Gehört die Zukunft noch der Familie?

Im Mittelpunkt jeder Familienpolitik muss das Interesse der Familien stehen. Das Konzept der ganztägigen Betreuung von Kindern aber soll die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf fördern - und gefährdet so die Familie als Ort der Geborgenheit

Die sozialdemokratische Familienpolitik hat in den vergangenen Jahren einen grundlegenden Wandel erfahren. Bestimmten in der letzten Legislaturperiode noch die Themen Kindergelderhöhung, Elternzeit oder das Recht auf Teilzeitarbeit die Diskussion, so führten PISA und die anstehende Bundestagswahl 2002 zur Entstehung eines Gegenmodells, das in letzter Konsequenz die Zerstörung der Familie bewirken kann.(1)

Zentrale Bedeutung in der sozialdemokratischen Familienpolitik hat die Ganztagsfremdbetreuung (im Folgenden: Ganztagsbetreuung). In der Ausgabe 6/2003 der Berliner Republik stellte Gøsta Esping-Andersen sehr eindringlich dar, dass eine allgemeine und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung gegen "soziale Vererbung" wirkt, indem sie die mütterliche Erwerbstätigkeit steigert und das Bildungsniveau der Kinder verbessert.(2) Die SPD erhofft sich außerdem von ihrer Politik langfristig mehr Wirtschaftswachstum, einen Anstieg der Geburtenrate und eine Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme. Die Ganztagsbetreuung besitzt also Mittelcharakter bei der Lösung von Problemen im Bereich der Bildungs-, Beschäftigungs-, Gleichstellungs- und Bevölkerungspolitik. Letztlich wird damit jedoch die Familienpolitik insgesamt zum Mittel reduziert, statt sich für ihr eigenes Ziel, also die Förderung der Familie, einzusetzen.

Die Argumentation für die Ganztagsbetreuung stützt sich im Wesentlichen auf vier Behauptungen, die sich bei näherem Hinsehen als nicht oder nur teilweise gültig erweisen:

Erstens: "Ganztagsbetreuung dient dem Interesse der Familie." Wer dies behauptet, setzt voraus, dass die Familie eine homogene, von identischen Interessen geleitete Gruppe ist - was nicht der Wirklichkeit entspricht. Das betrifft vor allem das Bedürfnis der Kinder nach unbegrenzter elterlicher Zuwendung, besonders im Baby- und Kleinkindalter (3), während die Eltern auch noch anderen Beschäftigungen nachgehen müssen oder wollen. Eine Trennung von den Eltern ist zunächst nicht im Interesse des Kindes. Ganztagsbetreuung dient also primär dem Interesse der Eltern - einiger Eltern, denn andere Eltern empfinden eine ganztägige Abwesenheit ihrer Kinder als entfremdetes Familienleben.

Weniger Geborgenheit in der Krippe

Zweitens: "Ganztagsbetreuung dient der besseren Bildung der Kinder." Dieser Satz trifft nur auf einen Teil der Kinder zu, in Abhängigkeit vom Alter eines Kindes, vom Bildungsstand seiner Familie und von der Qualität der jeweiligen Betreuungseinrichtung oder Schule. Die meisten Einwände betreffen die Krippen. Im Alter von null bis drei Jahren werden die Grundlagen für kognitive und sprachliche Fähigkeiten und für soziale Bindungen gelegt; die dafür notwendige Geborgenheit und intensive teilnehmende Begleitung können Krippen weniger gut gewährleisten als Familien. Dagegen profitieren Kinder ab drei Jahren unbestreitbar vom Kindergarten. Dass jedoch der Ganztagsbetrieb gegenüber dem Halbtagsbetrieb einen zusätzlichen Vorteil bringt, darüber herrscht unter Fachleuten kein Konsens. Ein Einwand von kinderärztlicher Seite ist, dass die ausgeprägte Trennung vom primären Bindungspartner für das Kind eine Belastung darstellt, die lange nachwirkende Persönlichkeitsstörungen zur Folge haben kann.(4) Für die Schule gilt zusätzlich, dass chronobiologische Befunde vor allem bei jüngeren Schulkindern (ein Tief der physiologischen Leistungsbereitschaft am Mittag und frühen Nachmittag) dem Lernerfolg am Nachmittag entgegenstehen.(5)

Machen Ganztagsschulen dümmer?

Ein zentrales Argument für die Ganztagsbetreuung ist die Förderung von Kindern so genannter "bildungsferner Schichten". Es gibt aber auch Kinder, in deren Familien Bildung und ihre Vermittlung einen hohen Stellenwert haben. Diese würden sich durch den Besuch von Ganztagseinrichtungen verschlechtern, so dass auch hier kein einheitliches Interesse festgestellt werden kann. Der PISA-Studie ist zu entnehmen, dass die Unterrichtswirksamkeit deutscher Schulen erhöht werden muss. Sie wird nicht dadurch besser, dass die Schüler auch nachmittags in der Schule bleiben. Dies wird auch in einer neuen Studie des Deutschen Instituts für internationale Pädagogische Forschung deutlich: Das Ergebnis einer Aufarbeitung deutschsprachiger Untersuchungen zur Wirkung ganztägiger Schulorganisation ist, dass vermutlich die "Ganztagsorganisation als solche im allgemeinen keine Auswirkungen auf das Leistungsniveau der Schulen" hat.(6)

Drittens: "Ganztagsbetreuung dient der Vereinbarkeit von Familie und Beruf." Diese ist vor allem ein Problem der Mütter, für das es unterschiedliche Lösungsansätze gibt. Wer von Vereinbarkeit spricht, impliziert, dass Familie und Beruf das gleiche Recht haben, Ansprüche an die Mütter zu stellen, das heißt: prinzipielle Gleichberechtigung von Familienarbeit und Erwerbsarbeit. Der Ausbau der Ganztagsbetreuung zielt allein auf die Förderung der Erwerbsarbeit. Andere Maßnahmen, die der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dienen, sind die (finanzielle) Unterstützung der Familienarbeit und besonders die Förderung von Teilzeitregelungen, denn die eigentliche Vereinbarkeit von Beruf und Familie liegt in der Teilzeitarbeit. Es ist nachgewiesen worden, dass in Teilzeit arbeitende Mütter eine höhere Lebenszufriedenheit haben als gar nicht oder ganztags beschäftigte Mütter - letztere sind am unzufriedensten.(7)

Viertens: "Ganztagsbetreuung dient der Steigerung der Geburtenrate und somit der Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme." Die Statistik zeigt, dass das nicht stimmen muss, denn die Geburtenrate in Berlin und Ostdeutschland liegt unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt.(8) Der OECD-Index für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in Schweden am höchsten(9), die Gesamtfruchtbarkeitsrate liegt aber kaum über dem Durchschnitt in der EU.(10) Zu den möglicherweise wichtigeren Entscheidungskriterien für oder gegen Kinder zählen persönliche Gründe wie der Stellenwert von Partnerschaft und Familie im persönlichen Wertesystem, die Bereitschaft, auf individuelle Lebensplanung zu verzichten und Verantwortung für Kinder zu übernehmen, und ökonomische Gründe wie die finanzielle Situation, die Arbeitsplatzsituation und deren Unsicherheit in der Zukunft.

Kälte bedroht die Gesellschaft

Selbst wenn man den Mittelcharakter der Familienpolitik akzeptiert, stellt sich also die Frage, ob die Ganztagsbetreuung wirklich das am besten geeignete Mittel ist, die genannten Ziele zu erreichen. Die Befürworter der Ganztagsbetreuung müssen sich fragen lassen, ob sie nicht vielmehr der Verführung der einfachen Lösung erlegen sind, und darüber hinaus - und viel wichtiger - ob sie die möglichen negativen Langzeitfolgen der Ganztagsbetreuung vor allem in Bereichen wie Persönlichkeitsentwicklung, Bindungsfähigkeit und Sozialverhalten der Kinder ausreichend evaluiert und in ihre Überlegungen einbezogen haben. Die Soziobiologin Sarah Blaffer Hrdy nennt es eine "absolute Neuheit" der Evolutionsgeschichte mit "hochgradig experimentellem Charakter", wenn man Kleinkinder "in Gruppen zusammenlegt, in denen sie mehrere Stunden am Tag unter der Aufsicht bezahlter Alloeltern verbringen ..., von denen man gleichwohl erwartet, dass sie sich wie Verwandte verhalten".(11) Es sollte uns auch bewusst sein, dass die Erziehung unserer Kinder die Gesellschaft, das Wertesystem und das soziale Klima der Zukunft prägen wird. Dass Gøsta Esping-Andersen die Kinder zu einem "sozialen Gut" deklariert(12), in dessen "Qualität"(13) er investieren will, und dass er (bizarrerweise) allein die Schulleistungen der Kinder als Kriterium dafür anführt, dass die Berufstätigkeit der Mütter keinerlei negative Effekte habe(14), lässt die drohende Kälte erahnen. Diese bedroht auch uns, die zukünftigen Alten.

Was ist familienzentrierte Familienpolitik?

Ich plädiere deshalb dafür, den Stellenwert der Ganztagsbetreuung innerhalb der sozialdemokratischen Familienpolitik neu zu überdenken und die Familie wieder ins Zentrum der Familienpolitik zu rücken. Die Idee einer familienzentrierten Familienpolitik möchte ich im Folgenden kurz skizzieren.

Die Familie sollte als grundlegendes Modell von Uneigennützigkeit und Solidarität erkannt werden und als der Ort, an dem durch Geborgenheit und intensive Zuwendung die beste Förderung eines Kindes möglich ist. Die Erziehungskompetenz der Eltern sollte anerkannt und gestärkt, die "pädagogisch ungezielte Atmosphäre der Familienerziehung" nicht abgewertet werden(15), was meist einhergeht mit der Aufwertung der Arbeit von "Fachkräften".(16) Eltern haben im Allgemeinen ein elementares Interesse daran, ihr Kind zu fördern - sie möchten nicht, dass es später von Sozialhilfe lebt oder drogensüchtig wird. An diesen Impuls, das Kind voranzubringen (was für Eltern auch bedeutet, die eigenen Gene voranzubringen), muss angeknüpft werden.

Vor allem in den ersten Lebensjahren sollten die Eltern darin unterstützt werden, ihre Kinder zu Hause zu erziehen, weil das deren Bedürfnissen am besten entspricht. Erst wenn Eltern das nicht können oder wollen, muss der Staat sie und vor allem ihre Kinder unterstützen und Ersatz bereitstellen, und zwar am besten durch familienähnliche Betreuungsformen. Allerdings sollten auch Eltern, die (finanzielle) Nachteile in Kauf nehmen, um Zeit für ihre Kinder zu haben, Unterstützung erhalten und nicht zusätzlich belastet werden, indem ihnen etwa durch Umverteilung die Kosten für die Ganztagsbetreuung anderer Kinder aufgebürdet werden.

Richtig viel Geld für die Mutterschaft zu Hause

Da das Dilemma, sowohl für die Kinder als auch für das eigene Fortkommen im Beruf sorgen zu müssen, gegenwärtig vor allem die Mütter betrifft, müssen die Nachteile minimiert werden, die sie durch das Aufziehen von Kindern haben. Das bedeutet Investition in die Familienarbeit (Kindergeld, Erziehungsgehalt) genauso wie in die Erwerbsarbeit (Kinderbetreuung) und vor allem, da die meisten Frauen sich nicht ausschließlich und nicht auf unbegrenzte Dauer ihren Kindern widmen wollen? Unterstützung des Wiedereinstiegs in den Beruf und der Teilzeitarbeit. Nur wenn Frauen klar ist, dass die Mutterschaft für sie keinen Verlust an Emanzipation bedeutet und dass sie dadurch weder dazu gezwungen werden, ihr Leben lang zu Hause zu bleiben, noch dazu, ihre Kinder zu früh und zu lange durch fremde Personen versorgen zu lassen, werden sie sich leichter für die Gründung einer Familie entscheiden können.

Das Bildungssystem muss den Kindern eine qualitativ hochwertige Bildung vermitteln. Es kann zusätzlich die Eltern unterstützen, indem es ergänzende Betreuung anbietet. Für die vorschulische Bildung ist der Halbtagskindergarten ab drei Jahren zu empfehlen. Noch früher sollte aber die Elternbildung (vor allem der "bildungsfernen Schichten") gefördert werden - Frühförderung ist Familienfrühförderung. Eltern müssen lernen, dass nur eine gute Bildung ihrem Kind Chancen eröffnet und dass sie ihrem Kind gegenüber verpflichtet sind, Betreuungsangebote in Anspruch zu nehmen, wenn sie selbst nicht in der Lage sind, diese Bildung zu vermitteln. Eltern und Bildungsinstitutionen sollten zusammenarbeiten, da das Ziel, die Kinder zu fördern, so am besten erreicht werden kann.

Schule sollte sich als Förderzentrum mit vielfältigen Unterstützungsangeboten zur Elternbildung und Erziehungsberatung verstehen. Förderangebote für besonders schwache, aber auch für begabte Kinder sollten eingerichtet werden, eventuell im Rahmen einer offenen Ganztagsschule. Berücksichtigt werden sollte, dass Schule auch ein Ort der Selektion ist und bleiben wird: Der Leistungsgedanke wird in die Schüler implementiert und bestimmt das Schulklima und die soziale Rollenverteilung unter den Schülern. Nicht wenige Schüler würden deshalb eine außerschulische Nachmittagsbetreuung einer Verlängerung der Schulzeit vorziehen. In Finnland, dem großen Vorbild nach PISA, gibt es kein Schulsystem mit Ganztagsunterricht.(17)

Lieber alles erst einmal in Ruhe evaluieren

Der Arbeitsmarktpolitik kommt vor allem die Aufgabe zu, die Widersprüche zwischen Beruf und Familie abzubauen und den Müttern die bessere Vereinbarkeit zu ermöglichen. Letzteres könnte geschehen durch Förderung von Wiedereinsteigerinnen (etwa durch Priorität bei der Arbeitsplatzvergabe, Rotation mit Elternzeitnehmern und -nehmerinnen), Berufsberatung von Frauen zur Erarbeitung eines individuell passenden Modells der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vor allem durch bedarfsgerechte Bereitstellung von qualifizierter Teilzeitarbeit (auch für Väter); denkbar wären auch Familienteilzeitmodelle (analog zur Altersteilzeit).

Bevor also viel Geld in einen radikalen Umbau des Bildungssystems investiert wird, und das mit unsicherem Ergebnis, erscheint es sinnvoller, eine Erprobung und Evaluation der geplanten Maßnahmen und ihrer möglichen Alternativen vorzunehmen, beispielsweise an Schulen mit unterschiedlichen Ganztagsmodellen, familienzentriert arbeitenden Modellschulen und Einrichtungen zur Familienfrühförderung. Mit der Ausarbeitung von Richtlinien und Empfehlungen für die Kinderbetreuung sollten Experten unterschiedlicher Fachgebiete (neben Pädagogen etwa Entwicklungspsychologen, Soziobiologen und Kinderärzte) beauftragt werden.

Anmerkungen:

(1) Im Folgenden wird der sozialdemokratische Familienbegriff zu Grunde gelegt: "Familie ist da, wo Kinder sind."
(2) Esping-Andersen, Herkunft und Lebenschancen, in: Berliner Republik 6/2003, S.42-57.
(3) "In ihrem Wunsch, im Arm gehalten zu werden und sich in der Gewissheit aalen zu können, geliebt zu werden, sind menschliche Kinder fast unersättlich.", aus: Hrdy, Mutter Natur: Die weibliche Seite der Evolution, Berlin 2000, S. 559.
(4) Pechstein, Zu Lasten der Schwächsten; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.5.2003.
(5) Ebd.
(6) Radisch und Klieme, Wirkung ganztägiger Schulorganisation. Bilanzierung der Forschungslage, Deutsches Institut für internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt am Main 2003, S. 38.
(7) Trzcinski und Holst, Hohe Lebenszufriedenheit teilzeitbeschäftigter Mütter; in: Wochenbericht des DIW Berlin 35/2003, S. 539-545.
(8) Der Spiegel 44/2003, S. 87.
(9) Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft 29/2003, S. 5.
(10) Stand 2001; siehe Aus Politik und Zeitgeschichte 44/2003, S. 38.
(11) Hrdy (Anm. 3), S. 573.
(12) Esping-Andersen (Anm. 2), S. 51.
(13) Ebd.
(14) Ebd., S. 56.
(15) So aber Dienel in: Familienpoltik im europäischen Vergleich; in: Berliner Republik 2/2001, S. 14.
(16) in: Fthenakis et al., Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland, hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2003, S. 10.
(17) Die Schule dort entspricht zunächst einer verlässlichen Halbtagsschule mit warmem Mittagessen; mit zunehmendem Alter der Schüler wird der Unterricht in den Nachmittag hinein ausgedehnt. Hierzu und zur Diskussion in Finnland siehe Matthies, Finnisches Bildungswesen und Familienpolitik: ein "leuchtendes" Beispiel?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41/2002, S. 38 ff.

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