Herausforderungen und Chancen gut darstellen, die oft mit Wahlkreisen im ländlichen Raum verbunden sind. Aufgrund seiner lokalen Gegebenheiten und Probleme bietet das Sauerland eine gute Vergleichbarkeit zu anderen ländlichen Räumen.

Von Johannes Rau stammt der Satz: „Das Sauerland ist viel zu schön, um (für immer) schwarz zu sein.“ Der Ausspruch ist eine Liebeserklärung an die Region, zugleich aber auch ein Denkanstoß. Er motiviert nämlich dazu, politisch „tiefschwarze“ beziehungsweise urkonservative Räume nicht kampflos aufzugeben. Nicht von ungefähr warb die SPD im Jahr 2013 mit dem Slogan „Für mehr Rot im Sauerland!“.

Die SPD? Das sind evangelische Flüchtlinge

Mancher mag jetzt darauf verweisen, der Bundestagswahlkreis Sauerland befinde sich „seit Christi Geburt“ in den Händen der CDU. Darauf ist allerdings zu erwidern, dass es vor Jahren ebenfalls undenkbar war, dass Rathäuser und Wahlkreise in großen Ballungszentren eines Tages an die CDU gehen würden. Es gilt der Grundsatz: Steter Tropfen höhlt den Stein. Hieran haben im Sauerland viele mitgearbeitet. Franz Müntefering hat die sechziger Jahre einmal treffend auf den Punkt gebracht: „Bei uns im Sauerland war alles katholisch, da gab es in meiner Kindheit nur Zentrum und CDU. Eines Tages fand ich einen Zettel der SPD im Briefkasten und fragte meinen Vater, was das sei. Seine Antwort lautete: Das sind evangelische Flüchtlinge.“

Passend dazu schrieb eine heimische Tageszeitung bereits Ende der fünfziger Jahre, nachdem in Brilon ein SPD-Bürgermeister erstmals die Mehrheit des Rates bekam: „In Brilon, dieser Stadt im christlichen Sauerland, in Brilon, dessen Bürger in bekanntem Selbstbewusstsein stolz sind auf ihre christliche Vergangenheit, die sich des heiligen Petrus als Schutzpatrons ihrer Stadt rühmen und der Kirche treu verbunden sind, in diesem unseren Brilon wollen Männer das kommunalpolitische Geschehen bestimmen, die als Kinder sozialistischen Geistes im Gegensatz stehen zum christlichen Charakter unserer Stadt.“ Doch die Zeiten ändern sich. Seit 1999 regiert in Brilon SPD-Bürgermeister Franz Schrewe mit Ergebnissen deutlichen oberhalb von 50 Prozent.

Strukturell gesehen, ist das Sauerland durchaus vergleichbar mit anderen ländlichen Räumen, etwa in Bayern oder in Baden-Württemberg. Dabei variieren die Bevölkerungszahlen, die angesiedelte Industrie und die Einzugsgebiete. Sämtliche Aspekte sind aber unter den Vorzeichen des demografischen Wandels zu begreifen, und diese sind vielerorts identisch: Wir werden weniger, älter, bunter. Das ist auch gut so, geht aber in fast allen ländlichen Räumen mit großen Herausforderungen einher: alternde Bevölkerung, mehr Sterbefälle als Geburten, negativer Wanderungssaldo und ein sich dadurch verschärfender Fachkräftemangel, mangelhafte Infrastruktur sowie oftmals verbesserungswürdige Verkehrsanbindung per Straße und Schiene.

Das größte Problem ist sicherlich der Mangel an Fachkräften – nicht nur im verarbeitenden Gewerbe, sondern auch in der Pflege und in den Kindergärten. Dazu kommt der teils schon bestehende Ärztemangel, der die flächendeckende medizinische Versorgung gefährdet. Auch der Nachwuchs für ehrenamtliche Tätigkeiten, zum Beispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr und in den Vereinen, wird langsam weniger. Darüber hinaus schwinden in vielen Kommunen die Einnahmen, und es fällt ihnen zunehmend schwer, ihre bestehende Infrastruktur aufrecht zu erhalten.

Kurzum: Die Herausforderungen sind beträchtlich. Doch sie stellen andererseits auch eine Chance dar: die Chance, wirklich innovative neue Antworten zu entwickeln und die Verhältnisse intelligent zu gestalten. Dabei muss man das Rad gar nicht immer neu erfinden. Beispielsweise können die westdeutschen Bundesländer, wo es um die Bewältigung der demografischen Herausforderungen geht, einiges von den ostdeutschen lernen. Das Land Brandenburg etwa hat in diesem Zusammenhang viele vorbildliche Projekte initiiert, wie etwa die AGnES-Modellprojekte zur Verbesserung der ambulanten medizinischen Versorgung.

Doch was kann die Politik vor Ort eigentlich leisten? Der südwestfälische Bundestagsabgeordnete Willi Brase hat die Möglichkeiten in einem Positionspapier auf den Punkt gebracht: Eine Politik für ländliche Räume umfasst nicht nur die klassische Agrarpolitik der vergangenen Jahre. Sie muss vielmehr eine integrierte sektorenübergreifende Politik sein, die regionale Besonderheiten in ihrer Vielfalt beachtet. Eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Energie-, Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft ist sicherlich eine gute Grundlage, doch es bedarf auch einer vielfältigen Wirtschaftsstruktur mit zukunftsorientierter Industriepolitik, um ein verlässliches Arbeitsplatzangebot zu fördern. Es gilt dabei der Grundsatz: Je vielfältiger der Branchenmix, desto weniger anfällig ist die örtliche Wirtschaft für negative konjunkturelle, saisonale oder strukturelle Einflüsse. Hier muss auch der Tourismussektor einbezogen werden, weil landschaftliche und kulturelle Attraktivität Besucher von außen anzieht und damit eine wichtige Ressource für die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Räume ist.

Vereinsstrukturen bedeuten Heimat

Zu einer sektorenübergreifenden Politik gehören zudem die Initiativen zum Städtebau – hierzu zählen besonders die Programme „Kleinere Städte und Gemeinden“, „Ländliche Infrastruktur“ und „Soziale Stadt“ – sowie zum barrierefreien Wohnen, die für ländliche Räume genauso bedeutend und notwendig sind wie für Großstädte und Ballungszentren. Eine alternde Bevölkerung bedarf stets entsprechend angepasster Förderprogramme.

Wichtig ist bei alledem, dass die Vereinsstrukturen vor Ort als Heimat begriffen werden. Gerade in ländlichen Regionen machen sie viel mehr aus als bloße Brauchtumspflege. Vereine sind ein Wert an sich und leben davon, dass sich viele Bürger täglich aktiv einbringen und engagieren – sei es bei der Nachbarschaftshilfe, im Schützenverein, in der Feuerwehr, beim Sport oder beim Bürgerbus, der Lücken in den Verkehrsnetzen schließt und deshalb nicht mehr wegzudenken ist.

Welche Lösungsansätze auch gewählt werden, immer kommt es darauf an, Synergieeffekte wirksam zu nutzen. Beispielsweise hat das Förderprogramm „Regionale 2013“ der nordrhein-westfälischen Landesregierung im gesamten Raum Südwestfalen zu einem Prozess des Zusammenwachsens geführt. Die Kreise Olpe, Soest, Märkischer Kreis, Siegen-Wittgenstein und der Hochsauerlandkreis haben sich strukturpolitisch enger verzahnt. Hier schlägt inzwischen das industrielle Herz von Nordrhein-Westfalen mit über 140 hidden champions auf dem Weltmarkt und fast 50 Prozent der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe. Kurzum: Hier steht die Wiege des Mittelstandes im bevölkerungsreichsten Bundesland.

In einer aktuellen Studie der Universität Bochum mit dem Titel Zukunftsweisend: Chancen der Vernetzung zwischen Südwestfalen und dem Ruhrgebiet wird die Verzahnung mit dem östlichen Ruhrgebiet aufgearbeitet und dargestellt. Sie hebt vor allem hervor, dass sich das Ruhrgebiet infolge des Strukturwandels immer mehr zu einer Wissenschaftsregion entwickelt hat. Unabhängig davon haben sich mit den Fachhochschulen Südwestfalen und Hamm-Lippstadt auch in Südwestfalen spezialisierte Wissenschaftsstandorte herausgebildet, die die Wirtschaft der Region stärken. So kooperieren die beiden heimischen Fachhochschulen mit erfolgreichen Betrieben vor Ort. Aus solchen Kooperationen ergeben sich Win-win-Effekte für alle Beteiligten: Die Studierenden werden hervorragend und mit praktischem Bezug ausgebildet, die Betriebe wiederum können direkt von den Fachhochschulen dringend benötigte Fachkräfte anwerben, welche die jeweiligen Unternehmen oft schon aus dem Studium kennen.

Der wissensbasierte Strukturwandel ist also in vollem Gange und sollte auch bei der Wahlkampfplanung unbedingt berücksichtigt werden. Denn er wirft eine Reihe von politischen Fragen auf, die umgehend beantwortet werden müssen und oft die relevanten Themen vor Ort liefern: Da geht es etwa um die regionale Fachkräftesicherung, um die Frage der Schaffung einer leistungsfähigen Infrastruktur für eine verbesserte Anbindung der Unternehmen und Arbeitnehmer, oder auch um die Einplanung von demografischen Veränderungen und ihren Folgen. Dies betrifft beispielsweise die Bekämpfung des Wohnungsleerstandes oder die Sicherstellung der flächendeckenden ärztlichen Versorgung.

Zur nachhaltigen Lösung solcher Herausforderungen sollte aber auch die weitere regionale Nachbarschaft strategisch mit einbezogen werden – im Fall des Sauerlands etwa der Raum Paderborn mit dem Flughafen Paderborn/Lippstadt und der örtlichen Universität, die viele junge Leute aus der Region anzieht. Hier besteht noch großes Potenzial zur Zusammenarbeit, die sich am bereits beschriebenen Vorbild aus Südwestfalen orientieren sollte. Denn nur durch eine gute Verzahnung können am Ende alle vom Strukturwandel profitieren.

Legt die alten Klischees ad acta!

Das Beispiel Südwestfalen zeigt, dass jede Region ihre eigenen Themen und Schwerpunkte besitzt, die systematisch identifiziert und genutzt werden müssen. Für Wahlkämpfer ist es dabei wichtig, mögliche Defizite und Herausforderungen frühzeitig zu erkennen und den Menschen regionale Lösungsansätze für die wichtigsten und brennenden Fragen anzubieten. Hier ist im Vorfeld von Wahlkämpfen eine präzise Analyse unter Berücksichtigung der lokalen Besonderheiten Pflicht.

Dabei kommt es vor allem darauf an, bestehende Klischees ad acta zu legen und die Türen für neue Ideen und Kooperationen zu öffnen, damit übergreifend Synergieeffekte für die Region ausgelöst werden können. Nur so lassen sich Wahlkämpfe auf lokaler und regionaler Ebene erfolgreich führen. Diese müssen auf die wirklich wichtigen Probleme vor Ort eingehen und auf diese Weise die Bevölkerung einbeziehen. Wir Sozialdemokraten sollten dies sehr ernst nehmen, egal ob im anstehenden Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern, bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen oder bei den Europawahlen am 25. Mai.

Nur mit einer starken, präsenten SPD im ländlichen Raum können wir ein gutes Gesamtergebnis für die Partei in Europa, im Bund, im Land oder in den Städten und Kreisen erreichen. Auch wenn nicht jeder Wahlkreis direkt gewonnen wird: Das große Ganze zählt. Und wenn alle Wahlkämpfer ein paar Prozent mehr holen, kann das den Wahlsieg in Europa, im Bund, im Land oder in den Städten und Kreisen bringen.

zurück zur Person