Gedöns? Nein, Standortfaktor!

Wer progressive Wirtschaftspolitik machen will, muss heute die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Mittelpunkt rücken. Das ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch der Wettbewerbsfähigkeit. Die "gehetzte" Generation der 30- bis 50-Jährigen zu unterstützen und unsere Wirtschaft im internationalen Wettbewerb zu stärken - beides gehört unmittelbar zusammen

Der Versuch, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, stößt schnell an seine Grenzen. Das gilt auch für Minister. So staunten einige im Saal nicht schlecht, als ich mich 2011 als frisch gebackener Minister den Beschäftigten meines Hauses vorstellte und ankündigte, dass ich die erste Woche vormittags von zu Hause aus arbeiten würde, bis sich meine damals 18 Monate alte Tochter an die neue Tagesmutter gewöhnt hätte. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Und doch war meine Ankündigung hoch umstritten. Zwar freuten sich viele – besonders weibliche Beschäftigte – darüber, dass der Minister ihr Problem aus eigener Erfahrung kennt. Andere dagegen rümpften nach 58 Jahren CDU-Regierung die Nase über so viel Fortschrittlichkeit. Eine große Regionalzeitung titelte gar: „Nils Schmid als Halbtags-Minister“.

In der Wirtschaft fehlt zuweilen die Weitsicht

Dennoch bin ich froh, dass ich diesen Weg gegangen bin: Erstens, weil ich diesen wichtigen Lebensabschnitt mit meiner Tochter verbringen konnte. Zweitens ist es wichtig, dass wir, die in der SPD in Verantwortung stehen, nicht immer von der partnerschaftlichen Familie reden, nur um dann bei der ersten Bewährungsprobe in alte Familienmuster zurückzufallen. Und drittens ist es die Aufgabe einer Führungsfigur, Werte nicht nur zu vermitteln, sondern sie auch selbst zu verkörpern und vorzuleben.

Zugleich habe ich eine direkte Vorstellung davon bekommen, welchen Gegenwind viele Altersgenossinnen und -genossen bekommen, wenn sie Familie und Beruf vereinbaren wollen. Denn wenn man schon als Minister auf derartige Vorbehalte stößt, wie geht es dann erst jungen Frauen und Männern, die bei ihren Vorgesetzten und Kollegen um Verständnis für die besondere Situation junger Familien werben? Auch wenn die Wirtschaft den drohenden Fachkräftemangel vor Augen hat, fehlt es an einigen Stellen leider immer noch an der Bereitschaft zur Veränderung.

Wirtschaftspolitik muss Vereinbarkeitspolitik sein

Dass es sich dabei keineswegs um eine Randerscheinung handelt, zeigen die Zahlen: Drei von fünf jungen Müttern und Vätern wünschen sich eine partnerschaftliche Familie, in der Erwerbs- und Familienarbeit von beiden Partnern zu etwa gleichen Teilen geleistet werden. Nur etwa jeder Siebte kann dieses Ziel jedoch tatsächlich realisieren. Zugleich hat jeder zweite Vater das Gefühl, zu wenig Zeit für seine Kinder zu haben. Interessant ist auch: Nur jede zwanzigste Frau strebt heute ein Leben ausschließlich als Hausfrau und Mutter an.

Diese „gehetzte Generation“, also die etwa 30- bis 50-Jährigen, muss vieles, was unvereinbar erscheint, miteinander vereinbaren. In der Rushhour des Lebens wartet die Herausforderung, zugleich die Karriere aufs Gleis zu setzen und eine Familie zu gründen. Für zu viele wird aus dem „und“ heute noch ein „oder“. Sie sollen flexibel und mobil sein, bereit sein, ins Ausland zu gehen, befristete Verträge annehmen und Projekte betreuen, deren Fortführung ungewiss ist. Aber: Gleichzeitig abzuheben und Wurzeln zu schlagen überfordert viele. Die Folge ist, dass sich die Familiengründung immer weiter nach hinten verschiebt, manche verpassen den richtigen Zeitpunkt ganz. Oder ein Partner – zumeist immer noch die Frau – nimmt eine Auszeit und muss sich später wieder mühsam zurück in den Job kämpfen.

Nicht wenige finden sich zudem in der „Sandwich-Position“ wieder, neben kleinen Kindern auch noch pflegebedürftige Eltern betreuen zu müssen. Vor allem Frauen trifft diese Doppelbelastung.

Manche mögen sich nun fragen: Was hat all das mit Wirtschaftspolitik zu tun? Eine ganze Menge! Zum einen begreifen die Menschen intuitiv, dass Politik für Familien elementarer Bestandteil einer guten Wirtschaftspolitik ist. So hat mein Ministerium in einer Studie von TNS Infratest erheben lassen, wie Bürgerinnen und Bürger eigentlich Wirtschaftspolitik verstehen und wahrnehmen. Die überraschende Erkenntnis: Als wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik werden nicht Steuersenkungen oder Bürokratieabbau genannt, sondern Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das sollte all jenen zu denken geben, die mit ihrem Verständnis von Wirtschaftskompetenz in den achtziger Jahren hängen geblieben sind.

Zum anderen wird der Megatrend Fachkräftemangel in unserer Wirtschaft langsam von der abstrakten Befürchtung zur konkreten Erfahrung. Viele lokale Arbeitsmärkte in Baden-Württemberg sind trotz Zuwanderung leergefegt. Unternehmen brauchen durchweg länger, um ihre Stellen zu besetzen. Um die Erwerbsbevölkerung auch über 2020 hinaus konstant zu halten, ist gerade die Beteiligung von Frauen am Arbeitsleben ein entscheidender Faktor. Fachkräftesicherung ist der Schlüssel für den weiteren wirtschaftlichen Erfolg unseres Standorts.

Deshalb habe ich direkt nach Amtsantritt die „Allianz für Fachkräfte Baden-Württemberg“ ins Leben gerufen, die auch dem Koalitionsvertrag der Großen Koalition im Bund als Blaupause diente. In ihr versammelt sich ein breites Bündnis von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden über die Bundesagentur für Arbeit bis hin zu den kommunalen Spitzenverbände und dem Landesfrauenrat.

Eines unserer entscheidenden Ziele ist es, die Beschäftigung von Frauen zu steigern, etwa indem wir Frauen konsequent beim Wiedereinstig in den Beruf unterstützen, beispielsweise durch die Kontaktstellen „Frau und Beruf“, die Frauen vor Ort individuell beraten. Zudem haben wir das Bündnis „Frauen in MINT-Berufen“ initiiert. Mittlerweile haben 37 Partner aus Arbeitgeber-, Berufs- und Branchenverbänden, Gewerkschaften, Frauennetzwerken, Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Stiftungen und der Agentur für Arbeit das Bündnis unterzeichnet.

Was die Traditionalisten nicht begreifen

Denn es ist schlichtweg irrsinnig, dass die am besten ausgebildete Generation junger Frauen aller Zeiten heute auf dem Arbeitsmarkt noch immer an gesellschaftliche Grenzen stößt. Hier gegenzusteuern ist deshalb beides zugleich: eine Frage von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit – und ein Imperativ wirtschaftlicher Vernunft.

Bei dieser Frage zeigt sich einmal mehr, dass Familien- und Wirtschaftspolitik enger miteinander verknüpft sind, als es manche Traditionalisten auf der anderen Seite des politischen Spektrums wahrhaben wollen. Denn wenn wir als Landesregierung die Mittel für die Kleinkindbetreuung in Baden-Württemberg im Vergleich zu unseren schwarz-gelben Vorgängern mehr als verdreifacht haben, dann ist das natürlich gute Familien­politik. Es ist zugleich aber auch effektive Wirtschaftspolitik, von der Familien und Unternehmen gleichermaßen profitieren. Familien können Kind und Karriere besser vereinbaren, und die Unternehmen gewinnen Fachkräfte.

Unerlässlich ist dies gerade in einem starken Flächenland wie Baden-Württemberg. Denn was der gemeine Berliner für Provinz halten mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als hochinnovative Region. Wohin auch immer ich als Wirtschaftsminister gehe, die hidden champions sind schon da. Etwa 400 solcher mittelständischer Unternehmen, oftmals Weltmarktführer, gibt es bei uns im Land. Und egal ob sie in der Hohenlohe oder im Schwarzwald sitzen – ohne eine ausgebaute Infrastruktur zur Kinderbetreuung würden sie im Wettbewerb um erstklassige Fachkräfte dauerhaft den Kürzeren ziehen.

Es gibt noch viel zu tun

Deshalb unterstützen wir kleine und mittlere Unternehmen aller Branchen bei der Entwicklung und Einführung einer familienbewussten und lebensphasenorientierten Personalpolitik durch Beratungs- und Unterstützungsangebote. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen zu Arbeitszeit und Arbeitsorganisation, zu Kinderbetreuung und zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.

Wir zeigen Unternehmen, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, wie diese sich bei der betriebsnahen Kinderbetreuung engagieren können. Nicht alle Maßnahmen sind zwangsläufig mit hohen Kosten verbunden. Manche Betriebe geben Zuschüsse für eine Kinderbetreuung an die Beschäftigten, andere kaufen Belegplätze in einer Kindertageseinrichtung. Es gibt die Möglichkeit, Tagespflegepersonen zu beschäftigen oder eigene Betriebskindertagesstätten mit einem verlässlichen Betreuungsangebot für alle Altersstufen einzurichten.

Denn für mich ist auch klar: Nicht nur die Politik ist in der Pflicht. Auch Unternehmen müssen sich mehr einbringen, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Wer da noch immer von Gedöns spricht, hat nicht verstanden, worum es bei familiengerechten Rahmenbedingen eben auch geht: einen knallharten Standortfaktor im internationalen Wettbewerb. Und ich bin froh, dass wir Sozialdemokraten auch im Bund mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, Arbeitsministerin Andrea Nahles und Familienministerin Manuela Schwesig dieses Feld konsequent beackern.

Denn es gibt noch viel zu tun. Unser Ziel muss, erstens, ein Modell der Lebensarbeitszeit sein, das eine flexible Gestaltung der Arbeitszeiten nach Lebensphasen zulässt und gleichberechtigte Partnerschaften erleichtert. Dazu können Modelle wie das Elterngeld Plus beitragen. Zweitens müssen wir die Ganztagsbetreuung weiter ausbauen und auf verlässliche Füße stellen. Deshalb wird eine SPD-geführte Landesregierung in Baden-Württemberg ab 2016 ein zentrales Projekt verfolgen: die Einführung einer Ganztagesgarantie vom ersten Geburtstag bis zum letzten Schultag. Drittens brauchen wir eine Qualitätsoffensive in unseren Kitas. Ebenso müssen Angebote der betrieblichen Kinderbetreuung ausgebaut werden. Denn auch die Unternehmen profitieren unmittelbar, wenn sie sich zu familiengerechten Arbeitgebern entwickeln. Viertens müssen wir die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf weiter verbessern. Denn gerade all jene, die sich neben dem Beruf und der Kinderbetreuung um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern, verdienen unsere volle Unterstützung.

Und auch das gehört dazu: Wir sollten die Mitte der Gesellschaft, Familien mit kleinen und mittleren Einkommen, spürbar finanziell entlasten. Sie sind der Motor dieser Gesellschaft, übernehmen Verantwortung für sich und andere, sind leistungsbereit und solidarisch zugleich.

Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie beides verkörperte: wirtschaftliche Vernunft und sozialen Zusammenhalt. Dieses Erfolgsrezept sollten wir beherzigen und konsequent auf eine verlässliche Politik für die Familien im Land setzen. Denn wie auf kaum einem anderen Feld lassen sich hier zwei sozialdemokratische Kernanliegen miteinander verbinden: unseren Wohlstand zu sichern und unser Land gerechter zu machen. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

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