Freiwillig an die Spitze

Wie sich unsere Gesellschaft durch die Modernisierung der Freiwilligendienste erneuern könnte

„Meine langjährige Erfahrung im öffentlichen Leben hat mich gelehrt, dass es nie und nimmer für jedes Problem ein staatliches Programm geben kann. Ich kann Ihnen versprechen, 100 verschiedene Dinge für Sie alle zu tun, aber keines davon wird einen wirklichen Fortschritt bewirken, solange wir alle als Bürgerinnen und Bürger nicht unseren eigenen tätigen Beitrag leisten und verstärken.“
Bill Clinton (1992)

Vorbild USA? In dieser Funktion findet man das mächtige Land jenseits des Atlantik nur selten zitiert, und fast scheut man sich als Angehöriger des alten Europa, amerikanische Politikansätze als Reformoption zu erwägen. Mindestens eine Ausnahme sollten wir jedoch machen: Die so genannten Freiwilligendienste, in denen sich junge und auch ältere Menschen in gemeinnützigen Projekten für andere engagieren, sind unter verschiedenen US-Präsidenten auf beispielhafte Weise organisiert worden.

Auch Deutschland denkt öffentlich über die Neuordnung der Freiwilligendienste nach. Allerdings steht die Debatte bei uns nach wie vor im Schatten der Reform von Wehr- und Zivildienst als staatlich verordneten Pflichtdiensten – und damit in einem politischen Kontext, der im Widerspruch steht zum freiheitlichen Geist des bürgerschaftlichen Engagements, den die Modernisierung unserer Freiwilligendienste atmen sollte. Freiwilligendienste sind, richtig verstanden, Lernorte für bürgerschaftliches Engagement, für gemeinwohlorientiertes Handeln und für gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein und in diesem Sinne zugleich Orte einer lebendigen Bürgergesellschaft. Es darf daher nicht darum gehen, durch den Ausbau dieser Dienste einen wohlfeilen Ersatz für die Zivildienstleistenden zu schaffen. Die zahlreichen Plädoyers für ein soziales Pflichtjahr weisen gesellschafts- und auch engagementpolitisch in die falsche Richtung.

Bundesministerin Renate Schmidt empfiehlt demgegenüber, die Perspektive jenseits der Pflichtdienste „als Chance zu betrachten, eine neue Kultur selbstverständlicher Freiwilligkeit zu begründen“, und gibt der Debatte damit den richtigen gesellschaftspolitischen Rahmen. Das amerikanische Beispiel jedoch geht weiter, programmatisch wie praktisch: durch die Einbettung von Americorps und anderen Freiwilligendiensten in den politischen Kontext einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat und Bürgergesellschaft, durch die Einbindung der Wirtschaft als Partner und durch die Verbindung von Freiwilligendiensten mit politischen Kampagnen wie America Reads.

Der Ausbau der Freiwilligendienste birgt das Potenzial für einen bürgergesellschaftlichen Aufbruch, dessen Dynamik auch andere Bereiche unserer Gesellschaft erfassen kann – vorausgesetzt es gelingt, öffentliches Bewusstsein für dieses Potenzial zu wecken und sowohl die Bürgerinnen und Bürger als auch die Wirtschaft als Partner für dieses Projekt zu gewinnen. Wir werben in diesem Sinne dafür, die Debatte um die Neuordnung der Freiwilligendienste zu öffnen für Corporate Citizenship und für politische Kommunikation.

Berichte haben eine ihnen eigene Wirkungsgeschichte. So hat der Bericht der Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“, die im Januar 2004 ihre Perspektiven für Freiwilligendienste und Zivildienst in Deutschland vorgelegt hat, in Politik, Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen eine breite Debatte ausgelöst. Diese Debatte konzentriert sich vor allem auf zwei Aspekte: das womöglich bevorstehende Ende des Zivildienstes und die Frage der Freiwilligkeit der Freiwilligendienste als möglicher Alternative.

Der erste Kristallisationspunkt ist die Besorgnis um die Zukunft der sozialen Dienste nach einem eventuellen Ende des Zivildienstes, die einerseits die Träger der Einrichtungen und andererseits Staat und Kommunen als Geldgeber umtreibt. Eine Besorgnis, die nur zu verständlich ist, schließlich hat sich der Zivildienst längst in aller Stille zu einer Ressource für kostengünstige Arbeitskräfte entwickelt – entgegen dem viel beschworenen Gebot der „Arbeitsmarktneutralität“, demzufolge kein Zivi einen regulären Arbeitsplatz besetzen darf. Oft genug kommt der Dienst am Menschen, den die Zivis zum Wohle der Hilfebedürftigen und der Gesellschaft im Allgemeinen leisten sollen, dem Gemeinwohl eher indirekt, auf dem Umweg einer Art „Dienst an den Sozialkassen“, zugute. Und während die einen noch rechnen, wie viele Sozialleistungen ohne die Zivis in Zukunft schlechterdings unbezahlbar werden, machen die anderen längst vor, wie man soziale Dienste auch ohne diese preiswerte Personalressource wirtschaftlich anbieten kann: durch den Einsatz von Teilzeitkräften und Minijobbern, durch betriebswirtschaftliche Modernisierung und entsprechende Effizienzgewinne. Oder durch bürgerschaftliches Engagement.

Hier wie dort dominieren jedoch weniger gesellschaftspolitische Visionen als vielmehr die Perspektive der Bezahlbarkeit dieser Dienste. Diese monetäre Sichtweise ist notwendig, aber nicht hinreichend. Die Debatte um das Ende des Zivildienstes sollte besser als exemplarischer Anwendungsfall für die Potenziale einer bürgergesellschaftlich orientierten Modernisierung des Sozialstaats verstanden werden: der konsequenten Aufwertung der bürgergesellschaftlichen Leistungsanteile im Wohlfahrtsmix aus staatlich, marktwirtschaftlich, familiär und bürgerschaftlich-freiwillig erbrachten Leistungsangeboten. Genau diese gesellschaftspolitische Perspektive, die die Diskussion um Zivil- und Freiwilligendienste nutzt, um am konkreten Beispiel das reformpolitische Potenzial der Bürgergesellschaft zu demonstrieren, fehlt in den aktuellen Debatten, die (noch) nicht vom Geist eines bürgergesellschaftlichen Aufbruchs zeugen.

Eine allgemeine Dienstpflicht wäre keine gute Idee

Der zweite Kristallisationspunkt der Debatte um die Reform von Zivil- und Freiwilligendiensten ist die öffentlichkeitswirksame Forderung nach der Einführung eines sozialen Pflichtjahres, wie sie sogar von Mitgliedern der Bundesregierung, von Ministerpräsidenten und von anderen, weniger prominenten Politikern partei- und fraktionsübergreifend, aber bislang vereinzelt, immer wieder erhoben worden ist. Die Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“ hat in aller wünschenswerten Klarheit Position bezogen und sich gegen eine allgemeine Dienstpflicht für junge Leute ausgesprochen. Den verfassungs- und völkerrechtlichen Argumenten ist ein demokratiepolitisches hinzuzufügen: Die Verhängung eines staatlich oktroyierten Zwangsdienstes ist mit dem Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung und eigenverantwortliche Lebensplanung nicht vereinbar. Wer wollte es verantworten, ohne eine existentielle Notlage unseres Landes derart tief in das Selbstbestimmungsrecht der jungen Menschen einzugreifen, wie es die Verhängung einer allgemeinen Dienstpflicht bedeuten würde? Und wer wollte den Betroffenen diese Entscheidung vermitteln? Folge einer solchen Dienstpflicht wäre kaum die Förderung von Gemeinsinn und Beteiligungsorientierung, wie wir sie uns von einer Ausweitung der Freiwilligendienste versprechen, sondern wohl eher Staatsverdrossenheit und eine gefährliche Delegitimierung der staatlichen Institutionen bei den betroffenen jungen Menschen.

Kurz: Das bürgergesellschaftliche Reformpotenzial, die Qualität als Lernort für Gemeinsinn und Partizipation und auch die besondere Attraktivität der Freiwilligendienste für die potenziellen Freiwilligen liegt just darin, dass es sich um freiwillige Dienste handelt. Was die Freiwilligendienste von anderen Formen des bürgerschaftlichen Engagements unterscheidet, ist einerseits der höhere Grad der Verbindlichkeit für die Freiwilligen, andererseits die freiwillige Selbstverpflichtung, sich für einen bestimmten Zeitraum für eine bestimmte Aufgabe regelmäßig und zuverlässig zu engagieren. Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine freiwillige Selbstverpflichtung.

Eine Ausweitung der Freiwilligendienste als Signal für einen bürgergesellschaftlichen Aufbruch also, für den Aufbruch in eine „Kultur der selbstverständlichen Freiwilligkeit“, wie die Zivilgesellschaftskommission sie empfiehlt, auf der Grundlage eines konsequenten Prinzips der Freiwilligkeit und eingebettet in die bürgergesellschaftliche Modernisierung des Sozialstaats – das ist ein nicht eben bescheidenes Projekt.

Die Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“ hat eine ganze Reihe von sinnvollen Vorschlägen gemacht: die grundsätzliche Perspektive einer „Kultur der selbstverständlichen Freiwilligkeit“ als historische Alternative zu den Traditionen von Wehr- und Zivildienst, die Einbeziehung älterer Menschen in generationenübergreifende Freiwilligendienste, die zeitliche Flexibilisierung des Dienstes, die Ausweitung der gesellschaftlichen Aufgabenbereiche, in denen sich die Freiwilligen engagieren können, um nur die wichtigsten Empfehlungen zu nennen.

Einiges davon – und anderes mehr – ist bereits Wirklichkeit in einem Programm, das Präsident Clinton ins Leben gerufen hat und das dessen Amtszeit mindestens bislang überdauert hat: das Programm Americorps, das seit 1994 mehr als 200.000 junge US-Amerikanerinnen und Amerikaner für einen Einsatz in gemeinwohlorientierten Projekten der verschiedensten Art gewinnen konnte. Zum Vergleich: In Deutschland absolvieren jährlich rund 15.000 junge Leute ein Freiwilligenjahr, die meisten davon im Freiwilligen Sozialen Jahr. Und die Zahl der angebotenen Plätze reicht bei weitem nicht aus; Interessentinnen und Interessenten gibt es rund doppelt so viele. Quantitativ liegen Deutschland und die USA also gar nicht so weit auseinander. Qualitativ jedoch lassen sich aus Idee und Durchführung von Americorps wichtige Anregungen für die Ausweitung der Freiwilligendienste in Deutschland gewinnen. In diesem Sinne lohnt sich ein genauerer Blick auf das Programm und dessen Trägerorganisation, die Corporation for National and Community Service.

Eine höhere Aufgabe für junge Menschen

Lehrreich ist beispielsweise, dass diese Organisation generationenübergreifende Programme anbietet: neben Americorps, das sich an junge Menschen richtet, gibt es den National Senior Service als Analogon, das sich an ältere Menschen richtet, und übrigens auch Angebote für Lehrer und Schüler macht – eine Zielgruppe, die die deutsche Diskussion noch nicht erfasst hat. Lehrreich ist auch, dass die Zeitstrukturen bei Americorps deutlich flexibler sind, auch Teilzeitangebote einschließen – und dadurch beispielsweise jungen Müttern, die aufgrund ihrer Schwangerschaft die Schule ohne Abschluss verließen, den Wiedereinstieg in das öffentliche Leben und später auch in die Bildungsinstitutionen ermöglicht haben. In seiner State of the Union Address an den Kongress vom Januar 1995 berichtete Bill Clinton etwa von einer Mutter mit vier Kindern, die als Teenager verheiratet wurde, später als Freiwillige im Americorps Zweitklässler im Lesen unterrichtete und schließlich, inspiriert und motiviert durch ihren Freiwilligendienst, selbst den Highschool-Abschluss nachholte. Höchst beeindruckend waren das Engagement und die Leidenschaft, mit der Clinton sich dem Aufbau dieses Freiwilligendienstes verschrieben hat. Clinton hatte, so schreibt sein Biograf Joe Klein, „seine stärksten Augenblicke als Kandidat (...) nicht, wenn er Versprechen machte oder den politischen Gegner kritisierte, sondern wenn er eine höhere Aufgabe für junge Menschen, eine neue Form des Zivildienstes, des Dienstes an der Gemeinschaft vorschlug. Die Botschaft war hoch emotional.“ Die politische Initiative und Führung des Präsidenten, der die Freiwilligendienste zur Chefsache machte, waren wesentliche Erfolgsfaktoren für Americorps.

Wirtschaftsunternehmen als good corporate citizens

Man mag sich eine ähnlich leidenschaftliche Unterstützung deutscher Spitzenpolitiker für die Stärkung der Bürgergesellschaft wünschen. Nicht minder wichtig für die deutsche Diskussion und Politik sind jedoch drei andere Aspekte: erstens die Orientierung am Nutzen für die jungen Menschen, die von einem modernen Begriff bürgerschaftlichen Engagements zeugt; zweitens die systematische Einbeziehung von Wirtschaftsunternehmen als good corporate citizens in sektorenübergreifende Partnerschaften zwischen Staat, Kommunen, Bildungseinrichtungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Wirtschaft; drittens schließlich die thematische Spezialisierung und, verbunden damit, die strategische Flankierung der Freiwilligenprogramme durch politische Kommunikation, die deutlich wird beispielsweise an der Einbeziehung von Americorps-Freiwilligen in Kampagnen wie America Reads zur Verbesserung der Lesefähigkeit.

Americorps bietet intelligente Anreizsysteme, mit denen die jungen Menschen zum Engagement motiviert werden: Bildungsgutscheine, einen Schuldenerlass auf Studentendarlehen, ermäßigte Studiengebühren, kurz: allerhand Gratifikationen des Bildungssystems, mit denen die jungen Menschen sich Lebenschancen erschließen können. Gewissermaßen nebenbei, jedenfalls nicht als unmittelbares Lockmittel, öffnet der Einsatz bei Americorps den Zugang zu wichtigen Netzwerken und verbessert auch die Arbeitsplatzchancen – die amerikanischen Unternehmen honorieren in der Regel, im Unterschied zu deutschen, bürgerschaftliches Engagement der Bewerberinnen und Bewerber.

Dieser auch ganz individuelle Nutzen für die Freiwilligen, der das Engagement zu einer Win-win-Situation macht, kommt einem Bedürfnis der Engagierten entgegen, das alle einschlägigen Umfragen der jüngeren Zeit immer wieder betonen: Der Einsatz fürs Gemeinwohl soll sich auch für die Freiwilligen lohnen – in Form von Freude und Anerkennung, aber auch in Form der handfesten Verbesserung der eigenen Lebenschancen, dem Gewinn neuer Kompetenzen, neuer Kontakte et cetera. Die Zeiten des reinen Altruismus sind, sofern es sie überhaupt jemals gegeben hat, definitiv vorbei. Ein staatlich gefördertes Freiwilligenprogramm, das nicht nur mit einer Grundversorgung für die Dienstzeit selbst, sondern auch mit Anreizen und Perspektiven für die Zeit danach lockt, basiert in diesem Sinne auf einem modernen Begriff von bürgerschaftlichem Engagement und setzt auf Nutzen für alle Beteiligten einschließlich der Freiwilligen selbst.

Die Betonung der Win-win-Konstellation, besonders die Betonung des Nutzens für die Freiwilligen, markiert übrigens gewissermaßen die Epochenschwelle, die Americorps von seinem berühmten Vorläufer trennt, dem Peacecorps von Präsident Kennedy. Das berühmte Kennedy-Wort: „Frage nicht, was dein Land für dich tut, sondern frage, was du für dein Land tun kannst“, bringt den Altruismus-Appell zum Ausdruck, der die fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts prägte und bis heute in Sonntagsreden zum Ehrenamt immer wieder gerne bemüht wird. Clinton hingegen stand für einen anderen epochalen Geist, als er 1995 in seiner State of the Union Address den Start von Americorps präsentierte: „Dies ist bürgerschaftliches Engagement in seiner besten Form. Es ist gut für die Freiwilligen von Americorps, und es ist auch gut für uns andere“.

In der deutschen Debatte um die Modernisierung der Freiwilligendienste bleibt die Wirtschaft bislang weitgehend unberücksichtigt – Unternehmen tauchen weder als Partner des öffentlichen Sektors, der Freiwilligendienste komplementär fördert, noch als Nachfrager bürgerschaftlich ausgewiesener Arbeitskräfte und damit als potenzieller Motivationsfaktor für freiwilliges Engagement auf. In den Vereinigten Staaten hingegen war die Wirtschaft von vornherein Partner der öffentlich geförderten Freiwilligenprogramme, und zahlreiche Unternehmen leisteten dort als Good Corporate Citizens ihren Beitrag zur Mobilisierung bürgergesellschaftlicher Ressourcen.

Das mag deutsche Ohren immer noch erstaunen: Welches Interesse sollte ein Unternehmen haben, solch ein staatlich gefördertes Freiwilligenprogramm für junge Leute zu unterstützen? Gleich mehrere: Zum einen gehört es für Unternehmen in Amerika gewissermaßen zum guten Ton, sich nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als bürgergesellschaftliche Akteure zu engagieren. Die Verbraucher fordern deutlich bewusster als in Deutschland eine sozial und ökologisch verantwortliche Performance, und ein Unternehmen, das sein volles Marktpotenzial ausschöpfen will, ist gut beraten, sich erkennbar dem Gemeinwohl verpflichtet zu zeigen. Zum anderen haben die Unternehmen ein personalwirtschaftliches Interesse an dem qualifizierten Nachwuchs, der sich in den Freiwilligendiensten herausbildet: bürgerschaftlich Engagierte erwerben eine ganze Reihe von sozialen, kommunikativen und organisatorischen Kompetenzen, die auch für den Arbeitgeber von Interesse sind, und oftmals sind die Engagierten auch im Betrieb die Leistungsträger.

Was die Wirtschaft zum Mitmachen motivieren kann

So weit die allgemeinen Motive für Corporate Citizenship. Darüber hinaus gibt es auch Gründe, die speziell für die Beteiligung an einem Americorps-Programm sprechen. Zum einen haben die lokalen Unternehmen ein Interesse an einer Lösung für spezifische Probleme der örtlichen Gemeinschaft, die durch Americorps-Freiwillige erarbeitet werden: seien es die Lese- und Rechtschreib- oder Rechenschwächen der Kinder und Jugendlichen am Ort (die später keine hinreichend qualifizierten Mitarbeiter abgeben), sei es die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, sei es die Verbesserung der örtlichen Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement (die über die Erleichterung von Zugängen zu Freiwilligenarbeit mittelfristig das soziale Kapital der lokalen Gemeinschaft erhöht). Und nicht zuletzt: Unternehmen haben ein Interesse an der Erschließung zukünftiger Märkte in den sozialen Brennpunkten, die durch den Einsatz von Americorps -Freiwilligen entschärft werden können – aus dieser Motivationsquelle speist sich etwa das Engagement einiger Banken, die in den Bewohnerinnen und Bewohnern gegenwärtiger Problemstadtteile zukünftige Kundinnen und Kunden erblicken.

Es gibt also eine Vielzahl von Gründen, die Unternehmen dazu motivieren können, sich als Partner in einem nationalen oder lokalen Freiwilligenprogramm zu engagieren – andere Länder sind darin deutlich weiter als wir. Und es gibt eine Vielzahl von Gründen, welche die politisch und administrativ Verantwortlichen dazu motivieren sollten, die Partnerschaft der Wirtschaft zu suchen: das Interesse an einem Ko-Finanzier, das Interesse am Know-how privatwirtschaftlicher Akteure, die dem öffentlichen Sektor mindestens in Sachen Effizienz und Managementkompetenz deutlich voraus sind, und schließlich das Interesse an einer (Wieder-)Einbindung der Wirtschaft in die soziale Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft unseres Gemeinwesens – die globalisierte Wirtschaft hat scheinbar jede geografische und soziale Bindung verloren. Das Engagement für das örtliche Gemeinwesen in Form von Corporate Citizenship ist ein Weg, die entwurzelte Wirtschaft zu resozialisieren und wieder in lokale Bezüge einzubinden.

Die Freiwilligendienste in Deutschland finden mehr oder weniger im Verborgenen statt, und die Wirkung der Arbeit von Absolventen eines Freiwilligen Sozialen oder Ökologischen Jahres ist für die Öffentlichkeit ebenso unsichtbar wie ihre Arbeit selbst. In Amerika ist man geschickter darin, die Leistungen der Freiwilligen sichtbar zu machen. Ob der Eindruck der Wirksamkeit von den Fakten gestützt wird oder bloß kommunikativem Geschick zu verdanken ist, lässt sich aus der Ferne und ohne komparative Wirkungsanalysen kaum beurteilen. In jedem Fall erleichtert die thematische Spezialisierung sowohl die Demonstration gesellschaftlicher Wirksamkeit als auch die Gewinnung potenzieller Freiwilliger und nicht zuletzt die öffentlichkeitswirksame politische Kommunikation der Grundideen, Leistungen und Potenziale von Freiwilligendiensten.

Besonders wichtig ist die Lesefähigkeit

So sucht die amerikanische Trägerorganisation Corporation for National and Community Service bei der Durchführung der Americorps-Programme nicht nur die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Unternehmen und Kommunalverwaltungen, sondern gibt zudem thematische Schwerpunkte vor, in die sich lokale Projekte einbinden können: etwa Bildung, die Überwindung der digitalen Spaltung der Gesellschaft, der „Heimatschutz“, der nach dem 11. September 2001 eine wichtige Rolle auch in den Freiwilligendiensten spielt. Besonders wichtig ist die Lesefähigkeit – ein Thema, dem sich auch in Deutschland bürgergesellschaftliche Initiativen widmen, ohne dass bislang ein konzeptionelles oder praktisches Bindeglied zu den Freiwilligendiensten hergestellt worden wäre.

In Amerika reihen sich die Aktivitäten von Americorps zur Erhöhung der Lesefähigkeit ein in die breite Kampagne America Reads, die Präsident Clinton im Jahre 1997 ausrief. Bereits in den drei Jahren bis 2000 verpflichteten sich 1.400 Colleges und rund 26.000 Studierende, Kindern das Lesen beizubringen. Ungefähr eine Million Kinder wurden im Rahmen von Freiwilligenprogrammen unterrichtet, in ihren Lesebemühungen unterstützt und betreut. Die Lesekompetenz amerikanischer Schulkinder gerade in sozial schwierigen Stadtteilen hat sich dadurch nachweislich verbessert – während im selben Zeitraum die deutschen Kinder im internationalen Vergleich zunehmende Leseschwächen offenbarten. Jeder vierte 15-Jährige ist nach der neuesten PISA-Studie bei uns nicht in der Lage, einfache Texte zu verstehen.

Diese Ergebnisse der PISA-Studie haben nicht nur deutsche Bildungspolitiker in Bund, Ländern und Kommunen aufgeschreckt, sondern auch verschiedene bürgergesellschaftliche Initiativen auf den Plan gerufen, darunter Deutschland liest vor unter der Schirmherrschaft von Doris Schröder-Köpf. Warum sollten diese Initiativen nicht unterstützt werden, indem sie für den Einsatz von Freiwilligendiensten geöffnet werden? Das wäre eine Verbindung, die Anforderungen sowohl an die Neuordnung der Freiwilligendienste als auch an die Initiativen selbst stellt und diese zusammenbringt mit den Schulen, die ihre Anstrengungen in der Leseförderung noch keinesfalls hinreichend erhöht haben.

Ein New Deal zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Staat

Das Ergebnis wäre – so die bürgergesellschaftlich ambitionierte Vision einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Staat – eine Kooperation verschiedener Institutionen, die idealerweise auch Partner aus der Privatwirtschaft umfasst, die eine solche Initiative durch Geld-, Sach- und Zeitspenden unterstützen. Studierende verpflichten sich freiwillig zu Lesestunden in Schulen; vielleicht erlässt man ihnen dafür nach amerikanischem Vorbild sogar einen Teil ihrer BaföG-Schulden. (Früh-)Pensionierte lesen an Schulen und vermitteln den Kindern zusammen mit den vorgelesenen Geschichten zugleich einen Teil ihrer Lebenserfahrung. Firmen spenden Bücher und die Lese- oder auch Managementkompetenz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Schulkinder geben ihr Wissen an Kleinere weiter und lesen anderen Schülern aus niedrigeren Klassen oder auch Kindergartenkindern Geschichten vor. Die Kinder finden (wieder) Spaß am Lesen und auch an der Gemeinschaft mit Jüngeren, Gleichaltrigen, Älteren und sehr viel Älteren. Einwandererkinder erfahren in den Vorlesestunden mit der Leseförderung auch eine gezielte Sprachförderung. Und eine intelligente öffentlichkeitswirksame Kampagne vermittelt Grundidee, Potenziale und Ergebnisse dieser Kooperation in die breite Öffentlichkeit, lädt Gleichgesinnte zur Nachahmung ein und ermutigt überhaupt zu bürgergesellschaftlicher Kreativität, zu Phantasie und Tatendrang.

Soll eine solche Vision Wirklichkeit werden, bedarf es allerdings nicht nur bürgergesellschaftlichen Pioniergeistes. Es bedarf unbedingt auch eines neuen Namens für die Freiwilligendienste als dem Kern einer solchen Bewegung. Nicht von ungefähr haben die Amerikaner ihrem national service einen Namen gegeben: Americorps ist eine ansprechende Symbolisierung des Gemeinten, die geschickt Werte wie Gemeinschaft und Patriotismus transportiert. Der Begriff „Freiwilligendienst“ hingegen klingt angestaubt, nach Fremdbestimmung, Pflicht und obrigkeitsstaatlichem Zwang, anstatt neue Perspektiven für die Bürgergesellschaft im Allgemeinen und den individuellen Lebensplan im Besonderen zu öffnen. Dieser Name schreckt ab anstatt zu locken. Mit den Freiwilligendiensten sollten wir auch ihren Namen neu erfinden, damit aus der Idee eine Botschaft wird.

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