Gewinnstreben und Kriminalität

Anders als bei »crimes of passion« ist organisiertes Verbrechen regelmäßig eng mit wirtschaftlichen Interessen verbunden. Welche wirtschaftlichen Interessen dabei als legitim gelten, hängt von Faktoren ab, die sich mit der Zeit wandeln können

Der amerikanische Sozialwissenschaftler und Historiker Charles Tilly hat sich in den achtziger Jahren unter dem Titel War Making and State Making as a Form of Organized Crime Gedanken über die Entstehung moderner staatlicher Ordnungen gemacht. Seiner Meinung nach erwachsen diese stets aus einer räuberisch-gewalttätigen Praxis, die sich später den Mantel staatlich-politischer Legitimität umhängt. Auch die heute oft verwendete Floskel vom Räuberkapitalismus verbindet zwei Begriffe, die eine Form des organisierten Wirtschaftens mit einem Typus des Kriminellen zusammenbringt. In der Geschichte finden sich zahlreiche Belege für die radikale Diagnose von Friedrich Nietzsche, am Anfang stehe immer die Gewalt. Eines der gut analysierten Beispiele ist die Entstehung einer Eigentumsordnung von Grund und Boden in den Vereinigten Staaten. Die Expansion nach Westen fand ohne Grundbuch und Katasterregister statt, die rustikalen Praktiken der Öl- und Viehbarone bei der Schaffung von Besitz hat Hollywood in zahllosen Western verewigt.

Was genau als Kriminalität gilt, ist immer umstritten und historisch variabel. Das gilt für die Brot- und Butterdelikte ebenso wie für den politischen Terrorismus, der morgen schon als Freiheitskampf gefeiert werden kann. Es gilt auch für das so genannte organisierte Verbrechen, dessen Protagonisten mit etwas Glück als mutige Gründerfiguren in Erinnerung bleiben – man denke nur an die Geschichte des Kennedy-Clans in den Vereinigten Staaten. Soziologisch gesehen ist jede Ordnung, auch die des Strafrechts, variabel. Und die Geschichte Europas, von wo aus man heute kritische Blicke in andere Regionen der Welt wirft, ist über Jahrhunderte hinweg höchst blutig verlaufen.

Die erste Million? Lieber nicht danach fragen!

Aber ist es uns nicht gelungen, das Verbrechen und die Gewalt als Mittel der Politik und des gesellschaftlichen Verkehrs weitgehend auszumerzen? Herrschen hier nicht Recht und Ordnung? Kann man nicht zwischen kriminellen Formen der Bereicherung und rechtmäßigen Formen des Erwerbs von Reichtümern unterscheiden? Glaubt man dem Volksmund, so sollte man Millionäre nie fragen, wie sie ihre erste Million erworben haben. Ist der Grundstock des Kapitals erst mal gelegt, dann geht es leicht weiter bergauf. Aber aller Anfang ist schwer und – so die historische Erfahrung – auch nicht immer ganz legal.

Wie diese kurzen Überlegungen zeigen, ist das, was man als organisiertes Verbrechen bezeichnen kann, immer eng mit wirtschaftlichen Interessen verbunden. Im Gegensatz zu den crimes of passion, den Taten, die aus einer spontanen Gefühlserregung heraus entstehen, findet sich hinter der Organisierten Kriminalität immer ein ökonomisches Motiv. Diese Nähe von Profitstreben und Kriminalität bereitet auch dem Recht nicht unerhebliche Schwierigkeiten, wenn es um klare Definitionen geht. Die auf Gewinnstreben gerichtete, organisierte planmäßige Begehung von Straftaten von mehr als zwei Beteiligten, so die Definition der deutschen Justiz, lässt sich manchmal nur schwer anwenden, um illegales wirtschaftliches Handeln von legalem abzugrenzen. Hinzu kommt, dass jede Form des Wirtschaftens – sei sie legal oder illegal – auf der gleichen Grundlage basiert: Es geht darum, durch Ausbeutung von anderen, durch Kauf und Verkauf, Profite zu erzielen.

Butter in die Vatikanstadt und wieder heraus

Ein klassisches Beispiel für die Verquickung von legalen und illegalen Geldkreisläufen liefert der internationale Drogenhandel. Nicht zufällig sind die Hauptanbaugebiete in Südamerika und im Nahen und Mittleren Osten Schauplatz langanhaltender bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Guerillabewegungen und der dortigen Staatsmacht. Das Geld aus dem Drogenhandel wird über die Kanäle der Organisierten Kriminalität gewaschen und zum Ankauf von Waffen und von chemischen Grundstoffen zur Drogenproduktion verwendet. Diese kommen wiederum in den Anbaugebieten zum Einsatz. Der Tausch Drogen-Waffen-Drogen schließt zwei ökonomische Kreisläufe kurz. In der Gemengelage der beteiligten Akteure verwischen sich schnell die Grenzen. Wenn Geheimdienste, Warlords, politische Aktivisten, Großunternehmen, Banken, Waffenexporteure und ganz gewöhnliche Kriminelle im Dschungel der globalen Warenströme ihren Geschäften nachgehen, wird das Schwert des Rechts schnell zur stumpfen Klinge. Dabei muss es nicht immer blutig zugehen. Einige Formen der Organisierten Kriminalität umgehen schlichtweg geschickt existierende gesetzliche Regelungen. Klassische Beispiele sind Zolldelikte oder der Betrug mit Ein- und Ausfuhrbescheinigungen. Wer auf dem Papier tonnenweise Butter aus der Produktion der Europäischen Union in den Vatikanstaat exportiert und dann wieder reimportiert, kann damit viel Geld verdienen. Wem es gelingt, giftigen Sondermüll als Zwischenprodukt eines industriellen Veredelungsprozesses zu definieren und kostengünstig in Rumänien zu entsorgen, hat damit ebenfalls eine sprudelnde Geldquelle aufgetan. Wer sich wie bestimmte Mitarbeiter bestimmter Banken informell auf Preise einigt, die eigentlich von der unsichtbaren Hand des Marktes bestimmt werden sollten, ist auf dem besten Wege zu erklecklichem Reichtum.

Anders gelagert sind jene Fälle, in denen auf dem Markt nachgefragte Waren und Dienstleistungen angeboten, aber von der als legal bezeichneten Ökonomie nicht zur Verfügung gestellt werden. Drogen sind ein klassisches und viel diskutiertes Beispiel. Seriöse Ökonomen haben vorgerechnet, dass eine auf Verboten basierende Drogenpolitik nicht nur erhebliche gesellschaftliche Kosten erzeugt, sondern auch das Geschäftsmodell der Organisierten Kriminalität absichert. Aufgrund ihres Monopols kann diese die Preise hoch halten. Das „Drogenproblem“ aus dem Bereich der Strafverfolgung in den Bereich der Gesundheitspolitik zu überführen, ist eine Frage des politischen Willens. Auf diese Weise würden nicht nur Kosten gespart, sondern zugleich würde einem Teil der Organisierten Kriminalität die Geschäftsgrundlage entzogen. Solche Formen der Umetikettierung sind möglich. Man denke etwa an die Fluchthelfer, die zur Zeit des Kalten Krieges Menschen aus dem Ostblock gegen Bezahlung in den Westen schmuggelten. Sie wurden als Helden gefeiert und hierzulande mit Orden dekoriert. Heute erfüllen Fluchthelfer den Tatbestand des Menschenhandels, wenn sie Flüchtlinge aus dem globalen Süden nach Europa schleusen.

Erst Unsicherheit erzeugen, dann Schutz bieten

Eine dritte Form der Organisierten Kriminalität lässt sich stilisieren, wenn man jene Länder betrachtet, deren Staatsapparat die von Thomas Hobbes als zentrale Staatsaufgabe bezeichnete Leistung nur bedingt bereitstellen kann: die Sicherheit der Bürger. Wer etwa in Moskau seinen Geschäften nachgehen möchte, der zahlt nicht nur Steuern an den Staat, sondern auch Schutzgeld an andere Organisationen, die staatsäquivalente Leistungen wie Sicherheit anbieten. Das gelingt auch hierzulande: Erzeuge Unsicherheit und biete dann gegen Bezahlung entsprechender Schutzgeldprämien Sicherheit an. Es ist vermutlich nur eine milde Stilisierung, wenn man an dieser Stelle von einer teilweisen Privatisierung öffentlicher Güter ausgeht. Ebenso wie andere staatliche Monopole fallen, von der Bahn über die Post bis zum Fernmeldebereich, so kann auch das Gewaltmonopol und Sicherheitsversprechen des Staates Konkurrenz bekommen. Wer schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, auf die Dienste eines staatlichen Gerichtsvollziehers angewiesen zu sein, der wird sofort verstehen, dass private Inkassounternehmen Konjunktur haben, die oft mit sehr hemdsärmeligen Methoden zur Sache gehen, um Schulden einzutreiben. Wer erlebt hat, wie Polizei und Justiz gegenüber ethnischen Minderheiten reagieren, kann nachvollziehen, warum sich so genannte Parallelgesellschaften entwickeln, in denen nicht-staatliche Akteure für Sicherheit und Ordnung sorgen. Von außen betrachtet liegt dann schnell der Verdacht der Organisierten Kriminalität nahe.

Die »Nützlichen Feinde« wechseln sich ab

Last but not least sollte man immer auch bedenken, dass Phänomene wie die Organisierte Kriminalität eine wichtige symbolische Funktion für die Politik erfüllen. Das Bundeskriminalamt war nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten auf ein Mindestmaß an Kompetenzen und Aufgaben reduziert worden, expandierte dann aber zu Zeiten der RAF in den siebziger und achtziger Jahren um ein Vielfaches. Nach dem Ende des linksextremistischen Terrorismus war der Behörde ihr Feind abhanden gekommen. Diese Lücke füllte das Organisierte Verbrechen. Die neue Bedrohung erwuchs nicht mehr aus einer kleinen Gruppe fanatisierter politischer Gewalttäter, sondern es waren die international agierenden Kartelle der Organisierten Kriminalität, oft in vermeintlicher Verbindung mit radikalen Kräften des Islam, die jetzt den Aufwand rechtfertigten. Das heißt natürlich nicht, dass es die als bedrohlich beschriebenen Phänomene nicht gibt. Bemerkenswert ist nur, dass sich Konjunkturen von „nützlichen Feinden“ immer so abwechseln, dass es für die Sicherheitsorgane und den Staat genügend Bedrohungen gibt, gegen die es sich zu wehren gilt. Die Organisierte Kriminalität ist also immer auch eine politisch-moralische Kategorie, ein Symbol für eine Bedrohung, die nicht zuletzt auch Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger rechtfertigen kann, um diese gegen die realen oder vermeintlichen Gefahren zu beschützen.

Entkleidet man hingegen die unter dem Begriff Organisierte Kriminalität versammelten Phänomene dieser moralisch-politischen Zusätze, so bleiben im kalten Licht der Analyse rational rekonstruierbare Motive und Mechanismen übrig. Staatliche Gesetze haben Lücken, die man profitabel nutzen kann. Märkte bieten Chancen für Angebote, für die es immer eine Nachfrage geben wird. Globale Verschiebungen erzeugen Möglichkeiten, aus Reichtums- und Wohlfahrtsgefällen Profit zu schlagen. Eine schlechte Versorgung mit öffentlichen Gütern schafft Raum für private Alternativangebote. In allen Fällen ist das organisierte, planmäßige Gewinnstreben die Triebfeder. Ob dieses Gewinnstreben als legitimes Wirtschaften oder Organisierte Kriminalität zu bezeichnen ist, hängt von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt von der Politik, die anstelle kluger Entscheidungen oft Probleme mit Verboten zu lösen versucht – und damit immer neue Geschäftsmodelle für das mehr oder weniger gut organisierte Verbrechen hervorbringt.

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