Generation Zschäpe

zu Mehmet Daimagüler, Der NSU-Komplex und wir, Berliner Republik 6/2015

„Der NSU-Komplex und wir“ – darüber schrieb Mehmet Daimagüler in der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik. Mich beschäftigen die Fragen, um die es Daimagüler geht, seit Jahren besonders intensiv, nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch aus biografischen.

Ich selbst bin ziemlich genau so aufgewachsen wie die zwei Uwes, wie Beate, wie viele andere in ihrem Umfeld. Wir gehören der gleichen Generation an. Die Wende hat meiner Familie genauso wie ihren Familien den Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre wie meine Familie haben nach dem Umbruch 1989 schwierige Zeiten erlebt – neben all der Freude und all den Chancen, die sich für uns damals ergaben.

Menschen, die die gleichen Einstellungen wie Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe hatten und haben, saßen neben mir auf der Schulbank. Sie sind natürlich nicht zu solch furchtbaren Terroristen geworden. Angst verbreitet haben sie aber sehr wohl. Stets haben wir uns vor ihnen gefürchtet: vor ihren Einschüchterungen, ihrem Konformitätsdruck, ihren Gewaltandrohungen, vor ihrem lautem Stolz auf ihr „Deutschsein“, vor ihrem Hass auf uns, die wir nicht hassen wollten.

Dorffeste, Karneval, Sportveranstaltungen? Nichts für uns. In meiner Jugend war es völlig klar, dass wir mit langhaarigen Jungs, mit grünhaarigen Mädchen, mit den migrantischen Bekannten dort nicht hinzugehen brauchten – es sei denn, wir wären auf Ärger aus gewesen.

Ist es heute so viel anders? Es gibt viele neue und alte Uwes und Beates. Sie gehen jeden Tag auf die Straße. Montags für Pegida in Dresden. Dienstags für die AfD in Großenhain. Mittwochs für den Heimatschutz in Meißen. Donnerstags für die NPD in Riesa. Es passiert jeden Tag. Oftmals ohne jede Ankündigung, und daher ohne Schutz für jene, die plötzlich zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Wobei auch dies eine Täter-Opfer-Umkehr ist. Denn für die Betroffenen von rassistischer und rechter Bedrohung sollte kein einziger Ort in Deutschland der „falsche“ Ort sein.

Vor diesem Hintergrund stimme ich Mehmet Daimagüler in fast allen seinen Punkten zu – und unterstützte besonders seine Forderung nach umfassender Aufklärung des „NSU-Komplexes“, damit den Opfern, ihren Angehörigen und uns als Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren kann. Erst dann kann das Vertrauen, das verloren gegangen ist, wieder wachsen. Nur, wo ist der Ort, dies zu leisten – und wer kann dies vollbringen? Ist ein Gerichtsprozess allein überhaupt in der Lage dazu?

Mehmet Daimagüler benennt einige der vielen offenen Fragen, die viele von uns beschäftigen und die im Prozess ausgeklammert werden. Auch ich möchte wissen: Wer war an den Taten beteiligt, wer hat sie unterstützt? Und wer wusste zumindest Bescheid? Weshalb wurden genau jene Menschen zu Opfern, deren Fälle nun vor Gericht verhandelt werden? Und warum haben unsere Behörden so dermaßen versagt? Was sagen die Geschehnisse über die Abläufe und die Kultur in unseren Behörden aus – aber auch in Politik, Zivilgesellschaft und den Medien, wo ebenfalls kaum jemand einen rassistischen und neonazistischen Hintergrund in Erwägung zog?

Im Gegenteil: Angehörige und Betroffene, die auf einen solchen Zusammenhang aufmerksam machen wollten, wurden selbst verdächtigt. Auch nachdem sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt selbst enttarnt hatten, ließen Politik und Medien jede Sensibilität vermissen und übernahmen den diffamierenden Sprachgebrauch einiger Behörden.

Dass das Strafverfahren zu teuer oder zu langwierig ist, sei kein gültiger Einwand, schreibt Daimagüler. Das ist richtig und gilt übrigens auch für andere Prozesse. Doch kann ein juristischer Prozess überhaupt all unsere offenen Fragen beantworten? Um es vorwegzunehmen: Ich glaube es nicht. Ohne Frage: Strafrechtliche Fragen gehören vor Gericht. Sollten mehr Täter am NSU beteiligt gewesen sein, als bisher bekannt, gehören auch diese vor Gericht. Denn Straftaten müssen gesühnt werden. Das erwarten wir von unserem Rechtsstaat.

Doch der Fall NSU wirft größere Fragen auf, als dass ein Gerichtsprozess allein sie fassen und beantworten könnte. Würden wir unsere Aufmerksamkeit und Erwartungen lediglich an die Justiz richten, wäre dies eine ziemlich bequeme Situation für all jene, die eigentlich in der Pflicht sind, Antworten auf unsere Fragen zu finden. Die politische Seite des NSU-Komplexes muss daher auch im politischen Raum aufgeklärt werden.

Zweifellos: Der Prozess ist von politischer Relevanz. Aber das Strafrecht wird deshalb nicht zu einem politischen Strafrecht. Menschenverachtende Motive wirken zwar strafverschärfend, eine Straftat muss aber dennoch vorliegen. Sonst wird die Justiz nicht tätig. Genau an diesem Punkt müssen wir ansetzen, um den NSU-Komplex tatsächlich aufklären zu können. Und deshalb erwarte ich, dass sich niemand aus seiner Verantwortung stiehlt. Gerade dann, wenn es nicht um strafrechtliche Fragen geht, bedarf es anderer Instrumente zur Aufklärung – wie etwa den neu konstituierten Untersuchungsausschuss des Bundestages oder die Untersuchungsausschüsse der Länder. Die ideologischen Aspekte des NSU und seiner Unterstützer werden im Strafprozess bewusst weitgehend ausgeklammert. Und deshalb müssen wir sie thematisieren. Über die Arbeit in den Untersuchungsausschüssen hinaus tragen wir als Politikerinnen und Politiker zudem Verantwortung für die Opfer und Betroffenen von rechter Gewalt.

Auch andere müssen sich fragen: Wurde der NSU wirklich als Anlass zur Reflexion und zur fundierten Selbstkritik genommen? Gehen die deutschen Medien heute sensibler mit Rassismus um als früher? Berücksichtigen sie alle Bedrohungslagen gleichermaßen? Ich fürchte nicht.

Der NSU-Prozess in München trägt unzweifelhaft einen großen Teil zur Wiedergutmachung bei. Werden die Beteiligten in ihrer Arbeit behindert, wie Mehmet Daimagüler es andeutet, ist dies aufs Schärfste zu verurteilen.

Der Prozess am Oberlandesgericht in München entlässt uns jedoch nicht aus unserer Verantwortung. Deshalb stellen wir uns als Abgeordnete in den Untersuchungsausschüssen den offenen Fragen. Denn es ist unsere Aufgabe, Antworten zu finden. Die enge Zusammenarbeit mit den Opfern, ihren Angehörigen und den juristischen Vertretern ist uns dabei Anliegen und Verpflichtung zugleich.

Ein Phänomen, das Daimagüler beschreibt, beschäftigt mich seit meiner Jugend: die öffentliche Wahrnehmung von nazistischer und menschenverachtender Bedrohung und Gewalt. Die Opfer sind bekannt: Migranten, Deutsche mit Einwanderungsgeschichte in der Familie, „Linke“, oftmals auch Menschen, die lediglich „nicht rechts“ sind, Muslime, Juden, Obdachlose, Menschen mit Behinderungen, Schwule, Lesben, Transmenschen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie alle haben oft Angst. Insofern sind sie „besorgte Bürgerinnen und Bürger“. Doch wird ihre Angst überhaupt öffentlich wahrgenommen? Wo bleibt der Aufschrei, wenn sie angegriffen werden? Fast 1 000 Angriffe auf Unterkünfte für Geflüchtete wurden im vergangenen Jahr gemeldet. 50 Drohanrufe und hunderte Hassmails erhielt der Zentralrat der Muslime Anfang Januar allein an einem Tag. Menschen werden aus offenkundig rassistischen Motiven in unseren Innenstädten von Gruppen angegriffen, die sich vorher über soziale Medien verabredet haben. Partei- und Abgeordnetenbüros werden verwüstet. Menschen werden beschimpft und bespuckt, weil sie Geflüchteten helfen. Auch diese Liste ließe sich fortführen.

Daimagülers Mitleid mit den Kindern, die Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt einst waren, kann ich daher nur sehr begrenzt nachempfinden. Sicher, ein Kind wird nicht als Nazi oder Mörder geboren. Wie jemand zu einem Täter wird, ist eine Frage, die für jede Gesellschaft schmerzhaft ist – und der sie sich deshalb nur ungern stellt. Nazis und Mörder, das sind immer die Anderen. Gleichzeitig haben viele von uns kein Problem damit, alle Muslime für den islamistischen Terror verantwortlich zu machen – eine Doppelmoral, die sich viele nicht bewusst machen wollen.

Trotz der familiären und gesellschaftlichen Einflüsse, die dazu beitragen, dass aus Kindern Menschen werden, die andere Menschen verachten: Die Entscheidung, die jemanden zum Täter macht, trifft immer noch jeder für sich selbst.

Aber welche zentrale Einsicht sollte nun aus unserem Wissen über den „NSU-Komplex“ folgen? Wahrscheinlich nicht zuletzt die, dass wir von einem handlungsfähigen Staat Sicherheit erwarten – und zwar Sicherheit für alle. Angesichts einer Gefährdung erwarten wir Beistand von unseren Mitmenschen ebenso wie vom Staat. Der NSU-Prozess in München kann uns dabei nur mittelbar helfen. Damit Integration, Mitmenschlichkeit und Offenheit eine Chance haben, benötigen wir einen Aufschrei auch dort, wo Deutsche aus rassistischen und anderen menschenverachtenden Motiven zu Tätern werden. Nur dann gilt das Sicherheitsversprechen tatsächlich für alle.

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