Gibt es eine Wirtschaftsethik des Rheinischen Kapitalismus?



Es ist lange her, dass die sprichwörtliche „Deutschland AG“ reibungslos funktioniert hat. In den 1880er Jahren „gegründet“, gelang ihr vor dem Ersten Weltkrieg der Aufstieg unter die ersten Adressen des Weltmarktes. Ihren Erfolg verdankte sie vor allem der Kooperation wirkungsvoller Verbände und strategisch handelnder Großbanken mit einer großen Zahl von Unternehmerpersönlichkeiten, die als Netzwerkspezialisten von den neuen institutionellen Rahmenbedingungen der deutschen Wirtschaft profitierten.

Als Hugo Stinnes, einer ihrer frühen Protagonisten, im Jahr 1924 starb, hatte die Deutschland AG zwar viel von ihrem Glanz verloren, mit den Gewerkschaften aber zugleich neue Akteure gewonnen. Die Arbeitnehmerverbände halfen mit, das Muster der deutschen Marktwirtschaft weiter zu verfestigen.

Während des Wirtschaftswunders in der Rekonstruktionsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg griff die westdeutsche Wirtschaft auf diese bewährte Organisationsweise zurück, der institutionelle Rahmen der Wirtschaft veränderte sich kaum. Seit der Koreakrise der frühen fünfziger Jahre gelang es, die Deutschland AG erneut zu konsolidieren. Günstige politische Rahmenbedingungen unterstützten diesen Konsolidierungsprozess: Die Große Koalition von 1966 bis 1969 erlaubte die einvernehmliche Gestaltung und Optimierung kooperativer wirtschaftlicher Interessenpolitik nach historisch gewachsenen Spielregeln, die nun von Grund auf erneuert wurden. Das „Modell Deutschland“ gewann an Attraktivität, so dass kompetente Beobachter wie der französische Spitzenmanager Michel Albert in ihm die erfolgreichste Variante einer „rheinischen“ Spielart des Kapitalismus sahen, die – von Skandinavien bis Norditalien – zum gemeinsamen europäischen Erbe gehört.1

Auf den ersten Blick war der Erfolg der Deutschland AG das Verdienst ihrer „Vorstände“ Hans Martin Schleyer und Otto Brenner sowie der „Aufsichtsräte“ Karl Schiller und Franz Josef Strauß („Plisch und Plum“), die das Handeln der Akteure „konzertierten“ und ihre Konflikte moderierten. Jedoch: Die anspruchsvollen Instrumentarien des Rheinischen Kapitalismus virtuos zu handhaben erfordert mehr als guten Willen und günstige politische Rahmenbedingungen. Die Marktwirtschaft wird in Deutschland weder vom Staat allein noch von heroischen Einzelkämpfern veranstaltet. Ihre Akteure sind vielmehr in eine historisch gewachsene, dichte Landschaft von Regeln und Organisationen der Zivilgesellschaft eingebettet (den Hegelschen Korporationen), die als korporative Marktwirtschaft bezeichnet werden kann.2 Sich in dieser Landschaft zurecht zu finden und Erfolg zu haben verlangt von ihren Akteuren besondere Fähigkeiten. Gehört dazu auch eine wirtschaftliche Ethik eigener Art?

Unternehmerisches Handeln reicht unter den Bedingungen des Rheinischen Kapitalismus weit über einzelwirtschaftliche Zusammenhänge hinaus. Mehr als in anderen Wirtschaftskulturen umfasst der Handlungsrahmen des Unternehmers das gesamte soziale System der Produktion: das Finanzierungssystem, die Führung der Unternehmen, die industriellen Beziehungen, die Interessenpolitik, das Binnenverhältnis der Branchen und das Ausbildungswesen, um nur die wichtigsten Bereiche zu nennen. In diesem organisatorischen Rahmen finden sich Institutionen, die als weithin akzeptierte Denk- und Handlungsweisen zu Spielregeln geronnen sind. Diese Institutionen galten einmal als die Kardinaltugenden deutscher Unternehmer (und ihrer wirtschaftlichen Mitspieler). Heute mögen sie höchstens noch Sekundärtugenden sein: Autonomiebewusstsein, Selbstverwaltung, Kooperationsbereitschaft und Soziabilität, also die Fähigkeit zur spontanen vertrauensvollen Zusammenarbeit, um sich im Wettbewerb auf wichtigen Märkten komparative Vorteile zu sichern.

In Deutschland verbindet sich mit diesem autonomen, selbstverwalteten Status der Wirtschaft traditionell ein hoher ethischer Anspruch an unternehmerisches Handeln. Gustav Schmoller, der führende Wirtschaftswissenschaftler des Kaiserreiches, sah gerade darin die „sittliche Bedeutung“ der korporativen Marktwirtschaft, dass sie nicht durch „Börse und Spekulation“, sondern durch „Einsicht in die Notwendigkeit“ und den Sieg gemeinsamer Interessen über Eigennutz und kurzfristigen Egoismus zustande komme.3 Generationen deutscher Unternehmer, von Alfred Krupp bis Berthold Beitz, von den Rathenaus bis Alfred Herrhausen, von Hans Martin Schleyer bis Reinhard Mohn haben dies cum grano salis ebenso gesehen – anders als die meisten ihrer angelsächsischen Kollegen. Diese misstrauen aufgrund anderer historischer Erfahrungen der Kraft unternehmerischer Verantwortungsethik.

Adam Smith beispielsweise setzte lieber auf die unsichtbare Hand des Marktes – schließlich war er überzeugt, dass Kaufleute selten auch nur zu Lustbarkeiten und Zerstreuungen zusammenkämen, ohne dass ihre Unterhaltung mit einer Verschwörung gegen das Publikum ende.4 Smiths Epigonen halten es heute sogar wieder mehr mit der zynischen Paradoxie der Mandevilleschen Bienenfabel, der zufolge sich selbst unmoralische Motive der Akteure nach dem Motto „private vices, public benefits“ über den Marktmechanismus in öffentliche Vorteile verwandeln.5 Im Geltungsbereich des Rheinischen Kapitalismus konnten sich solche Ideen bisher nicht durchsetzen, zumal sie auch in der Theorie nur unter sehr engen Voraussetzungen Gültigkeit beanspruchen können.

Das Wirtschaftssystem ist nicht in der Verfassung normiert

In Deutschland unterscheidet sich die Verantwortung des Unternehmers, Spitzenmanagers oder Eigentümers von Unternehmen in der korporativen Marktwirtschaft in rechtlicher Hinsicht sogar von der Verantwortung anderer wirtschaftlicher Akteure. Da sich ihre Stellung im demokratischen und sozialen Rechtsstaat vor allem aus ihrer engen Bindung zum Eigentum ergibt, gelten für sie in besonderer Weise die Normen des Artikels 14 des Grundgesetzes. Diese gewährleisten nicht nur Eigentum und Erbrecht, sondern ziehen ihnen auch Grenzen: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Diese „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums ist freilich nicht einfach zu fassen. Für einen „libertarian anarchist“ wie Milton Friedman gibt es in einem freien Wirtschaftssystem nur eine Verantwortung: die knappen Ressourcen möglichst gewinnbringend einzusetzen und Unternehmen mit der größtmöglichen Profitabilität zu führen, „solange dies unter Berücksichtigung der festgelegten Regeln des Spiels geschieht, das heißt unter Beachtung der Regeln des offenen und freien Wettbewerbs und ohne Betrugs- und Täuschungsmanöver“6. Dabei orientiert er sich offenbar am idealtypischen Rahmen einer weitgehend deregulierten Marktwirtschaft, wie sie vor allem im angelsächsischen Wirtschaftsraum historisch gewachsen ist. In Deutschland hat die Judikative den Inhalt dieser Verpflichtung dagegen vielfach so ausgelegt, dass sich die „festgelegten Regeln des Spiels“ an der Realität des Rheinischen Kapitalismus orientieren. Dazu gehört das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit ebenso wie die Mitbestimmung als eine diesem Wirtschaftssystem angemessene Form der Lösung des Problems asymmetrischer Wissensverteilung in den Betrieben.

Das Wirtschaftssystem selbst ist nicht in der Verfassung normiert. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Mitbestimmungsgesetzgebung. Historisch gewachsen und pfadabhängig tradiert, unterliegt es allein dem institutionellen Wandel, den seine kollektiven Akteure selbst in Gang setzen. Der einzelne Unternehmer kann sich hierzulande sein Wirtschaftssystem also nicht aussuchen: Er ist auf Gedeih und Verderb mit dem sozialen System der Produktion verbunden, in dem er lebt und arbeitet und dem er alles verdankt. Seine spezifische Verantwortung als Unternehmer liegt daher vor allem in der Verpflichtung, sein Eigentum (oder die Verfügung darüber) im Rahmen dieses Systems so zu gebrauchen, dass dessen Funktionsfähigkeit gewährleistet ist und das Ergebnis „dem Wohle der Allgemeinheit“ dient.

Aufgrund dieser Verpflichtung kann vom Unternehmer jedoch nicht verlangt werden, konkrete Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen, die gegen die Ratio des Marktes verstoßen. Der alte Grundsatz des Römischen Rechts ultra posse nemo obligatur gilt auch und gerade für die Wirtschaft. Offensichtlich dient es nicht dem Wohle der Allgemeinheit, den Beschäftigungsstand eines Unternehmens gegen die Marktbedingungen künstlich hoch zu halten, um damit ein gesamtwirtschaftliches Postulat einzelwirtschaftlich einzulösen. Dies funktioniert auf die Dauer nicht einmal im planwirtschaftlichen Rahmen, wie das Scheitern der Wirtschaft der DDR jüngst eindrucksvoll belegte. Vielmehr liegt es auch unter den Bedingungen des Rheinischen Kapitalismus im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse, dass der Unternehmer seine partikularen Ziele im Rahmen der bestehenden Wirtschaftsordnung verfolgt und dabei der Logik einzelwirtschaftlicher Zusammenhänge Rechnung trägt.

In diesem Punkt sind sich alle wirtschaftswissenschaftlichen Denkschulen übrigens einig – ganz gleich ob sie sich auf Adam Smith oder Friedrich List, auf Friedrich August Hayek oder John Maynard Keynes berufen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass es aus ethischer wie aus praktischer Perspektive allein darauf ankomme, „die Besorgung des besonderen Interesses als eines Gemeinsamen“7 zu verstehen, und auch in der Wolle gefärbte Liberale mögen ihm da im Prinzip nicht widersprechen. Umstritten ist freilich, wer das gemeinsame Interesse besorgen soll – die „unsichtbare Hand“ über den Institutionen oder die „ordnende Hand“ der Institutionen selbst, die den Handlungsrahmen der Unternehmer absteckt?

Eine Kultur der dichten Institutionen

Auch kann keine der Denkschulen auf die Dynamik verzichten, die Akteure mit ihren Nutzenerwägungen im Wirtschaftsprozess auslösen. Die Frage ist nur, ob es dem eigenen Nutzen mittel- und langfristig nicht dienlicher ist, wenn sich Akteure selbst gewisse Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit auferlegen. Sei es, um Marktbeziehungen zu stabilisieren oder um in den Genuss niedrigerer Transaktionskosten zu kommen.

Welche Strategie mehr Erfolg verspricht, richtet sich im Wesentlichen nach den historisch gewachsenen institutionellen Rahmenbedingungen der Wirtschaft und damit nach den jeweiligen Voraussetzungen ihrer Funktionsfähigkeit. Das erklärt die besondere gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers in Deutschland. Hierzulande ist eine Wirtschaftskultur zu Hause, die – anders als etwa in den Vereinigten Staaten – eine ebenso dichte wie bunte Landschaft von Institutionen kennt, in der für die Akteure zahlreiche, meist selbst auferlegte, Spielregeln gelten. Diese Regeln einzuhalten, fällt nicht nur, aber vor allem in die Verantwortung des Unternehmers.

Die meisten deutschen Unternehmer brauchen diese Wirtschaftskultur wie die Luft zum Atmen. Die deutsche Wirtschaft hat seit mehr als 100 Jahren die Herausforderungen der Verwissenschaftlichung der Produktion und der Globalisierung angenommen und sich auf lukrative Märkte konzentriert, auf denen sie heute noch außerordentlich erfolgreich ist8, vor allem Märkte für diversifizierte Qualitätsprodukte (Wolfgang Streeck). Die deutsche Wirtschaft ist vor allem in der nachindustriellen Maßschneiderei führend: Sie baut intelligente Maschinen mit individuellem Innenleben, fertigt komplexe Industrie- und Infrastrukturanlagen an, stellt anwendungstechnisch veredelte Produkte aller Art her, produziert Verfahrenstechnik auf allen Gebieten oder auch hochwertige Fahrzeuge.

In diesen Bereichen ist die deutsche Exportwirtschaft kaum zu schlagen. Um in diesem großen und wichtigen Marktsegment wettbewerbsfähig zu sein, bedarf es eines institutionellen Rahmens, der auf diese Produktionsweise abgestimmt ist. Von wegen freier Standortwahl in der globalen Wirtschaft! Die deutsche Wirtschaft liegt nur deshalb auf den Weltmärkten für diversifizierte Qualitätsprodukte an der Spitze, weil sie über spezifische Institutionen verfügt und damit über komparative institutionelle Kostenvorteile im Finanzierungssystem, in der Führung der Unternehmen, in den industriellen Beziehungen, in der Interessenpolitik, im Binnenverhältnis der Branchen und im Ausbildungswesen. Und weil sie auf diesen Märkten führend ist, braucht sie diesen institutionellen Rahmen samt seinen nicht immer einfachen Regeln. Wollen sie an der Spitze bleiben, müssen sich Unternehmer wohl oder übel an diese Regeln halten. Vor allem darin liegt ihre Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des Rheinischen Kapitalismus.

Heute scheint dieser institutionelle Rahmen gleichwohl zur Disposition zu stehen. Nicht, dass die Bedeutung der Qualitätsproduktion abgenommen hätte. Im Gegenteil, sie wächst. Nicht, dass die deutsche Wettbewerbsfähigkeit schwinden würde. Im Gegenteil, sie ist kaum noch zu steigern. Die Probleme liegen woanders, natürlich in der Massenarbeitslosigkeit. Ein Drittel der deutschen Erwerbstätigen verfügt über keine oder nur über einfache Qualifikationen und steht deshalb im globalen Verdrängungswettbewerb. Dagegen gibt es nur ein probates Mittel: Qualifizierung. Das braucht seine Zeit, die der Sozialstaat überbrücken hilft. Ein funktionsfähiger Sozialstaat liegt schon deshalb auch in der Verantwortung des Unternehmers – und dient seinem eigenen Interesse.

Reform oder Neustart?

Die Kritik setzt aber auch tiefer an. Es fehlt der deutschen Wirtschaft nach verbreiteter Meinung zwar nicht an Innovationsfähigkeit im Allgemeinen, aber an Neuerungskraft auf bestimmten Märkten, von denen alle Welt annimmt, sie seien die zukunftsträchtigen. Diese Kritik ist sehr ernst zu nehmen, liegt doch die deutsche Exportwirtschaft „nur“ in den Sektoren für hochinnovative Produkte an der Spitze. Was aber Spitzentechnologie angeht – also die Informationstechnologie oder andere Branchen mit einem Forschungs- und Entwicklungsanteil über 8,5 Prozent –, bewegt sie sich nur im oberen Mittelfeld, wenn auch mit steigender Tendenz.

Wie könnte dieser relativen Innovationsschwäche abgeholfen werden? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Die einen setzen auf Reformen des bestehenden sozialen Systems der Produktion. Die anderen halten dieses System für obsolet und einen Neustart für zwingend. Sie plädieren dafür, das bestehende Produktionsregime gegen ein neues auszutauschen und neue wirtschaftliche Spielregeln zu schaffen, für die zumeist die Vereinigten Staaten als Vorbild dienen. Auf schwachen Märkten könnte dies vielleicht Abhilfe schaffen, ginge möglicherweise aber zu Lasten der Märkte für diversifizierte Qualitätsproduktion, von denen zwei Drittel der Erwerbstätigen (und der Unternehmer) sehr gut leben. Über diese Frage ist ein heftiger Kulturkampf ausgebrochen.9 Unternehmer sollten sich dieses wirtschaftlichen Hintergrundes bewusst sein, wollen sie verantwortungsvoll handeln.

Die Wahrnehmung unternehmerischer Verantwortung setzt also voraus, dass Unternehmer ihre Rolle im sozialen System der Produktion reflektieren und in der Lage sind, ihr eigenes Nutzenkalkül darauf abzustellen. Wenn heute in der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrscht, dass Unternehmer ihre Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft nicht genügend wahrnehmen, so hängt dies eng mit der Unsicherheit über den richtigen Kurs in die Wirtschaft der Zukunft zusammen. Die deutsche Wirtschaft braucht deshalb gegenwärtig ein klares Bild ihres Portfolios. Was sie leisten kann und was nicht, ist weniger von Entscheidungen der Politik oder der wirtschaftlichen Eliten abhängig, als von den historisch gewachsenen Erfahrungen mit Unternehmens- oder Wirtschaftskulturen, welche die strategischen Handlungsspielräume in den Unternehmen und in der Wirtschaftspolitik abstecken.

Die eigenen Stärken nutzen

Aus der historischen Unternehmensforschung wissen wir: Der Versuch, gegen die eigene Unternehmenskultur aus einem gewachsenen Portfolio auszubrechen, um auf schwächeren Märkten besser zu reüssieren, kann fehlschlagen und ist in der Vergangenheit oft genug gescheitert.10 Seit den neunziger Jahren konzentrieren sich die meisten Unternehmen deshalb auf ihr Kerngeschäft. Sie wollen ihre Stärken voll nutzen und von dieser sicheren Basis aus behutsam, sozusagen auf lange Sicht, auch schwächere Märkte erobern. Diese Vorgehensweise wäre auch der Deutschland AG mit ihrer mächtigen Wirtschaftskultur zu empfehlen. Langfristig akkumulierte Institutionen lassen sich zwar rasch zerschlagen, neue, komparative Kostenvorteile schaffende Spielregeln und Organisationsformen der Wirtschaft aber nur langsam aufbauen. Der Erfolg einer solchen Radikaloperation bleibt immer ungewiss.

Solange das soziale System der Produktion nicht in seinem Kern versagt, bietet sich deshalb keine sinnvolle Alternative zu dem Versuch, es von in Jahrzehnten angehäuften Schlacken und Lasten zu befreien und mit neuen, nicht zuletzt auch demografischen Entwicklungen kompatibel zu machen. Deshalb haben die Reformer in Deutschland zunächst auf die Versäumnisse der siebziger Jahre geblickt, die das anachronistisch-industriellen Weltbild der „Wirtschaftswunderzeit“ zu lange konserviert haben. Reformen wie die Agenda 2010 setzen erst jetzt die Neuorientierung der Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmenspolitik an nachindustriellen Verhältnissen durch, die schon vor zwanzig, dreißig Jahren dringend notwendig gewesen wäre. Frühere Bundesregierungen haben das Problem zwar erkannt, aber nicht lösen können. Während die Regierung Schmidt daran gescheitert ist, Reformen im sozialen System der Produktion durchzusetzen, hat ihre Nachfolgerin dies gar nicht erst versucht.11 Heute empfiehlt sich eine Doppelstrategie, die zum einen die Handlungsfähigkeit im System wieder herstellt und zum anderen jedes einzelne Teilsystem auf seine Funktionsfähigkeit in nachindustrieller Zeit überprüft und gegebenenfalls modifiziert.

Mehr noch als die Verantwortung des Staates steht dabei das Verhalten der Unternehmer auf dem Prüfstand. Die Vielfalt und Dichte der institutionellen Landschaft stellt, wie oben ausgeführt, hohe Anforderungen an die Soziabilität der wirtschaftlich Handelnden. Die Unternehmer müssen dieses komplexe, historisch gewachsene Netzwerk aus Regeln, Kooperationsbeziehungen und Vertrauen sinnvoll nutzen und als Wettbewerbsvorteil begreifen. Der Antrieb dazu muss von den Märkten kommen. Aus ihrer Logik ergeben sich zwingende Handlungsweisen, die das soziale System der Produktion immer wieder aufs Neue konstituieren. Dessen wirtschaftliche Grundbedingung ist offenbar noch intakt, wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zeigt. Das Problem liegt eher im Erstarken partikularer Interessen von Akteuren, die sich nicht in eine Deutschland AG inkorporieren lassen wollen – und dafür auch ihre Gründe haben.

Besonders für Unternehmen, die als global player am Weltmarkt operieren, bietet sich die Alternative, allein auf Märkte und Hierarchien zu bauen, um flexibler zu agieren und den Gewinn kurzfristig zu maximieren.12 Die Entscheidung zum Ausstieg aus der korporativen Marktwirtschaft erfolgt dabei nicht willkürlich. Je mehr der internationale Kapitalmarkt von Regeln beherrscht wird, die eine langfristige unternehmerische Perspektive erschweren und tief in die Herrschafts- und Lenkungsverhältnisse der Unternehmen eingreifen, stehen deutsche Unternehmen vor einem Dilemma: Sollen sie die neuen Spielregeln akzeptieren, darüber den Bruch mit der eigenen Unternehmenskultur riskieren und ihre komparativen institutionellen Vorteile auf dem Weltmarkt verlieren? Oder sollen Unternehmen ihre Stärken weiter ausbauen und wo nötig wiederherzustellen versuchen, auch wenn sie dann vielleicht auf manche Vorzüge des internationalen Kapitalmarkts verzichten müssten?

Wie die BASF gewann – und Hoechst in Trümmer fiel

Die BASF AG wählte die zweite Strategie und ist so an die Weltspitze der Chemie vorgestoßen.13 Heute können die Pfälzer nicht nur weltweit die technischen Standards setzen. Sie vereinbaren ihre wirtschaftlichen Ziele auch mühelos mit ihrer Verantwortung in der korporativen Marktwirtschaft. Wenn Eggert Voscherau (BASF) und Hubertus Schmoldt (IG BCE) – wie einst Plisch und Plum – gemeinsam Lösungen finden, um Arbeitsplätze in Berlin und nicht in Bratislava zu schaffen, dann zeigt das: Ganz ohne Appell an den Patriotismus ist es möglich, die in Deutschland reichlich vorhandenen institutionellen Kostenvorteile zu nutzen. Von der Hoechst AG hingegen, die mit dem Abschied aus der Deutschland AG auch von der eigenen Unternehmenskultur abrückte, bleiben längst nur noch namenlose Trümmer eines Chemie-Weltkonzerns.

Vor derselben Alternative stand auch der Medienkonzern Bertelsmann AG. Thomas Middelhoff, der shooting star an der Spitze des ostwestfälischen Weltkonzerns, wollte das Gütersloher Unternehmen stärker vom Kapitalmarkt abhängig machen, als es die Eigentümerfamilie Mohn verantworten wollte. Bevor es kein Zurück mehr gab, löste sie Middelhoff ab. Sein Nachfolger Gunter Thielen setzte auf eigene Stärken: auf die Mischung aus grundsolider Spitzentechnik, kreativem Medienangebot und kooperativer Unternehmenskultur. Seitdem sind aus Gütersloh neue Töne zu hören: Unternehmerische Perspektiven müssten langfristig sein, die Finanzierung solide und Gewinnmaximierung sei kein Ziel an sich. Bisher geht diese Rechnung auf. Gewinn und Rendite des Medienkonzerns stiegen im Jahr 2004 um jeweils 30 Prozent.

Einiges spricht dafür: Eine an den Stärken der eigenen Unternehmenskultur ausgerichtete Portfoliopolitik sollte in Deutschland Schule machen. Denn wer auf Märkten für Qualitätsproduktion operiert, ist auf „geduldiges Kapital“ ebenso angewiesen wie auf engagierte, qualifizierte Mitarbeiter. Wer aber der bedingungslosen Anpassung an die Spielregeln des Kapitalmarktes den Vorzug gibt, sollte wenigstens deren Risiken kennen.

Der gescheiterte Versuch der Deutsche Börse AG, die London Stock Exchange zu übernehmen, ist dafür ein lehrreiches Beispiel. Ausgerechnet die Vorkämpfer für eine neue Aktienkultur in Deutschland, der frühere Börsenchef Werner Seifert und sein Aufsichtsrat Rolf-Ernst Breuer, mussten erkennen, wie eng der unternehmerische Handlungsspielraum werden kann, wenn „unfreundliche“ Aktionäre dem Vorstand ins Handwerk pfuschen. Noch während der Übernahme-Operation gewannen neue Aktionärsgruppen in der Hauptversammlung die Mehrheit, die das anvisierte mittelfristige Wachstum des Gewinns je Aktie niedriger bewerteten als eine Cash-Ausschüttung jetzt und heute. Unter diesen Bedingungen langfristig unternehmerisch zu handeln, wie es der Produktionsweise des Rheinischen Kapitalismus angemessen ist, scheint nahezu unmöglich.

Warum lobte Schrempp die Mitbestimmung?

Die Mitbestimmung ist ein weiteres Kriterium, an dem sich die Option des Ausstiegs aus der Deutschland AG beurteilen lässt. Die meisten Produzenten diversifizierter Qualitätsprodukte wissen, was sie an ihr haben – und dies nicht nur aus Gründen der Irenik. Wenn DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp kurz vor seinem Rücktritt erneut (wie schon bei der Übernahme von Chrysler) das Loblied der Mitbestimmung anstimmte, so geschah dies nicht ohne wirtschaftlichen Grund. Weder sei sie schädlich für Investitionen in Deutschland, noch hindere sie unternehmerische Entscheidungen (schließlich lagen die Gründe der peinlichen Anlaufschwierigkeiten des Mautprojektes Toll Collect anderswo). Die Mitbestimmung ist vielmehr, so Schrempp, Teil jenes deutschen Modells, das eine kurzfristige Gewinnmaximierung zu Lasten notwendiger Investitionen in die Zukunft verhindert. Waren es die jüngsten Qualitätsprobleme bei der Herstellung von Mercedes-Limousinen oder die erfolgreiche Kooperation mit der IG Metall in Sachen Flexibilisierung, die den Saulus der Amerikanisierung in einen Paulus des Rheinischen Kapitalismus verwandelt haben? Und wurde Schrempp wegen dieser Wende zum Rücktritt gedrängt oder kam sie zu spät, um diesen noch aufzuhalten?

Entscheidend für die Zukunft der Deutschland AG – und des europäischen Rheinischen Kapitalismus überhaupt – wird zweifellos das Selbstverständnis der Banken von ihrer Rolle am Kapitalmarkt sein. In Deutschland ist die Strategie der Großbanken seit vielen Jahren alles andere als deutlich. Die Deutsche Bank bietet dafür ein gutes Beispiel. Nachdem schon Alfred Herrhausens Konzept der Europäisierung des deutschen Bankenmodells nicht konsequent weiterverfolgt wurde, war auch die Flucht nach vorne, ins globale investment banking, nicht wirklich erfolgreich. Seitdem ist eine gewisse Rückbesinnung auf die Stärken des Universalbankprinzips zu spüren. Geblieben ist das Risiko einer feindlichen Übernahme, das aus der Erosion der Deutschland AG resultiert, an deren Fortschreiten die Deutsche Bank nicht schuldlos ist. Dies gilt für die Aufgabe strategischer Positionen der (nach)industriellen governance (einschließlich des Rückzugs aus der Deutschen Börse AG) ebenso wie für den Bruch mit grundlegenden Verhaltensregeln des Rheinischen Kapitalismus, den ihre Repräsentanten öffentlich und an der Grenze zum Rechtsbruch vollziehen. Die Vorstellung, von einem wahren global player geschluckt zu werden, scheint Josef Ackermann dabei weniger zu schrecken als die Perspektiven der deutschen Außenwirtschaft, die sich dann ohne die Hilfe eines nationalen Champions am Weltkreditmarkt bewegen müsste.

Unternehmer können nur dann ihrer Verantwortung gerecht werden, wenn sie wissen wie sie sich verhalten müssen, damit das System funktioniert und wenn sie dies wollen und können. An dieser Stelle kommt die Politik ins Spiel, die daraus konkrete Forderungen an die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ableiten kann. In diesem Sinne gehört es zu den legitimen ordnungspolitischen Aufgaben des Staates und zu den Vorrechten der Öffentlichkeit, auch die Unternehmer auf ihre Verantwortung im sozialen System der Produktion zu verpflichten. Die Folgen unterschiedlicher Unternehmensstrategien sind nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern greifen tief in die Lebensweise der Menschen und in die Verfassung der gesamten Gesellschaft ein. Sie können nicht allein der Eigenverantwortung des Unternehmers überlassen werden. Die Wahl der hier angeführten Optionen setzt politische Grundsatzentscheidungen voraus – zumal keine der alternativen Strategien auf die Ressource Politik verzichten kann.

Der Kampf um die „richtige“ Unternehmens- und Wirtschaftskultur ist in vollem Gange. Die Unternehmer müssen sich dieser Herausforderung stellen. Die Ethik der korporativen Marktwirtschaft, das heißt die Lehre vom richtigen Handeln unter den Bedingungen einer von Unternehmern koordinierten Marktwirtschaft, verlangt von ihren Protagonisten weder Unmögliches noch Opfer auf dem Altar des Gemeinwohls. Verantwortliches Handeln und Eigennutz lassen sich auch im Rheinischen Kapitalismus auf einen Nenner bringen.

Anmerkungen
1 Michel Albert, Capitalisme contre Capitalisme, Paris 1991.
2 Zum Begriff der korporativen Marktwirtschaft siehe Werner Abelshauser, Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, Berlin 2006, Kapitel 3. Der englische Begriff der (business-)coordinated market economy, der auf diese Wirtschaftsweise abzielt, verkürzt zwar den Kreis der Akteure auf unzulässige Weise, meint aber dasselbe.
3 Gustav Schmoller, Das Verhältnis der Kartelle zum Staat, Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik am 27. und 28. September 1905 in Mannheim (Schriften des Vereins für Socialpolitik 116), Leipzig 1906, S. 254.
4 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), Band 1, Hartford 1811, S. 92.
5 Bernard Mandeville, The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits. Containing Several Discourses, to demonstrate, That Human frailties, during the degeneracy of Mankind, may be turn’d to the Advantage of the Civil Society, and made to supply the Place of Moral Virtues, London 1714.
6 Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart 1971, S. 11 und S. 175.
7 Georg Wilhelm, Friedrich Hegel’s Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1833), herausgegeben von Eduard Gans, Berlin 1833, § 188.
8 Abelshauser, Kulturkampf, Kapitel 4 (Anm. 2).
9 Ebenda.
10 Werner Abelshauser, Die BASF seit der Neugründung von 1952, in: ders. (Hrsg.), Die BASF – Eine Unternehmensgeschichte, München 2003, 4. Teil, Kapitel 9.
11 Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 436-453.
12 Alfred Rappaport, Creating shareholder value: the new standard for business performance, New York 1986.
13 Abelshauser, Die BASF seit der Neugründung von 1952, Kapitel 10 (Anm. 10).

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