Für eine offensive Sozialdemokratie

Überall in Europa befinden sich die alten Trägerschichten sozialdemokratischer Parteien im Niedergang. Als defensives Bollwerk gegen weiteren Wandel hat die Sozialdemokratie deshalb keine Chance mehr. Doch als durchsetzungsfreudige Gestaltungskraft einer lebenswerten Gesellschaft steht ihr die Zukunft weit offen. Dafür muss gerade auch die SPD ungewohnte gesellschaftliche Bündnisse schließen. Und sie muss konsequent Antworten auf die Fragen entwickeln, von denen Lebensqualität im Zeitalter der Märkte am meisten abhängt

Der fortgesetzte Niedergang der sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und anderswo ist nicht das Ergebnis eines Versagens von Ideen, sondern ergibt sich aus einer Transformation der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Ideenpolitisches Versagen kann eine Folge dieser Transformation sein, und Lösungen zu ihrer Bewältigung erfordern ideenpolitische Wiederbelebung. Aber zunächst einmal kommt es darauf an, das Phänomen selbst zu begreifen.

Es ergibt sich aus zwei großen gesellschaftlichen Veränderungen. Zum einen befindet sich die industrielle Arbeiterschaft, auf welcher die Stärke der Sozialdemokratie gründete, in dem Maße im Niedergang, wie sich die Wirtschaft selbst verändert. Auch die Schicht der Angestellten im öffentlichen Dienst, die ein zweites wichtiges Standbein ausmachte, ist aufgrund von Privatisierungen inzwischen im Schrumpfen begriffen.

Zweifellos haben Christdemokraten und Konservative aufgrund anderer Formen von sozialem Wandel ähnliche Erfahrungen gemacht und ebenfalls Kernwählergruppen eingebüßt. Heute dominieren Sozial- und Christdemokraten nirgendwo mehr die politische Landschaft so wie früher. Aber für die Christdemokraten ist das Problem weitaus weniger dramatisch. Ursache für diesen Unterschied ist ein zweiter großer Umbruch: die transnationale Machtverschiebung weg von der Arbeit und hin zum Kapital als Folge der wirtschaftlichen Globalisierung.

Die tiefen Gründe der Misere

Heute hat die Kapitalseite die Möglichkeit, in solchen Ländern in Modernisierungsprojekte zu investieren, in denen die Löhne und Arbeitsbedingungen weitaus schlechter sind als in den industrialisierten Ländern. Dies muss geradezu zwangsläufig die Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit zu Ungunsten der Arbeit verschieben. Doch man darf die Wirkungen dieses Wandels auch nicht überzeichnen. Die Arbeitnehmer in Westeuropa und in Fernost stellen Produkte für unterschiedliche Märkte her und treten deshalb kaum jemals in direkte Konkurrenz zueinander. Hinzu kommt, dass die wachsende Nachfrage nach westlichen Gütern und Dienstleistungen, die sich aus dem Eintritt neuer Akteure in die Weltwirtschaft ergibt, gerade auch der Produktion und Beschäftigung in unseren eigenen Volkswirtschaften zugutekommt. Direkter ist der Wettbewerb mit den Ländern Mittel-und Osteuropas, aber gleichzeitig wachsen auch die wechselseitigen Handelsbeziehungen mit ihnen. Letztlich profitieren von der Ausweitung des internationalen Handels alle. Allerdings ist der Wandel der globalen Balance zwischen Kapital und Arbeit so drastisch, dass er mindestens kurzfristig tiefgreifende Auswirkungen hat.

Im Westen selbst ergibt sich die wachsende Übermacht der Kapitalseite auch aus einem Verfall des Wettbewerbs. Ganze Schlüsselsektoren der Wirtschaft werden zunehmend nur noch von wenigen riesigen Unternehmen beherrscht. Diese ökonomische Dominanz übersetzt sich schnell in politischen Einfluss. Verstärkt wird der Prozess durch die Tatsache, dass Unternehmen transnational operieren und damit weniger abhängig von einzelnen Nationalstaaten sind als diese Staaten umgekehrt von ihnen. In krassester Weise haben wir dies im Verlauf der Bankenkrise von 2007 und 2008 erlebt. Die Banken waren einfach „too big to fail“, was ihre Rettung vordringlicher machte als jedes andere politische Ziel. Seit der Krise sind die Einkommen der Banker weiter gewachsen, während die Einkommen fast aller anderen Menschen sinken.

Ähnliche, wenngleich weniger dramatische Beispiele für die Abhängigkeit der Regierungen und der Politik von Geschäftsinteressen, lassen sich auch an anderen Stellen finden. Dies ist überall dort der Fall, wo konzentrierte Wirtschaftsmacht und gesellschaftliche Abhängigkeit in einem bestimmten Sektor zusammenfallen. Energie ist hierfür ein Paradebeispiel, ebenso die Zunahme privatisierter öffentlicher Dienstleistungen. Die Märkte werden in der Regel von wenigen Unternehmen dominiert, der Prozess der Vertragsfindung verläuft nach höchst politischen Kriterien, und die Regierungen sind im Hinblick auf die Erbringung der jeweiligen Dienstleistungen von den Unternehmen abhängig.

Kurz, die Sozialdemokratie hat es mit einem Niedergang ihrer eigenen Trägergruppen ausgerechnet in einer Periode zu tun, in der diejenigen wirtschaftlichen Interessen weiter an Macht gewinnen, die üblicherweise die Gegner der Sozialdemokratie unterstützen. Viel tiefer muss man gar nicht schürfen, um die Misere zu erklären, in der die sozialdemokratischen Parteien heute überall in Europa stecken.

Drei Auswege aus dieser Lage sind nun denkbar. Zwei von ihnen wurden bereits ausprobiert – und haben sich als verheerend erwiesen. Der dritte Pfad gibt Grund zu neuer Hoffnung.

Die erste verheerende Strategie besteht darin, sich in eine defensive Haltung zurückziehen. Dies tun Sozialdemokraten, wenn sie sich nur noch als Schutzmacht ihrer ins Hintertreffen geratenen alten Kerngruppen verstehen und versuchen, die Globalisierung mit Protektionismus und staatlichen Subventionen notdürftig in Schach zu halten. Dies ist das geradezu automatische Verhaltensmuster der alten Linken, das in den achtziger Jahren beispielsweise die britische Labour-Partei prägte – und um ein Haar zerstört hätte. Diese Haltung kennzeichnet auch ziemlich genau die heutige Linkspartei in Deutschland. Aber es gibt keine Zukunft für Bewegungen, die sich darauf konzentrieren, eine absterbende Vergangenheit zu verteidigen.

Der zweite verheerende Ansatz war jener des Dritten Weges und der Neuen Mitte. Hier sollte eine sozialdemokratische Strategie entwickelt werden, um mit der neuen Zeit zu gehen, statt gegen diese anzurennen. Aber die Sache lief im Ergebnis darauf hinaus, dass sich Sozialdemokraten unkritisch die neoliberale Agenda zu eigen machten und alle Einwände in den Wind schlugen, die Übermacht des Kapitals könnte überhaupt ein Problem darstellen. Genau diese Blickverengung führte dazu, dass diese Sozialdemokraten zunehmend ihre Abwehrkräfte einbüßten und sogar völlig das Gespür für die grundlegende Feindseligkeit der Rahmenbedingungen verloren, die sich für ihre Parteien entwickelten.

Fällt die SPD in die Defensive zurück?

Heute besteht Anlass zu der Sorge, in der Großen Koalition könnten die deutschen Sozialdemokraten in abgeschwächter Form nun wieder die erste der beiden verheerenden Strategien verfolgen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sowohl die Sozialdemokraten als auch die Christdemokraten versucht, mit dem Niedergang ihrer traditionellen Milieus zurechtzukommen, indem sie sich auf den Neoliberalismus einließen. Nun sind mit der FDP Deutschlands „echte“ Neoliberale einstweilen gescheitert. Wird dies zur Folge haben, dass sich die beiden großen Parteien in eine Koalition der Traditionalisten zurückziehen, anstatt den Versuch zu unternehmen, dem Neoliberalismus eine alternative, bessere Zukunft entgegenzusetzen? Dass die SPD auf die Senkung des Rentenalters beharrt, ist ein beunruhigendes Anzeichen dafür, dass genau diese Wende rückwärts eintreten könnte. Ausgerechnet einer Bevölkerung einen früheren Ruhestand zu ermöglichen, in der immer mehr Menschen immer länger stark und gesund bleiben, kann wohl kaum als zukunftsweisende Sozialpolitik gelten, die Deutschland auf neue Herausforderungen vorbereitet.

Die dritte Strategie bietet mehr Anlass zur Hoffnung, ist aber zugegebenermaßen schwierig zu verwirklichen. Sie beginnt mit der Einsicht, dass Sozialdemokraten mit den Herausforderungen unserer Zeit nicht defensiv und abwehrend umgehen dürfen, sondern offensiv, durchsetzungsfreudig und angriffslustig agieren sollten. Und diese dritte Strategie setzt dann im Weiteren darauf, diejenigen sozialen Gruppen zu versammeln, die von besonderer Bedeutung sein werden, wenn es darum geht, die entscheidenden Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Dass immer mehr Lebensbereiche von Marktkräften durchdrungen werden, ist ein Prozess, der uns in vieler Hinsicht hilft, größere Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit zu erzielen – aber er verursacht eben auch Kosten. Die „Vermarktlichung“ hat diese Wirkung notwendigerweise schon deshalb, weil ihr Wesenskern der kreative Bruch mit dem Bestehenden ist. Manchmal sind solche Brüche mit dem Bestehenden wünschenswert, aber oft beeinträchtigen sie das Leben von Menschen so sehr, dass sie bekämpft werden müssen. Einige ihrer Folgen drohen unseren Planeten und sein Klima zu zerstören. Andere Konsequenzen der „Vermarktlichung“, etwa steigende Flexibilität und Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt, führen zu Angst vor Arbeitslosigkeit sowie zu niedrigen Löhnen. Wieder andere dieser Wirkungen sorgen für den wachsenden Stress, den Millionen von Menschen erleben, wenn sie versuchen, das Gleichgewicht zu halten zwischen ihren immer stärker wettbewerbsorientierten Jobs und ihrem privaten Streben nach einem einigermaßen erfüllten Familienleben.

Die Liste der Beispiele lässt sich fortsetzen, bis ein Buch daraus geworden ist. Immer geht es darum, dass Probleme aus der Intensivierung der Märkte entstehen, die dann das Leben der Menschen in starkem Maße negativ beeinflussen. Diese Probleme sind aber nicht einfach mit defensiven Mitteln aus der Welt zu schaffen, sondern erfordern ebenso kreative wie offensive politische Antworten. Abgesehen von den Grünen kann sich keine politische Bewegung diese Art von Agenda so überzeugend zu Eigen machen wie die Sozialdemokratie. Die Existenz der Märkte zu akzeptieren, aber zugleich Ideen und Maßnahmen zu entwickeln, um ihren abträglichen Nebenwirkungen beizukommen – dies und nichts anderes ist seit sieben Jahrzehnten das Kerngeschäft der Sozialdemokratie.

Der Wiederaufstieg wird weiblich sein

Neue Gruppen und Milieus von Unterstützern zu finden ist schwieriger, als politische Maßnahmen zu entwerfen. Die Menschen von heute halten nicht mehr viel von denjenigen Formen der Loyalität und politischen Identität, die für die Generationen ihrer Eltern oft noch ganz selbstverständlich waren. Sie leben nicht mehr in Gemeinschaften, die ein solches Selbstverständnis hervorbringen oder erneuern könnten. Zudem mussten frühere Generationen oft für ihre Rechte als Bürger kämpfen, indem sie für die Anerkennung ihrer Klasse oder ihrer Religion stritten. Sind Bürgerrechte aber erst einmal universell garantiert, dann müssen neu entstehende Berufsgruppen nicht mehr in der gleichen Form kämpfen und weisen ihrer beruflichen Identität demzufolge keine politische Bedeutung mehr zu.

Eine große Ausnahme zu dieser Regel gibt es aber. Noch immer kämpfen Frauen in etlichen Lebensbereichen darum, gleiche Anerkennung zu erlangen. Innerhalb der wachsenden Gruppen, die die Sozialdemokratie heute erreichen muss, machen Frauen eine klare Mehrheit aus, besonders in den mittleren und unteren Segmenten der postindustriellen Dienstleistungsberufe. Wenn Frauen eine stärkere Rolle dabei erlangen, die politische Agenda der Sozialdemokratie zu bestimmen, dann werden sie auf neue Themen setzen – und besonders auf diejenigen, die ich oben bereits genannt habe: Umwelt, unsichere Arbeitsverhältnisse, Vereinbarkeit. Genau hierin liegt wahrscheinlich die beste Garantie dafür, dass eine neue, ebenso zukunftsorientierte wie durchsetzungsfähige Sozialdemokratie entstehen wird.

Davon abgesehen müssen wir anerkennen, dass sich das Wesen politischer Loyalität verändert hat. Der Mainstream der politischen Linken mag sich in trostlosem Zustand befinden. Doch zugleich haben wir in den letzten Jahren ein bemerkenswertes Wachstum kritischer Bewegungen und Bürgerinitiativen erlebt. Viele von ihnen sind von der Unzufriedenheit über die wachsende Unternehmensmacht inspiriert, die ich oben beschrieben habe. Dies sind die Orte, an denen sich heute die Bewusstseinsbildung zu den genannten wichtigen Themen ereignet, und dies vor allem unter jüngeren Leuten, die für die herkömmliche „Politikerpolitik“ nicht viel übrig haben.

Sozialdemokraten werden lernen müssen, auch mit solchen Gruppen auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten, die nicht ins Schlepptau von Parteien geraten wollen und an einer Unabhängigkeit festhalten, die für Parteiführungen durchaus unbequem sein kann. Aber dies ist nun einmal das soziale Universum, in dem neue kritische Energien heute zu finden sind. Koalitionen mit dieser neuen Szenerie aufzubauen ist schwieriger als jede formale Vertragsverhandlung mit Christdemokraten. Auf lange Sicht aber wird es sich als weitaus produktiver erweisen.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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