Früh investieren statt reparieren: Für eine soziale Familienpolitik

In Deutschland herrscht - keineswegs zu Unrecht - großes Händeringen über die allzu niedrige Geburtenrate unserer Gesellschaft. Aber wie passt es eigentlich dazu, dass hierzulande viel zu wenig für die tatsächlich geborenen Kinder und ihre Familien getan wird? Höchste Zeit für eine sozialinvestive Politik, die jedem einzelnen Kind die Chance eröffnet, alle seine Potenziale zu entfalten

In den vergangenen Jahren musste die Familienpolitik immer wieder als Paradebeispiel für eine angebliche Sozialdemokratisierung der Union herhalten. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die christdemokratische Bundesfamilienministerin zwar den von Renate Schmidt begonnenen Kita-Ausbau fortgesetzt und ihre Idee des Elterngeldes öffentlichkeitswirksam übernommen hat. Doch liegt der konservativen Familienpolitik stets ein nicht mehr zeitgemäßer Familienbegriff zugrunde. Während in Deutschland rund zwei Millionen Kinder in Armut leben, macht die Union eine Politik für Heile-Welt-Familien. Dabei geraten die zahlreichen Familien aus dem Fokus, die staatliche Unterstützung und Förderung dringend benötigen.

Familie ist da, wo Menschen partnerschaftlich Verantwortung füreinander übernehmen. Dazu gehören Paare – ob mit oder ohne Kinder und Trauschein – ebenso wie Alleinerziehende, Patchwork- und Regenbogenfamilien sowie der Single, der für seine pflegebedürftigen Eltern sorgt. Der Gestaltungsbereich einer sozialen Familienpolitik ist somit breit gefächert und reicht von der Geburt bis zum selbstbestimmten Altern in Würde. Er umfasst eine gute pflegerische Begleitung älterer Menschen und die medizinische Versorgung bis in die letzten Stunden des Lebens genauso wie Fragen der familiengerechten Arbeitszeitgestaltung. Eine soziale Familienpolitik stellt immer das Kind in den Mittelpunkt und hat zum Ziel, dass alle Kinder unabhängig von ihrem sozialen Status unter guten Lebensbedingungen aufwachsen können und nach ihren Bedürfnissen gefördert werden.

Ein wichtiger Schlüssel dafür ist die frühkindliche Förderung und Bildung. In diesem Bereich hat Deutschland nach wie vor einen erheblichen Nachholbedarf. Es ist sozialdemokratischer Beharrlichkeit zu verdanken, dass es ab 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für alle Kinder ab dem ersten Geburtstag geben wird. Doch der Ausbau der Infrastruktur klemmt vielerorts. Schlusslichter sind Länder wie Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Neben der Quantität muss aber vor allem die Qualität der frühkindlichen Bildung gesteigert werden. Dazu zählt eine bessere Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher, ein besserer Personalschlüssel sowie eine gerechtere Entlohnung.

Diese jungen Menschen sind die Eltern von morgen

Der Grundgedanke, der diese Schritte leitet, ist die Prävention. Förderpolitik in Deutschland hat immer noch einen zu stark reparierenden Charakter: Anstatt überforderten Familien frühzeitig vor Ort ein enges Netz an Unterstützungsleistungen anzubieten und in die individuelle Förderung benachteiligter Kinder zu investieren, greifen Maßnahmen oft erst, wenn Defizite bereits aufgetreten sind. Das ist nicht nur aus sozialen Gesichtspunkten der falsche Ansatz. Auch ökonomisch ist es unvernünftig. So steigen seit geraumer Zeit die Zahlen der Heimunterbringungen. Dahinter verbergen sich nicht nur traurige Einzelschicksale. Diese Entwicklung ist auch mit erheblichen Mehrkosten verbunden. Außerdem gibt es eine bedenklich hohe Zahl an Schulabbrechern. Schon heute sind 1,5 Millionen Jugendliche ohne Berufsabschluss. Das sind verbaute Zukunftschancen, die oftmals zu dauerhafter Abhängigkeit von Sozialtransfers führen. Diese jungen Menschen sind die Eltern von morgen. Deswegen gilt: Früh in Kinder und Familien investieren, statt später den Lebensweg notdürftig korrigieren zu müssen.

Eine dringende Aufgabe für eine fortschrittliche und zukunftsorientierte Familienpolitik ist daher die Bekämpfung der Kinderarmut. Viele Kinder haben in Deutschland nicht, was für andere selbstverständlich zum Leben gehört: die Mitgliedschaft im Sportverein, die Musikschule, passende Kleidung oder auch nur ein gesundes warmes Mittagessen. Neben der materiellen Armut gefährden Bildungsarmut, gesundheitliche Beeinträchtigung und soziale Ausgrenzung die Lebenschancen vieler Kinder. Die schwarz-gelbe Bundesregierung muss schnellstmöglich handeln. Die Kinderregelsätze gehören auf den Prüfstand, und es müssen Antworten her, wie der Grundbedarf von Kindern gesichert werden kann. Ein erster Schritt wäre der rasche Ausbau der von der SPD eingeführten Infrastrukturprogramme für Kitas und Ganztagsschulen. Wir müssen erheblich mehr in die Qualität investieren, um jedem Kind den Zugang zu gesunder Ernährung, individueller Förderung, Bildung von Anfang an, Kultur und Sport zu sichern. Der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Eltern kommt hier eine besondere Bedeutung zu, denn wir können die Kinder am besten über ihre Familien erreichen. Deshalb wollen wir Kitas zu Eltern-Kind-Zentren ausbauen und Schulsozialarbeiter an jeder Schule haben. Doch im schwarz-gelben Koalitionsvertrag ist dazu nichts zu lesen.

Stattdessen setzt Schwarz-Gelb mit seiner Steuerpolitik die falschen Anreize und sorgt dafür, dass die soziale Schere in unserer Gesellschaft weiter auseinander geht. Union und FDP sind die Kinder nicht alle gleich wert: Familien, die von Arbeitslosengeld II leben müssen, profitieren von der Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages gar nicht. Familien mit kleinen und mittleren Einkommen erhalten zusätzlich 20 Euro. Am meisten erhalten sehr gut verdienende Eltern, sie profitieren vom neuen Kinderfreibetrag mit 35 Euro monatlich. Das ist reine Klientelpolitik auf Kosten der benachteiligten Familien. Dieses Geld wird vor Ort fehlen für notwendige Investitionen in die Betreuungsinfrastruktur, in Bildung und einen besseren Kinderschutz.

Auch das geplante Betreuungsgeld in Höhe von 150 Euro, das allen Eltern gezahlt werden soll, die ihr Kind im zweiten und dritten Lebensjahr nicht in die Krippe oder Kita geben, ist familienpolitischer Unsinn. Denn es wird dazu führen, dass gerade die Kinder nicht in Betreuungseinrichtungen geschickt werden, die eine frühkindliche Förderung dringend bräuchten. Das haben die Erfahrungen in Thüringen und verschiedene Studien gezeigt. Diese Politik gefährdet die sozialdemokratischen Anstrengungen in den Ländern. In Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel werden im Jahr 2010 rund 15 Millionen Euro zusätzlich in die Kitas investiert. Unser Ziel ist es, gerade Kinder aus bildungsfernen und sozial schwachen Familien in den Genuss von mehr frühkindlicher Förderung kommen zu lassen. Dem steht die „Fernhalteprämie“ von Schwarz-Gelb diametral entgegen.

In Deutschland werden immer weniger Kinder geboren. Doch anstatt wie das Kaninchen vor der Schlange auf die statistischen Veränderung der Geburtenrate zu starren, wird es höchste Zeit, dass mehr in die Kinder investiert wird, die bereits geboren sind. Kompass dafür ist eine soziale Familienpolitik, die allen Kindern – egal welcher sozialer Herkunft – eine Chance eröffnet, ihre Potenziale frei zu entfalten. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und der ökonomischen Vernunft. «

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