Freiheit und Fairness



Ungerechtigkeit wird zuerst gefühlt. Ich habe in den letzten Monaten viele Gespräche geführt, in denen meine Gegenüber dieses Gefühl ausgedrückt haben: Darunter war beispielsweise der Besitzer eines kleinen Geschäfts, der jeden Monat knapp mit jedem Euro kalkulieren muss, während der Staat den Banken mit Milliarden Euro Schutzschirme spannt. Die junge Frau, die alles getan hat, um im Beruf Fuß zu fassen " aber nun keinen Kita-Platz findet. Der Rentner, der sein Einkommen mit den Bezügen eines DAX-Vorstands verglichen hat. Ein Herzchirurg, der nach jahrzehntelanger Arbeit jetzt zu den Kapazitäten in seiner Disziplin gehört und sich durch die "Reichensteuer" bestraft fühlt.

Der Mitarbeiter eines Konzerns, der ausgerechnet hatte, dass der Gewinn seines Arbeitgebers schneller steigt als sein Gehalt. Ein Unternehmer, der sein Leben in den Dienst seines Betriebs gestellt hat und nun sein Lebenswerk vor einem als unmoralisch empfundenen Fiskus schützen will, indem er vor der Erbschaftssteuer ins Ausland flieht. Jeder kennt andere Beispiele.

Die subjektiv wahrgenommene Ungerechtigkeit erregt starke Emotionen, die Menschen zu allen Zeiten bewegt und veranlasst haben, für eigene Interessen und höhere Ideale zu streiten. Allerdings sind diese Gefühle auch an die eigene Lebensperspektive gebunden. Und das dabei jeweils zu Grunde gelegte Paradigma der Gerechtigkeit ist situationsabhängig: Einem Verhungernden werden wir zu Essen geben und nicht zuerst Fragen stellen: Bedürfnisgerechtigkeit will konkret die soziale Lage Einzelner verbessern. Es gibt beim Kindergeburtstag schnell Tränen, wenn nicht jedes Kind ein gleich großes Tortenstück erhält: Gleichheit als Gerechtigkeitsmodell will soziale Beziehungen verbessern. Der Bäcker, der günstiger und besser backen kann, wird mehr Brötchen verkaufen als seine Wettbewerber und deshalb mehr verdienen: Gerechtigkeit der Leistung will Effizienz, indem sie Einzelne entsprechend ihres Anteils am Zustandekommen eines Gemeinschaftsergebnisses belohnt. Keine dieser drei Modellvorstellungen ist aber allein tauglich, menschliches Zusammenleben zu gestalten.

Gerechtigkeit ergibt sich nicht aus der Summe der Einzelforderungen und Einzelperspektiven. Vielmehr ist die Frage nach einer gerechten Gesellschaft genuin politisch " um ihre Antwort muss gerungen werden. Zumal in Zeiten entfesselter Dynamiken in Wirtschaft und Gesellschaft werden Veränderungen als Gerechtigkeitsfragen wahrgenommen " so war es schon beim Wechsel von der Agrar- in die Industriegesellschaft. Und so ist es in Deutschland heute in der dämmernden Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wieder: Seit Beginn der neunziger Jahre steigt in Umfragen die Zahl derjenigen, die meinen, in Deutschland gehe es eher ungerecht zu. Mit der nüchternen statistischen Wirklichkeit hat diese "gefühlte Temperatur" wenig zu tun; beispielsweise blieb die Einkommenskonzentration (Gini-Index) seit der Deutschen Einheit in etwa konstant. Aber es ist ein Alarmzeichen, wenn immer mehr Menschen mangelnde Aufstiegschancen beklagen oder Abstiegsängste bewältigen müssen. Deshalb braucht unser Land eine Debatte über den Begriff der Gerechtigkeit und über Wege zu einer in diesem Sinne gerechteren Gesellschaft. In dieser Klärung liegt für Deutschland die Herausforderung, einen neuen sozialen Konsens für die Zukunft zu gewinnen. Ich bin zudem überzeugt: Geteilte moralische Empfindungen prägen die Entscheidung für oder gegen eine politische Richtung stärker als einzelne Programmaspekte.

Die Wiesbadener Grundsätze, das aktuelle Grundsatzprogramm der Freien Demokraten aus dem Jahr 1997, verwenden den Begriff der "sozialen Gerechtigkeit". Er ist gewiss politisch korrekt, insofern er zur Phraseologie der deutschen Parteien gehört. Mit ihm lässt sich jeder Eingriff in Markt und Gesellschaft gegen Einwände verteidigen, knallhart vertretene Gruppeninteressen können gegen Widerspruch immunisiert werden, und kaum ein Vorwurf wiegt schwerer als der, eine Politik verstoße gegen die "soziale Gerechtigkeit". Der Versuch ihrer Verwirklichung hat den "Staat zu einem Tag und Nacht arbeitenden Pumpwerk der Einkommen" (Wilhelm Röpke) gemacht " aber wirklich auch gerechter und sozialer? Was bezeichnet also dieser Begriff? Der liberale Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich-August von Hayek zog aus seinen langwierigen Bemühungen um eine Klärung den Schluss, "dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn macht", denn "niemand hat bis jetzt eine einzige allgemeine Regel herausgefunden, aus der wir für alle Einzelfälle, auf die sie anzuwenden wäre, ableiten könnten, was "sozial gerecht" ist". Es handele sich um einen "quasi-religiösen Aberglauben". Für Liberale liegt deshalb eine Chance darin, ihren Gerechtigkeitsbegriff in Abgrenzung zum ausgehöhlten Kampfbegriff der "sozialen Gerechtigkeit" zu präzisieren. Aus den Wiesbadener Grundsätzen ergibt sich indes nur implizit ein Umriss. Dabei verfügen die Liberalen über eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die den moralischen Gefühlen vieler und immer mehr Menschen entspricht: Fairness.

Individuen erster und zweiter Klasse gibt es nicht

Ein liberaler Gerechtigkeitsbegriff baut auf der Menschenwürde der Einzelpersönlichkeit und ihrer daraus folgenden Freiheit auf " die Freiheit geht ausdrücklich der Gerechtigkeit voraus! Der Einzelne ist frei, weil ein Leben in Würde unter dem Machtdiktat anderer nicht denkbar wäre. Der Wert der Menschenwürde impliziert eine fundamentale Gleichheit, weil es keine Individuen erster und zweiter Klasse geben kann. Aus der Freiheit folgt das Recht auf das Eigentum an den Ergebnissen von Arbeit und Tausch. Die Freien kooperieren zur Herstellung einer staatlichen Ordnung, die im Interesse aller die Bedingungen für freien Wettbewerb schafft und erhält. Dieses Credo des Liberalismus hat prinzipiell Bestand. Es bildet heute aber nur die eine Dimension der Freiheit, die sich negativ als Abwesenheit von Zwang und als Abwehr von staatlichem Zugriff auf Privatsphäre und Privateigentum definiert. Geöffnet wird durch diese "quantitative Freiheit" (Claus Dierksmeier) ein Raum, in dem Menschen autonom zwischen Optionen für den eigenen Lebensweg wählen können. Die Freiheitsbilanz der Gesellschaft insgesamt verbessert sich aber nicht dadurch, dass nur die Zahl wertloser oder theoretischer Optionen maximiert wird. Die Wahlentscheidung beispielsweise zwischen den nur zwei akzeptablen Lebensentwürfen Tennislehrer oder Fischhändler wäre den vier scheußlichen Optionen Hungertod, Kriminalität, Ausbeuterlohn oder Glückspiel vorzuziehen.

Ich verstehe Freiheit in ihrer qualitativen Dimension als Summe von "Lebenschancen" (Ralf Dahrendorf): Frei ist derjenige, der zwischen möglichst vielen, wertvollen und realisierbaren Optionen für den eigenen Lebensweg wählen kann. Diese Freiheit bedarf für jeden Einzelnen einer materiellen Grundlage, aber genauso auch ideeller Voraussetzungen wie Toleranz, Bildung, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsgefühl für sich wie andere. Hingegen ist nicht frei, wer Angst vor Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Diskriminierung haben muss. Eine Gesellschaft ist also zuerst gerecht, wenn sie durch ihre Institutionen sicherstellen kann, dass möglichst alle diese "Befähigungen" (Amartya Sen) " die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten " zur Verwirklichung von wertvollen Lebenschancen erhalten.

Der türkischstämmige Junge als Köln, der keinen Schul- und Berufsabschluss hat und der trotz zehnjährigem Schulbesuch nur gebrochen Deutsch spricht, ist in diesem Sinne nicht frei, denn ihm stehen nur theoretisch alle Türen offen. Andererseits ist die Arbeitnehmerin mit 60, die sich bereits eine Alterssicherung oberhalb des Existenzminimums erarbeitet hat und Abschläge von ihrer Rente in Kauf nehmen würde, um sich dem Ehrenamt und den Enkeln widmen zu können, nicht frei, wenn sie von den Sozialversicherungen im Erwerbsleben gehalten wird. Und auch der hoch qualifizierte Rechtsanwalt ist nicht frei, wenn er gegen seinen persönlichen Willen auf den Rechtsanspruch auf Elternzeit verzichtet, weil er den Spott seiner herkömmlichere Familienmodelle lebenden Kollegen fürchten muss.

An diesem letzten Beispiel zeigt sich besonders, dass Freiheitsqualität nicht überwiegend oder gar ausschließlich vom Staat herzustellen ist, sondern auf ein gesellschaftliches Fundament der Liberalität und Toleranz und damit des aktiven Ermöglichens der Freiheit des anderen angewiesen ist: Informelle Konventionen und Konformitätsanforderungen bestimmen individuelle Lebensentwürfe genauso wie formelle Gesetze und Strukturen des Sozialstaats und seiner Bürokratie.

Chancen sind keine Garantien: Sie werden erst durch individuelle Anstrengungen zu konkret gelebten Biografien " oder sie werden verwirkt. Die Freiheit unterschiedlicher Individuen führt trotz einer Gleichheit der Rechte und des Bemühens um vielfältige Chancen notwendigerweise zu gesellschaftlicher Ungleichheit mit Blick auf die im freien Wettbewerb erzielten Verteilungsergebnisse.

Insoweit ergeben sich zwei gleichrangige Gerechtigkeitsgrundsätze: Zum einen bilden größtmögliche und für alle Individuen gleiche Grundfreiheiten als unveräußerliche Rechte des Einzelnen das politische Gerüst eines gerechten Gemeinwesens. Dazu gehören die Meinungs- und Gewissensfreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie die politischen Partizipationsrechte, die nicht aufgrund wirtschaftlicher oder kultureller Erwägungen eingeschränkt werden dürfen. Zum anderen ist aber in Bezug auf die sozialen Verhältnisse Ungleichheit legitimiert " unter bestimmten Bedingungen. Ergebnis des Marktprozesses ist eine Ordnung der Leistungsgerechtigkeit, sofern sich alle Teilnehmer dem Wettbewerb in gleicher Weise ungehindert und diskriminierungsfrei stellen konnten. Es ist ein Zustand der Ungleichheit, da sich Leistungsfähigkeit und -bereitschaft individuell unterscheiden und der Preisbildungsmechanismus zudem die relative Knappheit von Gütern und Dienstleistungen bewertet. Eine Organisation des menschlichen Zusammenlebens wird allerdings auf der Basis nur dieses einen Gerechtigkeitsparadigmas kaum breite Zustimmung finden. Deshalb muss Ungleichheit weiter gerechtfertigt werden.

Persönlicher Erfolg braucht zivilisatorische Voraussetzungen

Nach John Rawls ist Ungleichheit legitim, wenn nicht nur die Allgemeinheit, sondern jedes einzelne " gerade auch das schwächste " Gesellschaftsmitglied von diesen Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen, Vermögen und Status profitiert und ihnen bei einer rationalen Betrachtung zustimmen könnte. Dieses "Differenzprinzip" formuliert eine hohe Rechtfertigungsbedürftigkeit für soziale Unterschiede: Die Effizienz freier Märkte allein, die den allgemeinen Wohlstand maximieren, wäre nicht hinreichend. Legitimität wird allerdings dann hergestellt, wenn die sich aus dem Wettbewerb am Markt ergebende Ungleichheit durch Verteilungspolitiken " ich verwende das provokante Wort bewusst " so gedämpft wird, dass die den Wohlstand erwirtschaftende Risiko- und Leistungsbereitschaft der Starken nicht beeinträchtigt wird, die Schwachen aber dennoch in einer Ordnung legitimer Ungleichheit besser gestellt sind als in einer egalitären, aber weniger dynamischen Gesellschaft. Der soziale Ausgleich sollte sich nach meiner Überzeugung nicht überwiegend auf Ressourcen beziehen, sondern vielmehr bei der Verbesserung der Handlungsmöglichkeiten " im Sinne der von Amartya Sen definierten "Befähigungen" " der vormals Schwachen ansetzen, erneut und gestärkt in das Wettbewerbsspiel einzutreten. Der redistributive Eingriff darf nicht im Marktprozess erfolgen und damit dessen Belohnungs-, Koordinierungs- und Innovationsfunktionen beschädigen; er muss dessen Ergebnis zum Ausgangspunkt nehmen. Die Verteilungswirkung sollte zudem transparent erreicht werden, indem sie allein auf das Steuersystem beschränkt wird.

Libertäre Gegner dieser Gerechtigkeitskonzeption wie Robert Nozick machen dagegen allein das Handeln eines Individuums beziehungsweise seine Leistung zum Maßstab dessen, auf welche Ressourcen ein gerechtfertiger Anspruch besteht. Verteilungspolitiken lehnen sie ab. Beispielsweise plädieren sie oft für eine pauschale Kopfsteuer, die für alle Bürger die exakt gleiche Höhe hat. Die libertäre Position überzeugt mich nicht: Auch persönlicher Erfolg braucht schließlich zivilisatorische Voraussetzungen, gesellschaftliches Vorwissen und Kooperationsbeziehungen, die der Erfolgreiche vorgefunden und nicht selbst geschaffen hat. Durch seine stärkere Eingebundenheit in den sozialen Prozess profitiert er zudem besonders von öffentlichen Gütern wie der Infrastruktur. Und nicht zuletzt basiert sein Erfolg in der Regel zumindest auch auf natürlichen Begabungen und familiären Prägungen, die sich nicht eigener Leistung, sondern der "natürlichen Lotterie" verdanken. Im Umkehrschluss haben die von der Natur Benachteiligten keine gleiche Chance auf Erfolg, was eine stärkere Inanspruchnahme der Starken zur Milderung dieser eben nicht auf Leistung basierenden Ungleichheit rechtfertigt. Fairness ist also in meinem Verständnis keine reine Konzeption der Leistungsgerechtigkeit; sie greift ebenso die Paradigmen von Bedürfnis und Gleichheit auf.

Diese theoretischen Darlegungen sind praktisch nicht als Verteidigung des Status quo in Deutschland oder gar als Forderung nach neuer Umverteilung misszuverstehen. Im Gegenteil widersprechen die herkömmlichen Verteilungspolitiken in der Bundesrepublik unseren Idealen. Hierzulande wird zu diesem Zweck das Marktgeschehen verzerrt (Beispiel Mindestlöhne) und der soziale Ausgleich in unterschiedlichen Regelsystemen gesucht (von der Einkommensstaffelung der Kindergartenbeiträge bis hin zu Privilegierungen einzelner Gruppen in den gesetzlichen Krankenversicherungen) " mit dem Preis der vollständigen Intransparenz. Die Grenze von aus liberaler Sicht legitimer Verteilungspolitik ist ferner dort erreicht, wo Leistungsunterschiede nivelliert, Leistungsbereitschaft zerstört und Anerkennung durch Neid ersetzt wird. Diese Grenze ist lange überschritten. Die Deutschen leiden an der lähmenden "Gleichheitskrankheit" (Udo Steiner) " zum Schaden der Starken wie der Schwachen.

Die Menschen befähigen, ihre Lebenschancen zu nutzen

Ein liberaler Begriff von Gerechtigkeit unterscheidet sich von anderen Konzeptionen aber gerade dadurch, dass er Ungleichheit nicht nur mit Bedauern akzeptiert, sondern sie vielmehr als notwendig und unvermeidlich bewertet, sofern dies Ergebnis eines an für alle gleichen Regeln orientierten Wettbewerbsspiels in Wirtschaft und Gesellschaft ist. Ungleichheit ist die Hefe im Teig der Marktgesellschaft: In ihr ist der Starke nicht automatisch und dauerhaft stark, der Schwache nicht automatisch und dauerhaft schwach. In einer solchen Ordnung der Freiheit mobilisiert Ungleichheit Energien und hält jeden dazu an, das Beste aus seinen Möglichkeiten zu machen " hier ist sie die Quelle der Hoffung, dass Schweiß und Tränen durch Aufwärtsmobilität belohnt werden. Sie ist nur dann nicht mehr legitim, wenn "aus den materiellen Ungleichgewichtslagen harte Strukturen der Freiheitsverengung wachsen, weil wenige selbstherrlich über die Lebensbedingungen herrschen" (Udo Di Fabio) " wenn also die Vielfalt der Lebenschancen verloren geht.

Liberale Politik will Menschen befähigen, ihre Lebenschancen in eigener Verantwortung und aus eigener Kraft zu nutzen. Unser Ziel ist es, dass eine prosperierende Marktwirtschaft mit Beteiligungsmöglichkeiten für alle die sozialpolitischen Aufgaben des Staates reduziert und seine Handlungsmöglichkeiten zugleich vergrößert. Wir konzentrieren unsere Sozialpolitiken deshalb darauf, möglichst jeden Einzelnen in den Erwerbsprozess zu integrieren. Dabei darf es keine Rolle spielen, dass gering Qualifizierte in der Wissensgesellschaft am Markt immer seltener ihren Lebensunterhalt erwirtschaften können. Ihre Einkommen sind durch Umverteilungswirkungen im Steuersystem auf ein die Existenz sicherndes Niveau zuzüglich einer Anreize stiftenden Prämie für ihr Engagement im Erwerbsleben anzuheben " am besten durch eine negative Einkommensteuer. Dieses Bemühen um möglichst umfassende Inklusion in den Erwerbsprozess ist nicht Ausdruck von Pragmatismus. Es verdankt sich Humanität und Verantwortungsethik, weil Aktivieren sozialer ist als Alimentieren.

Die Politik der fürsorglichen Vernachlässigung

Viele Sozialdemokraten und Christsoziale halten hingegen alternativlos am Modell einer Vollzeitbeschäftigung fest, mit der eine Familie ihren Lebensunterhalt bestreiten kann. Wer aufgrund von qualifikatorischen Mängeln oder anderen Umständen entsprechende Einkommen nicht am Markt erzielen kann, bestreitet seinen Lebensunterhalt durch staatliche Transferzahlungen. Die Motive mögen edel sein, im Ergebnis werden Schwache und Bedürftige aber "fürsorglich vernachlässigt" (Paul Nolte). Es ist kein zivilisatorischer Fortschritt, dass wegen dieser Politik die Sozialbudgets wachsen und die Gruppe der als wirtschaftlich unmündig Betrachteten immer größer wird.

Eine solche Politik ist sogar gefährlich für die Stabilität unserer Gesellschaft insgesamt, weil sie einen sukzessiven Mentalitätswandel bewirkt. Wenn immer mehr Bürger ideell und materiell zu Staatskunden degradiert werden, geht der Wert des eigenverantwortlichen Lebensvollzugs verloren: Während es früher zum Ethos des Arbeitermilieus gehörte, unabhängig von fremder Hilfe auf eigenen Beinen zu stehen, betrachtet heute mancher Transferzahlungen als gegenleistungsfrei gewährte Rente. Und mehr als ein Drittel der Befragten meinten 2008 in einer Umfrage des Bankenverbandes, es sei Aufgabe nicht der Einzelnen, sondern des Staates, den Wohlstand zu sichern. "Freiheitsfähigkeit und Freiheitswilligkeit als Voraussetzung und Ergebnis einer liberalen Gesellschaftsordnung" (Guy Kirsch) müssen zusammen gedacht werden.

Eine Gesellschaft von Taschengeldempfängern müssen wir uns als unglückliche Gesellschaft vorstellen. Denn Arbeit ist nicht allein dem "Reich der Notwendigkeit" zuzuordnen, das dem "Reich der Freiheit" gegenübersteht, in dem dann die Persönlichkeit verwirklicht wird. Diese auf Karl Marx zurückgehende Dichotomie bestimmt bis heute mal bewusst, mal unbewusst das linke Bild der Erwerbsarbeit. Tatsächlich aber beziehen Menschen einen großen Teil ihrer Selbstachtung aus der aktiven Teilhabe am Gemeinwesen. Durch innere, aber öfter durch äußere Motivation lernen wir und erweitern wir unseren Horizont. Nicht zuhause im Wohnzimmer wachsen wir zu Persönlichkeiten, sondern in der Auseinandersetzung draußen in der sozialen Umwelt. Arbeit strukturiert den Tag, die Woche, das Jahr. Sie diszipliniert uns. Deshalb erhält eine Alimentierung ohne die energische Einforderung von Gegenleistungen den inhumanen Charakter einer Stilllegungsprämie. Sie ist der einfachste Weg. Trotz guter Absicht ist ihr Ergebnis Lethargie und nicht die mündige, aufgeklärte und glückliche Persönlichkeit, die ihren Platz in der Mitte unserer Gesellschaft gefunden hat. Vor allem aber ersetzt sie nach und nach die echte Sozialität in Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft.

Was Deutschland fairer machen würde

Ein faires Deutschland verfügt über ein Bildungssystem, das jedem unabhängig von der Herkunft praktische Lebenstüchtigkeit im Alltag, die bestmögliche Qualifikation für das Erwerbsleben und die emanzipierte Teilhabe an sozialen und kulturellen Gütern vermittelt. Bildungsausgaben sind Sozialinvestitionen, die allemal Sozialreparaturen vorzuziehen sind. Neben zahlreichen Einzeldiskussionen " kann die Hauptschule realistischerweise noch eine Zukunft haben? " ist eine der größten Herausforderungen die fatale Selbstselektion bildungsferner Schichten: Vor allem Menschen mit Zuwanderergeschichte bleiben in ihrer Bildungsbiografie oft genug aus eigenem Entschluss unter ihren Möglichkeiten. Ein System von Paten und Mentoren könnte diesem Umstand abhelfen.

Ein faires Deutschland schafft sozialen Ausgleich ausschließlich im Steuersystem. Hier verwirklichen sich redistributive Ziele. Alle anderen öffentlich-rechtlichen Systeme insbesondere der Sozialen Sicherung bauen weitgehend auf dem Äquivalenzprinzip von Leistung und Gegenleistung beziehungsweise Anspruch auf. Dadurch werden auch Anreize für den schonenden Umgang mit ihren Ressourcen gegeben (Verringerung von Moral-Hazard-Verhalten).

Ein faires Deutschland besteuert Einkommen progressiv " allerdings auf anderem Niveau. Wer mehr verdient, führt auch prozentual einen höheren Anteil an das Gemeinwesen ab. Eine Kopfsteuer, die von orthodoxen Libertären gefordert wird, widerspricht diesem Ziel. Eine flat tax dagegen nicht, wenn sie mit steuerfreien Grundfreibeträgen verbunden wird. Rechnerisch ergibt sich nämlich auch dann eine progressive Wirkung. Allerdings darf die Belastung der Leistungsträger nicht deren Motivation und ihre Möglichkeit zur Kapitalbildung beschneiden. Niemand sollte mehr als ein Drittel seines Einkommens über direkte Steuern abführen müssen. Über die indirekten Steuern wächst der Steueranteil am Einkommen bei Leistungsstarken mit höheren Konsumausgaben schließlich ohnehin.

Jede Generation will für die nächste vorsorgen

Ein faires Deutschland besteuert Eigentum nicht. Vermögen und Erbschaften bleiben unangetastet, weil sie mit schon versteuertem Einkommen gebildet wurden. Die Besteuerung des Todes ist inhuman. Diejenigen Liberalen, die für die vollständige Chancen- und Leistungsgerechtigkeit eintreten, plädieren dagegen für eine regelrecht konfiskatorische Besteuerung der Erbmasse, damit alle aus der gleichen Lage heraus in das Wettbewerbsspiel eintreten (beispielsweise Alexander Rüstow). Eine solche Chancengleichheit ist allein wegen der immateriell unterschiedlichen Startbedingungen Illusion. Ein an dieser Fiktion orientiertes Steuersystem würde zudem eine anthropologische Konstante mit Füßen treten: dass nämlich eine Generation für die nächste vorsorgen will. Stattdessen würden fatale Anreize geschaffen, das gebildete Vermögen möglichst vollständig in der eigenen Lebenszeit und vor dem Zugriff des Fiskus zu verjuxen.

Ein faires Deutschland konzentriert seine Sozialpolitik auf die Integration in das Erwerbsleben. Eine Politik für Fairness wertschätzt und gleicht materiell aus, wenn ein Mensch für ein marktkonformes Einkommen arbeitet, das den eigenen Lebensunterhalt aber (noch) nicht sichert. Sie weiß, dass Beschäftigungsfähigkeit (employability) auf diesem Weg besser zu erhalten und auszubauen ist als durch realitätsferne Maßnahmenkarrieren.

Die Wohlfahrt einer Gesellschaft ist nicht allein abhängig von den gerade skizzierten Strukturen, Regel und Institutionen. Eine bedeutende Rolle spielen Mentalitäten und Normen, die die tatsächlichen Lebensbedingungen prägen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir in Deutschland nicht nur eine neue Ordnungspolitik brauchen, sondern auch und genauso dringend einen kulturellen Wandel.

Die Marktwirtschaft wird in Deutschland nicht akzeptiert, sondern nur mangels Alternativen toleriert. Die Wirtschaft solle, so wird gefordert, für den Menschen da sein und nicht umgekehrt. Hinter diesen Appellen wirkt das mittelalterliche Paradigma des Nullsummenspiels einer Bedarfsdeckungswirtschaft. Dabei ist die faire Marktwirtschaft selbst bereits eine Moralordnung: Sie ist "Freiheit auf der Grundlage von Recht" (Rainer Hank) " ein dynamisches Arrangement, das für die Konsumenten Partei ergreift: Der Mechanismus von Angebot und Nachfrage passt die Produktion laufend an die sich wandelnden Präferenzen der Verbraucher an. Der Wettbewerb erzwingt fortwährend Produktivitätssteigerungen, die allen nützen, weil immer mehr Konsumenten Zugang zu immer hochwertigeren Gütern erhalten " der Markt ist eben kein Nullsummenspiel! Für die Menschen ist damit übrigens ein unauflösbares Dilemma begründet, insofern sie als Konsumenten vom Markt profitieren, während sie als Arbeitnehmer unter Leistungs- und Anpassungszwang stehen.

Es wäre eine Überforderung des in dieser Konkurrenzsituation betriebswirtschaftlich agierenden Einzelakteurs, wenn ihm die Verantwortung für volkwirtschaftliche Zusammenhänge zugewiesen würde. Von keinem Unternehmen kann beispielsweise ernsthaft verlangt werden, dass es aus "Solidarität" mehr Arbeitnehmer beschäftigt, als für die Wertschöpfung erforderlich sind: Das wäre DDR " und würde einerseits seine Position im Wettbewerb bereits auf kurze Sicht gefährden und andererseits den Kundeninteressen der besten Qualität zum niedrigsten Preis widersprechen.

Besser ist es, wenn volkswirtschaftliches Wachstum dazu führt, dass in einer Branche wegfallende Jobs immer wieder durch neue Stellen in einer anderen ersetzt werden. Insofern ist Gewinnmaximierung eine moralische Pflicht auf der Ebene des einzelnen Marktteilnehmers. Es sind die Rahmenbedingungen, die den Markt in die Lage versetzen, Gemeinwohl zu stiften. Die Ordnung muss so konzipiert sein, dass die allgemeine Wohlfahrt steigt, wenn jeder regelkonform seine Interessen verfolgt. Gemeinwohlorientierung muss in den allgemeinen Handlungsbedingungen enthalten sein, damit der in diesem Sinne moralische Akteur vor Wettbewerbsnachteilen bis hin zur Ausbeutung durch seine Konkurrenz geschützt ist. Daran hat es beispielsweise in der Finanzkrise gefehlt.

Fairness heißt: Mehr Lebenschancen für mehr Menschen

Zum nötigen kulturellen Wandel gehört aber nicht nur die Akzeptanz der Kalküle von Unternehmen, sondern auch die Wertschätzung und Wiederentdeckung unternehmerischer Tugenden: die Orientierung an der nachhaltigen Steigerung des Unternehmenswerts und an dauerhaft stabilen Ertragszahlen; das Streben nach langfristigen und deshalb profitablen Kundenbeziehungen; eine Risikobereitschaft, die aber durch die Haftung für die eigenen Entscheidungen gebändigt wird; eine Innovationsfreude, die den Respekt vor fremdem geistigen Eigentum einbezieht; eine Kaufmannsehre, für die Einhaltung von Zahlungszielen und der verantwortungsvolle Umgang mit Arbeitnehmern selbstverständlich ist.

Eine Konzeption von Fairness ist das verantwortungsethische Gegenmodell zur "sozialen Gerechtigkeit", die in Deutschland die Meinungsführerschaft beansprucht: Fairness zu verwirklichen heißt, dass das Lebensglück der Menschen stärker von ihren freien Wahlentscheidungen bestimmt wird als von ihren Lebensumständen oder anonymen Bürokratien. Eine Politik für Fairness sorgt dafür, dass jeder nach gleichen Regeln auf dem Markt seine Chance suchen kann " damit schafft sie zugleich die Voraussetzungen von "Wohlstand für alle". Sie akzeptiert, dass Ungleichheit ein legitimes und notwendiges Ergebnis eines Lebens in Freiheit ist. Fairness ist zuerst eine Verfahrensgerechtigkeit, aber sie ist dennoch nicht blind gegenüber den Ergebnissen des Wettbewerbsspiels in der Lebenswirklichkeit: Sie umfasst deshalb einen sozialen Ausgleich, der aber die Vermittlung von "Befähigungen" materiellen Verteilungspolitiken vorzieht. Fairness fordert den Einzelnen und hält ihn an, das Beste aus den eigenen Möglichkeiten zu machen. In einem Satz: Fairness will mehr Lebenschancen für mehr Menschen.

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