Globalisierung und Erkenntnis

Wie müsste eine vernünftige sozialdemokratische Wirtschaftspolitik unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts aussehen? Eine kleine Wirklichkeitskunde

Wer die Auswirkungen der Globalisierung auf eine zeitgemäße sozialdemokratische Wirtschaftspolitik ausloten will, muss die beiden Begriffe zunächst eingrenzen. Auch wenn jeder Teilnehmer an Globalisierungsdebatten eine eigene Definition des Begriffs Globalisierung im Blick haben dürfte, so ist doch eine brauchbare Arbeitsdefinition für diesen Beitrag recht einfach anzubieten. Aber lässt sich auch die „sozialdemokratische Wirtschaftspolitik“ angemessen erfassen? Einstweilen drängt sich der Eindruck auf, dass sich der Anspruch des Parteiprogramms, die laufenden Äußerungen und die politischen Entscheidungen nur begrenzt decken. Möglicherweise kann gerade dies der Aufhänger für einen anregenden Essay sein.

Im Folgenden wird unter Globalisierung die Öffnung von Märkten über Grenzen hinweg und die drastische Senkung von Informations-, Transport- und Transaktionskosten verstanden. Damit einher geht die grenzüberschreitende Wanderung von Faktoren und Steuerbasen, so dass ein Systemwettbewerb entsteht. Diese Entwicklung verändert die Rahmenbedingungen für die Entscheidungen und die Aktivität von Individuen, Haushalten und Familien einerseits und von Unternehmen andererseits – und damit auch für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie ist nicht zuletzt eine Folge bewusster politischer Entscheidungen. Zu nennen ist hier vor allem die internationale Öffnung der Gütermärkte im Rahmen des GATT. Klar ist, dass für Deutschland in den kommenden Jahrzehnten die Globalisierung neben dem demografischen Wandel der wichtigste Hintergrund für die Entwicklung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen sein wird.

Unter „sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik“ sollte wohl eigentlich eine Wirtschaftspolitik zu verstehen sein, die auf der festen Basis der sozialen Marktwirtschaft Erhardscher Prägung ruht: der Humanisierung dezidiert marktwirtschaftlicher Strukturen durch den Staat in einem gesellschaftlichen System des Interessenausgleichs und der Dämpfung ökonomischer Ungleichheit. Dabei werden ein starker, mit dem Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit versehener Staat und die Bedeutung von Arbeitnehmerinteressen betont (worunter anachronistischerweise offenbar vor allem die gewerkschaftliche Vertretung derselben verstanden wird). Hinzu tritt in jüngerer Zeit der Anspruch einer „Modernisierung“ der Gesellschaft, worunter etwa Aspekte der Gleichstellung der Geschlechter, des Abbaus der intergenerationalen Weitergabe des ökonomischen Erfolgs und ökologische Nachhaltigkeit verstanden werden. Andererseits wird die Integration eines starken deutschen Nationalstaats in das Konzert des vereinten Europa und der Weltgemeinschaft betont.

Faktisch jedoch stellt sich die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik – allerdings keineswegs nur sie allein – dem Betrachter auch als ein Verwirrspiel diskretionärer Eingriffe in das Marktgeschehen dar, die je nach kurzfristiger oder sachbezogen abgegrenzter Interessenlage unter anderem mit – unbefriedigend vage bleibenden – Argumenten der sozialen Gerechtigkeit, dem Erhalt von Arbeitsplätzen oder konjunkturellen Notwendigkeiten begründet werden. Diese Eingriffe widersprechen aber teilweise heftig dem mit der „Agenda 2010“ anfänglich beschrittenen Weg einer konsequenten Reform von Wirtschaft und Gesellschaft. Weder lässt sich somit eine eindeutige Linie erkennen, noch sind typischerweise die jeweils vorgebrachten Begründungen für diese diskretionären Eingriffe ökonomisch überzeugend. Diese Aspekte werden hier auch punktuell an konkreten Beispielen diskutiert, wobei vor allem die mangelnde Basis an empirischen Belegen für getroffene Entscheidungen betont werden soll, weniger der in politischen Diskussionen häufig missachtete ordnungspolitische Gedankengang.

Nichtsdestoweniger sind rein ordnungspolitisch ausgerichtete Argumentationsketten eine gute Basis vieler wirtschaftswissenschaftlicher Stellungnahmen zur Wettbewerbs- und Industriepolitik. In der politischen Debatte jedoch drohen sie als praxisferne Sandkastenspiele abgetan zu werden. Im theoretischen Modell – so die Kritiker – sei zwar eindeutig, was getan werden müsste, aber in der Realität gehe es nun mal komplexer zu, vor allem sei sie von ohnehin nicht überwindbaren ordnungspolitischen Sündenfällen der Vergangenheit oder anderer Nationalstaaten geplagt. Erneute Verstöße gegen ordnungspolitische Grundsätze seien daher im jeweils vorliegenden Kontext nicht schädlich, sondern hilfreich. Wer also beispielsweise als Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland einen Rückbau der Arbeitnehmerrechte bei Mitbestimmung und Kündigungsschutz fordere, sei weltfremd und solle statt dieser Zeitverschwendung lieber bessere arbeitsmarktpolitische Interventionen für die Langzeitarbeitslosen ausarbeiten. Und wer – um ein weiteres Beispiel zu nennen – eine strikte Einhaltung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts fordere, solle sich doch lieber der Realität seiner Aufweichung stellen und Vorschläge für seine Anpassung unterbreiten.

Solchen Argumentationen kann man nur eines entgegensetzen: die sorgfältige, auf das vorliegende Problem maßgeschneiderte Auflistung der verfügbaren und ernst zu nehmenden empirischen Belege, die aber meist nicht üppig vorhanden sind. Ein genauerer Abwägungsprozess, der die Übergangsprobleme und Anpassungsprozesse nicht nur für die Gesamtwirtschaft, sondern für alle relevanten Gruppen von Betroffenen abschätzt, erfordert grundsätzlich die sorgfältige Suche nach historischen oder internationalen Präzedenzfällen oder eine entsprechende ökonometrisch-statistische Analyse.

Das kann und soll hier nicht umfassend geschehen. In diesem Beitrag möchte ich drei Perspektiven ansprechen: erstens Entscheidungen des Einzelnen, zweitens Handlungsoptionen von Unternehmen und drittens die Rolle des Staates. Abschließend soll grundsätzlich nach der Klientel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik gefragt werden.

Warum zwischen Effizienz und Gleichheit ein Zielkonflikt besteht

Erstens: Die „Modernisierung“ der Gesellschaft erfordert individuelle Freiheit. In einem marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystem werden die Aktivitäten und das wirtschaftliche Wohlergehen des Einzelnen nicht durch eine Planungsbehörde diktiert, sondern weitgehend dezentral aufgrund der freiwilligen Entscheidungen der Bürger ermittelt. In solch einem System ist eine intensivere Arbeitsteilung in der Regel ein wichtiger Ansatz, um ein besseres Gesamtergebnis zu erreichen. Wenn alle die Aktivitäten verfolgen, die sie jeweils – relativ zu dem, was sie sonst noch zu leisten in der Lage sind – am besten beherrschen, dann wird die Gesamtleistung einer Gemeinschaft voraussichtlich sehr hoch sein – aber auch die Ungleichheit der Ergebnisse. Wird diese Ungleichheit im Nachhinein einer sehr starken Nivellierung unterworfen, dann werden sich viele dieser Aktivitäten von vornherein erst gar nicht entfalten: Effizienz und Gleichheit sind Ziele, die naturgemäß in einem gewissen Konflikt zueinander stehen.

Dieser Verbindung zwischen Gesamtwachstum und Heterogenität der Ergebnisse steht natürlich die wachstumsfördernde Natur einer kohärenten Gesellschaft gegenüber: mehr Gleichheit dürfte beispielsweise in den von hoher ökonomischer Ungleichheit geprägten Entwicklungsländern wachstumsfördernd sein, etwa durch einen besseren Zugang zu Bildungschancen. Auf der anderen Seite sind für Leistungssteigerungen grundsätzlich Anreize nötig, die realistischerweise vielfach monetärer Natur sein müssen – die Vision einer Gesellschaft, in der alle ihr Bestes geben, ohne direkte Vorteile davon zu erhalten, muss aller Erfahrung nach Illusion bleiben. Es kommt also auf die Balance zwischen Effizienz und Gleichheit an – und die ist in unserer Gesellschaft nachhaltig zu Ungunsten von Leistungsanreizen gestört. Das wäre ja an sich nicht tragisch, würde man nicht gleichzeitig mehr stetiges Wachstum erwarten oder gar fordern.

Dabei steht fest: Es geht den Menschen in Deutschland materiell so gut wie noch keiner Generation zuvor. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (in Preisen von 1991) betrug 1962 noch umgerechnet 11.000 Euro, 1982 bereits 19.000 Euro und 2002 sogar 24.000 Euro. Die verbleibende Lebenserwartung beim Erreichen des Alters 60 ist von 16,5 Jahren für Männer und 21 Jahren für Frauen im Jahre 1982 bis zum Jahr 2002 auf 19 beziehungsweise 24 Jahre gewachsen. 2022 wird sie voraussichtlich bei 22 beziehungsweise 27 Jahren liegen. In nahezu allen aktuellen Diskussionen zu den Verteilungswirkungen von Reformen wird diese Perspektive aber ausgeklammert. Warum? Ist es wirklich so schwer, heutigen Rentnern zu vermitteln, dass es ihnen so gut geht wie keiner Rentnergeneration vorher? Ist es unmöglich, Menschen in den neuen Bundesländern vor Augen zu führen, dass ihr Gemeinwesen 1989 auch wirtschaftlich am Ende und der gesamte DDR-Kapitalstock bestenfalls nichts wert war?

Hierher passt, dass sich die Armutsmessung in den USA an absoluten Armutskonzepten ausrichtet, während die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung relative Armutskonzepte favorisieren. Letztlich sollte man viel offener die Position vertreten, dass sich derart komplexe Sachverhalte wie „Armut“ und „soziale Ausgrenzung“ und somit auch „soziale Gerechtigkeit“ kaum auf eine rein absolute oder rein relative Perspektive verdichten lassen – und dass neben der harten Aufbauarbeit der Nachkriegsgeneration die wachsende internationale Arbeitsteilung eine wichtige Wurzel des entstandenen materiellen Wohlstandszuwachses gewesen ist. Um diesen materiellem Wohlstand zu erhöhen, sind umso höhere absolute Zuwächse erforderlich.

Was nachgelagerte staatliche Eingriffe nicht mehr wettmachen können

Dabei exponiert die Globalisierung unweigerlich die Leistung des Einzelnen, so dass Renten – also nicht im Wettbewerb haltbare ökonomische Vorteile – tendenziell abgebaut werden. Wenn es Renten gibt, die abgeschöpft werden können, dann werden sich in einer wirtschaftlich integrierten Welt eher Konkurrenten finden, die an diesen Renten ebenfalls partizipieren wollen. Langfristig dürfte die Globalisierung demnach zwar aufgrund ihrer positiven Wirkung auf das Wirtschaftswachstum für alle Beteiligten vorteilhaft sein. Aber in genau dieser Aussage liegt ein Kern für Kontroversen und möglicherweise auch den berechtigten Widerstand der Betroffenen: Für den Einzelnen mag es unerheblich sein, dass die Gesamtwohlfahrt steigt, wenn er selbst Einbußen hinzunehmen hat.

In jedem Falle schafft die Globalisierung – also das Zusammenwachsen von Märkten, der Systemwettbewerb und die wachsende Transparenz der individuellen Leistungsfähigkeit über Sprachgrenzen hinweg und zwischen Bildungssystemen – zuvor nicht vorhandene Optionen für Individuen und Unternehmen. Dadurch greift das Äquivalenzprinzip – was kann der Staat dem Einzelnen für seinen Beitrag zum Gemeinwesen zurückgeben? – deutlicher als im traditionellen Nationalstaat. Somit schrumpft auch die Möglichkeit einer Reduktion von Ergebnisungleichheit durch Besteuerung und die Bereitstellung öffentlicher Güter. Die Globalisierung wird vermutlich durch die wachsende Transparenz hinsichtlich der individuellen Leistungsfähigkeit dazu führen, dass tendenziell die Grenze zwischen Einzelunternehmern in eigener Sache und klassischen Arbeitnehmern zunehmend verschwimmt.

Am Beispiel der individuellen Bildung lässt sich das leicht verdeutlichen. Wer zu Beginn seines Arbeitslebens nicht die richtigen Weichen stellt, also eine marktfähige Spezialisierung erwirbt, der unterliegt bei zunehmender Globalisierung einem immer größeren Wettbewerb und erleidet somit Defizite, die auch nachgelagerte staatliche Eingriffe kaum mehr wettmachen können. Nicht zufällig ist bereits heute die Arbeitslosigkeit vor allem ein Phänomen der fehlenden Qualifikationen. Daher bleiben tendenziell nur zwei Möglichkeiten: der fruchtlose Versuch, durch staatliche Fürsorge klassischen Zuschnitts den Einzelnen zu „schützen“ – oder der Versuch, den Einzelnen auf die veränderten Anforderungen vorzubereiten. Meine These lautet, dass „Modernisierung“ mehr Selbstverantwortung und Eigenvorsorge bedeuten muss und dass mehr Prosperität für die unteren Einkommensgruppen nur bei Wachstum erreicht werden kann – wofür es wiederum nötig ist, die staatliche Umklammerung aufzugeben.

Zweitens: Die Erschließung neuer Märkte als Teil des Strukturwandels. Die ökonomische Theorie hat sich bereits seit langer Zeit mit der Frage der Integration von Wirtschaftsräumen beschäftigt, wobei der (internationale) Handel von Waren und Dienstleistungen im Vordergrund stand. Mehr und mehr werden inzwischen auch die Intensität von Finanzströmen und die Wanderung von Menschen, also die internationale Verlagerung von Sach- und Humankapital, in diese Überlegungen mit einbezogen. Die grundsätzliche Botschaft all dieser Überlegungen ist, dass wirtschaftliche Integration – von Übergangsphasen abgesehen – positiv einzuschätzen ist. Diese ökonomische Grundidee klammert jedoch bewusst Fragen der Wohlfahrts- und Einkommensverteilung aus und konzentriert sich stattdessen auf das Gesamt- beziehungsweise Durchschnittsergebnis. Jeder Anpassungsprozess weist sowohl Gewinner als auch Verlierer auf, so dass wohl nur in der langen Frist wirklich alle Betroffenen ausnahmslos von der Integration profitieren dürften.

Die arbeitsteilige Organisation des Wirtschaftslebens setzt aber unbedingt voraus, dass Unternehmen das Produkt ihrer Arbeit am Markt anbieten und die Leistungen, die sie nicht selbst erbringen, wiederum am Markt erwerben können. Was für die nationale Wirtschaft gilt, lässt sich gleichermaßen auch für die internationale Arbeitsteilung festhalten. Wenn es gelingt, den Austausch von Waren und Dienstleistungen in einem größeren Wirtschaftsraum ohne erhebliche Hemmnisse (also insbesondere ohne Zölle und andere Handelsbarrieren) zu organisieren, dann lassen sich arbeitsteilige Strukturen besser etablieren und somit tendenziell auch ein höheres wirtschaftliches Wohlfahrtsniveau erreichen. Dies gelingt umso eher in einer großen Gemeinschaft und wenn ein einheitlicher Rechtsrahmen, aufeinander abgestimmte Institutionen und möglicherweise gar eine gemeinsame Währung den Wirtschaftsprozess begleiten – also in der erweiterten EU noch besser als weltweit.

Warum der einheimische Konsument der Gewinner ist

Eine exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche muss ihre Waren und (zunehmend auch) Dienstleistungen international absetzen. Je mehr die internationale Arbeitsteilung greift und je spezialisierter somit die Produkte der heimischen Erzeuger werden, umso wichtiger ist es, den Vertrieb dieser Erzeugnisse auf Märkte außerhalb Deutschlands auszudehnen. Natürlich gilt dies nicht für alle Arten von Produkten gleichermaßen: Dienstleistungen oder auf den Kundenwunsch hin maßgeschneiderte Güter sind grundsätzlich schwerer aus der Distanz bereitzustellen als homogene Massenware. Die Grenzen zwischen diesen Produkten sind jedoch fließend und verschieben sich aufgrund verbesserter Kommunikations- und Transportmöglichkeiten mehr und mehr, so dass die anhaltende Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen in Zukunft ganz entscheidend von der Erschließung neuer Absatzmärkte im Ausland abhängen wird.

Die Globalisierung bietet aus dieser Perspektive den heimischen Unternehmen verbesserte Marktchancen. Profitieren werden heimische Unternehmer und Anteilseigner ebenso wie Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze gesichert werden. Es gibt so gesehen eine hohe Kongruenz zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Allerdings ist dieser Prozess der Markterschließung keine Einbahnstraße, denn auch ausländische Konkurrenten werden versuchen, ihrerseits in den heimischen Markt einzudringen. Die Gewinner dieses verstärkten Wettbewerbs sind natürlich die heimischen Konsumenten. Der Schlüssel zum Erfolg für heimische Unternehmen in diesem Wettbewerb sind Innovationen von Prozessen und Produkten, eine verstärkte Kostenkontrolle, verbesserte Kundenbindung und die Verknüpfung von qualitativ hochwertiger Produktion mit Dienstleistung.

Der Produktionsprozess stützt sich neben kreativen Ideen auf Produktionsfaktoren, grob zusammengefasst auf Sachkapital, Humankapital und Arbeitseinsatz. Die relative Knappheit eines jeden Produktionsfaktors bestimmt in einer Marktwirtschaft genauso seinen Wert, wie die relative Knappheit von Gütern auf deren Märkten den erzielten Preis bestimmt. Auch am Arbeitsmarkt bestimmen die Nachfrage und das Angebot über den Marktpreis. Wenn Grenzen immer unwichtiger werden, dann zählt nicht mehr die nationale, sondern die weltweite Knappheit – die für hoch qualifizierte und typischerweise spezialisierte Arbeitnehmer unverändert deutlich ausfallen dürfte. Andererseits sehen sich weniger qualifizierte Menschen einer immer größeren Schar von Konkurrenten gegenüber, auch wenn sie regional sehr weit voneinander getrennt sein mögen.

Wir stehen national vor einer Ausgangssituation, die gekennzeichnet ist einerseits durch hohe Löhne pro effektiv geleisteter Arbeitsstunde – attraktiv für die Arbeitnehmer – und andererseits damit auch durch hohe Kosten der Arbeit – unattraktiv für die Arbeitgeber. Natürlich machen der technische Fortschritt und die solide Ausbildung im Vergleich mit Arbeitnehmern aus Niedriglohnländern einen Teil der hohen Lohnkosten wett. Daher muss sich der Vergleich auf die effektive Arbeitsleistung, also das Wertgrenzprodukt beziehen. Dies ist nichtsdestoweniger in Deutschland sehr hoch, so dass weniger Arbeit zum Einsatz kommt, als bei diesem Lohn angeboten wird.

Fortschreitende Globalisierung führt tendenziell zu zwei grundlegenden Anpassungsmechanismen: Erstens können Arbeitnehmer aus dem Ausland hinzuziehen und somit heimische Konkurrenten werden – dies ist aus verschiedenen Gründen eher unwahrscheinlich; gleichwohl hat dieser Gedanke viele Ängste geschürt und bei der EU-Osterweiterung zu unsinnigen Übergangsregelungen geführt. Zweitens kann es zu einer Verlagerung von Arbeitsplätzen durch die heimische Industrie ins Ausland kommen – eine Perspektive, die ebenfalls massive Ängste auslöst. Diese Ängste liegen angesichts der hohen Arbeitslosigkeit auf den ersten Blick nahe, sie übersehen jedoch die gleichzeitig auftretenden wirtschaftlichen Vorteile der heimischen Arbeitnehmer, die gegen die beschriebene Verlagerung von Arbeitsplätzen aufzurechnen sind. Zugleich wird vergessen, dass Bürger nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Konsumenten sind – die wiederum von der Integration direkt profitieren dürften. Insgesamt ist somit zur Einschätzung der Globalisierung aus ökonomischer Sicht eine genauere Abwägung der Anpassungsprozesse für alle relevanten Gruppen vonnöten.

Warum die Subventionierung alter Industrien keine gute Idee ist

Verbandsaktivitäten zur Abschottung vor Wettbewerb – ein Grundelement der deutschen Wirtschaftsordnung – sind aus ökonomischer Sicht in jedem Falle abzulehnen: Qualität muss sich am Markt durchsetzen, nicht per Gesetz verordnet werden. Nicht die Subventionierung alter Industrien, sondern die gezielte Förderung von Bildung und Forschung ist die staatliche Strategie, die verfolgt werden muss. Wer die Geschichte der Subventionierung des Abbaus der heimischen Steinkohle verfolgt, kann die perpetuierte Natur der Subventionen nicht übersehen. Diese Subventionen sollten anfänglich (und somit auch zielführend, denn Subventionen können sinnvollerweise Neues anstoßen und Niedergänge sozial abfedern) den Abbau der Kapazitäten als Anpassungssubventionen sozial gestalten. Mittlerweile aber haben sie bereits mehrere Jahrzehnte als Erhaltungssubventionen immer neue Generationen an Bergleuten in NRW und im Saarland begleitet. Dies kann weder zum Wohle der Gesellschaft noch zum Wohle der Geförderten und ihrer Region sein.

Aber auch in einer modernen Gesellschaft können nicht alle hoch ausgebildet sein. Daher fordern Ökonomen schon seit langem einen Ausbau des Niedriglohnsektors auch bei uns. Weitere Reformen des deutschen Arbeitsmarktes sind notwendig, damit es den gering ausgebildeten deutschen Arbeitnehmern zumindest nicht gänzlich unmöglich gemacht wird, mit Arbeitnehmern in anderen Ländern der Gemeinschaft zu konkurrieren. So gesehen ist natürlich auch die Einführung eines Mindestlohns in einen an sich schon überregulierten Arbeitsmarkt ein absolutes Übel. Meine These lautet, dass solche ordnungspolitischen Sünden angesichts der Globalisierung härter bestraft werden als früher. Man sollte sie daher heute noch strikter meiden als vor der Globalisierung.

Warum Konjunktur und langfristiger Trend nicht dasselbe sind

Drittens: Das Stochern im konjunkturellen Nebel. Einer der interessantesten Aspekte der ökonomischen Forschung liegt in der Analyse des gesamtwirtschaftlichen Wachstums und der Konjunkturschwankungen, die diesen langfristigen Trend begleiten. Allerdings hat man sich in der ökonomischen Analyse den Zusammenhang zwischen diesen beiden Elementen der gesamtwirtschaftlichen Aktivität lange Zeit unproblematischer vorgestellt, als er in Wirklichkeit ist. Bis vor etwa zwei Jahrzehnten ging man in der makro-ökonometrischen Analyse davon aus, dass es ohne weitere Implikationen gelingen könne, langfristige Tendenzen durch einfache Verfahren aus der Zeitreihe etwa des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf „herauszufiltern“. Was nach dieser Vorbereitung der Daten übrig bleibe, sei das eigentlich interessante Analyseobjekt, nämlich die Konjunktur.

In dieser Tradition sind viele der makro-ökonomischen Modellvorstellungen zu sehen, die unsere wirtschafts- und konjunkturpolitische Debatte auch heute noch prägen. Grundsätzlich spricht man dort bei langfristigen Betrachtungen (die, wie oben erwähnt, von vielen häufig als bloße Gedankenübung abgetan werden) von „Wachstumseffekten“. Geht es aber um den augenblicklichen Stand der gesamtwirtschaftlichen Aktivität, so spricht jeder von „Konjunktur“. Beide Perspektiven sind aber miteinander verwoben – die Konjunktur als das Phänomen einer Abweichung vom Trend benötigt zu ihrer Einschätzung unabdingbar eine Vorstellung vom augenblicklichen Trend. Entgegen der Vorstellung vieler Beobachter lässt sich diese Einschätzung nicht allein durch einen Blick auf den derzeitigen Stand und die letzten paar Eintragungen der Zeitreihe – also den in der wirtschaftspolitischen Diskussion viel beschworenen „aktuellen Rand“ – erzielen.

Stattdessen benötigt man für eine solide makro-ökonomische Analyse unabdingbar ein formales Modell. Leider ist dies nicht so einfach. Unterstellt man das falsche Trendmodell, dann kommt man auch zu falschen wirtschaftspolitischen Schlüssen. Ist, um es auf den Punkt zu bringen, die augenblickliche Wachstumsschwäche in Deutschland eher eine langwierige konjunkturelle Abweichung nach unten von einem stabilen Produktionspotenzial – traditionellerweise als linear-deterministischer Trend, den man sozusagen mit einem Lineal durch die Punktwolke der Beobachtungen ziehen kann? Oder ist diese Wachstumsschwäche die Reflektion eines Niedergangs in dieser Trendgröße? Wenn sich das Wachstum des Produktionspotenzials verschlechtert hat, dann braucht es Reformen auf der Angebotsseite. Wenn es sich um eine temporäre Schwäche handelt, die langfristig auch von alleine wieder verschwindet, dann kann man die Angelegenheit durch Nachfragepolitik stabilisieren.

Letzte Gewissheit darüber, was denn nun der augenblicklichen Entwicklung zugrunde liegt, ist natürlich nie zu erzielen. Aber es spricht doch vieles dafür, dass nachfrageseitige Erklärungen nicht hinreichend sind – vor allem die schiere Dauerhaftigkeit unserer Wachstumsschwäche. Verlässt man aber die „heile Welt“ linear-deterministischer Entwicklungen des Produktionspotenzials, dann kann der Staat mit diskretionären Eingriffen zur vermeintlichen Stabilisierung der Konjunktur eigentlich fast nur Schlechtes bewirken. Nicht zuletzt muss er den Entwicklungen hinterherlaufen, denn selbst bei guter Diagnose müssen die entsprechenden Instrumente zur Konjunkturstabilisierung ja erst im gesetzgeberischen Prozess durchgesetzt werden. Sie können also nur mit Verzögerung wirken – dann wiederum vielleicht entgegen der mittlerweile idealen Stabilisierungspolitik.

Die Globalisierung verschärft diese Erkenntnisprobleme erheblich. Letztlich wäre es sehr vermessen, würde man für eine exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche ein mittelfristig stabiles Trendmodell erwarten, das sich leicht aus den Beobachtungen heraus abschätzen ließe. Angesichts dieser Ohnmacht bei der gesamtwirtschaftlichen Steuerung scheint es die dominante Strategie, nicht nur bei der Behandlung einzelner Märkte, sondern auch bei der Beeinflussung der Gesamtwirtschaft den langfristigen Weichenstellungen die überragende Bedeutung beizumessen. Aus dieser Perspektive betrachtet macht die vielfach getroffene Aussage, man müsse beim Reformieren darauf achten, die Konjunktur nicht zu beeinträchtigen, eigentlich keinen Sinn.

In diesem Sinne einer beschränkten Leistungsfähigkeit des Staates ist auch meine letzte These zu verstehen: Der große Konjunkturhemmer ist die augenblickliche politische Krise. Könnte der Einzelne in der wirtschaftspolitischen Diskussion eine klare Linie erkennen, dann wären auch positive Effekte auf das Zukunftsvertrauen von Konsumenten und Investoren zu erwarten – und ein Anspringen der Binnennachfrage. Aber dies kann man nicht erwarten, wenn Reformen erst beschlossen, dann aber durch Ausnahmegenehmigungen wieder aufgeweicht oder angesichts etwas erfreulicher anmutender Konjunkturdaten in Frage gestellt werden. Daher ist es aus meiner Sicht sehr bemerkenswert, dass die Bundesregierung die grundsätzliche Linie der „Agenda 2010“ nicht in Frage stellt. Diese Haltung findet bei vielen Beobachtern und damit sicherlich auch Wählern Respekt. Sie ist ein Beispiel dafür, dass man eine konsequente Linie der Öffentlichkeit sehr wohl vermitteln kann.

Warum die alte Perspektive von us and them nicht mehr genügt

Wer sind eigentlich die Schutzbefohlenen? Zum Abschluss sind einige miteinander verwobene Fragen zu stellen. Wessen Interessen will die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik eigentlich vertreten? Die der „reichen Armen“ in Deutschland oder jene der existenzbedrohten Armen außerhalb Deutschlands? Wie lassen sich Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit auf den internationalen Kontext übertragen? Der heutige Lebensstandard ist mit einer geschlossenen Volkswirtschaft und den Strukturen der Vergangenheit ja nicht mehr zu erreichen. Damit rücken aber auch die Interessen der Benachteiligten in anderen Regionen der Welt stärker in den Fokus. Somit müssen sich Sozialdemokraten harte Fragen zum eigenen Selbstverständnis stellen: Wie lassen sich etwa EU-Agrarsubventionen, Mindestlöhne am Bau und Kohlesubventionen mit sozialer Gerechtigkeit in einem weiteren Sinne vereinbaren? In diesen Fragen liegt Zündstoff für eine heftige interne Auseinandersetzung um die zukünftige wirtschaftspolitische Haltung nicht nur der Sozialdemokratie. Denn die Globalisierung forciert einen Wandel von ehedem sehr scharfen schwarz-weißen Konturen – us and them – zu einem sehr interessanten und herausfordernden Bild mit vielen Schattierungen.

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