Frankreichs Krise und Ratlosigkeit

In der praktischen Politik sind die französischen Sozialisten durchaus zu Reformen und Pragmatismus fähig - doch in ihrer Sprache stecken sie in ausgetretenen ideologischen Formeln fest. Daran drohen sie 2007 erneut zu scheitern

Wenn es um die programmatische Erneuerung der Linken in Europa geht, gilt Frankreichs Parti Socialiste (PS) nicht gerade als Avantgarde. Die französischen Sozialisten pflegen beharrlich ihren traditionalistischen Diskurs und halten tradierte Werte hoch. Programmatischen Erneuerungsversuchen dagegen begegnen sie mit unverhohlenem Misstrauen. Als beispielsweise Gerhard Schröder und Tony Blair 1999 ihr berühmtes gemeinsames Papier vorstellten, stieß dieses bei der PS auf nahezu einhellige Ablehnung. Lionel Jospin, von 1997 bis 2002 französischer Premierminister, ließ auf der Homepage der PS verkünden, seine Regierung verfolge „die linkeste Politik in ganz Europa“.

Dies ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Gleichzeitig waren die Sozialisten im vergangenen Vierteljahrhundert recht erfolgreiche Wahlkämpfer. Sie waren insgesamt 15 Jahre lang an der Macht und haben in der Regierungspraxis wichtige modernisierende Akzente gesetzt. So leitete die sozialistische Regierung unter François Mitterrand ab 1983 den Abschied vom Staatskapitalismus à la française in die Wege. Der sozialistische Premier Laurent Fabius handelte 1985 den EU-Binnenmarkt mit aus und liberalisierte zudem die Finanzmärkte. Und Lionel Jospins ausgeprägtes linkes Profil hinderte ihn nicht daran, neben sehr traditionellen Maßnahmen wie der 35-Stunden-Woche oder öffentlicher Arbeitsbeschaffung auch einige liberale Reformen voranzutreiben, etwa Privatisierungen oder die Flexibilisierung der Arbeitszeiten – allerdings immer etwas verschämt und durch die Hintertür. Jospins linker Pragmatismus war sogar relativ erfolgreich, zumindest gemessen an den Wachstumsraten und der Beschäftigungsentwicklung zwischen 1997 und 2002.

Nur haben es die Sozialisten versäumt, einen Reformdiskurs zu entwickeln, der ihrer pragmatisch-sozialliberalen Politik entspricht. Anstatt ihre Regierungspraxis mit neuen Begriffen zu unterfüttern, verwenden sie die ausgetretenen Formeln des Sozialismus von gestern einfach weiter. Daraus ist ein eigenartiger Spagat zwischen einer gemäßigt modernisierenden Regierungsarbeit und einem traditionalistischen Diskurs entstanden. Diese Janusköpfigkeit hat großen Einfluss auf die Fähigkeit der Sozialisten, ihre Partei und die französische Gesellschaft zu erneuern.

Wer gemäßigt ist, wird aufgerieben

Die PS bewegt sich in einem spezifischen politischen Kontext, der mit Deutschland nicht zu vergleichen ist: Das französische Parteiensystem ist geprägt von einer starken Rechts-Links-Polarisierung, die durch das Mehrheitswahlrecht mit seinen zwei Wahlgängen verstärkt wird; gemäßigte Parteien der Mitte werden von den Polen aufgerieben. Zudem gibt es in Frankreich die deutlich stärkere Neigung als hierzulande, politische Probleme und Auseinandersetzungen ideologisch zu überhöhen. Ferner besteht innerhalb der Linken eine harte Konkurrenz. Zwar gibt sich die PS zu Recht als die führende linke Kraft, sie muss diesen Anspruch aber gegenüber so unterschiedlichen Kräften wie der Kommunistischen Partei, diversen trotzkistischen Formationen, den Grünen, den Linksrepublikanern des Ex-Sozialisten Jean-Pierre Chevènement oder den Linksliberalen geltend machen – zusammen erreichten diese Parteien bei der Präsidentschaftswahl 2002 mehr Stimmen als Lionel Jospin und trugen damit zu seiner demütigenden Niederlage schon im ersten Wahlgang bei.

Dazu kommen Protestbewegungen wie Attac oder jene des Bauernführers José Bové, der bei den anstehenden Wahlen eventuell ebenfalls antreten will. Die Konkurrenten der PS erzeugen einen Meinungsdruck, der unter anderem in einer tiefen Marktskepsis und einem aggressiven Antiliberalismus zum Ausdruck kommt: Innerhalb der französischen Linken gilt das Label „sozialliberal“ als eine der heftigsten politischen Beleidigungen. Hintergrund dieses Meinungsklimas ist die französische politische Kultur. Das staatszentrierte, zentralistische Wirtschafts- und Sozialmodell der Nachkriegszeit duldete weder handlungsfähige Regionen noch ein selbstbewusstes Unternehmertum oder starke Verbände; bis heute erhebt die Politik gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft einen Lenkungsanspruch.

Der Meinungsdruck wird dadurch verstärkt, dass sich immer wieder massenhafte linke Protestbewegungen bilden, die Regierungsvorhaben zu Fall bringen können. Zum Beispiel verhinderte im Jahr 1995 ein landesweiter Generalstreik des öffentlichen Dienstes die Reformpläne für das Rentensystem. Im Jahr 2003 wiederum gab es – allerdings erfolglose – Proteste gegen die Rentenreform der konservativen Regierung Raffarin. Und im Frühjahr 2006 gingen viele Franzosen gegen die Einführung eines Ersteinstellungsvertrages mit verlängerter Probezeit auf die Straße. Dieses französische Mobilisierungspotenzial zeigte sich auch beim Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag, der auf der Linken verbissen als vermeintliche Zementierung einer neoliberalen EU bekämpft wurde. Die Mitglieder der PS hatten sich in einer Urabstimmung mehrheitlich – aber keineswegs durchweg – für den Vertrag ausgesprochen. Das Nein der Franzosen setzte die PS anschließend einer erheblichen inneren Belastungsprobe aus.

Was die Erneuerung blockiert

Kurzum, der politische Diskurs innerhalb der PS nimmt auf lange gewachsene Grundhaltungen Rücksicht. Die Partei, sagt der Abgeordnete Jean-Christophe Cambadélis etwas spöttisch, müsse sich endlich vom „Über-Ich des revolutionären Marxismus“ befreien. Tatsächlich verhindert das Nebeneinander von reformerischer Regierungspraxis und traditionellem Diskurs nicht nur kollektive Lernprozesse in der Bevölkerung im Hinblick auf reale Spielräume politischen Handelns; es trägt auch zur Entfremdung zwischen Wählern und der PS bei und blockiert die programmatische Erneuerung bis heute.

Die realen Probleme des Landes ähneln denen in Deutschland, etwa eine zu geringe Wachstums- und Beschäftigungsdynamik, tiefe Brüche in der Gesellschaft oder Reformnotwendigkeiten in Staat und Verwaltung. Davon abgesehen haben sich Wirtschaft und Gesellschaft unseres Nachbarlandes in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasant gewandelt, nicht zuletzt aufgrund der von den Sozialisten ab 1983 eingeleiteten fundamentalen Wende der Wirtschaftspolitik. Der ehemals staatsgelenkte Kapitalismus ist flexibler, offener, liberaler, dynamischer und erfolgreicher geworden, aber nicht unbedingt sozialverträglicher.

Diese Veränderungen haben soziale Schleifspuren hinterlassen. Massenarbeitslosigkeit, neue Armut und Prekarität, aber auch die triste Realität in den Ballungsgebieten – all das sind Zeichen einer überaus zerbrechlichen Gesellschaft. Im Zuge dieses Wandels sind viele traditionelle Orientierungsmarken des französischen Sozialmodells der Nachkriegszeit verloren gegangen: der politische Steuerungsanspruch des Staates gegenüber der Wirtschaft, die nationalisierten Unternehmen, die öffentlichen Dienstleistungen des service public, der Sozialstaat. Derlei Entwicklungen fördern Regression und krampfhaftes Festhalten an Besitzständen, nicht aber die Bereitschaft zum Aufbruch und zum Wandel. Das französische Sozialmodell, darüber herrscht allgemeiner Konsens, steckt in einer tiefen Krise. Ratlosigkeit herrscht über mögliche Wege der Erneuerung.

Vor der Präsidentschaftswahl 2007 ist auf der Rechten Nicolas Sarkozy der derzeit aussichtsreichste Bewerber; er steht für eine Mischung aus liberaler, dirigistischer und repressiver Schocktherapie. Auf der anderen Seite steht die traditionelle Linke für eine defensive Status-quo-Bewahrung, während die Mehrheit der PS einen verhaltenen Reformismus verfolgt, „einen neuen Wirtschafts- und Sozialkompromiss, der die Realitäten der Globalisierung in Rechnung stellt, aber gleichzeitig den Willen zum Handeln zugunsten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der sozialen Gerechtigkeit mobilisiert“, wie es der Modernisierer Pierre Moscovici formuliert.

Im sozialistischen Gemischtwarenladen

Insgesamt ähnelt das sozialistische Parteiprogramm für 2007 allerdings einem Gemischtwarenladen. Daher berufen sich die unterschiedlichen Strömungen in der PS alle auf das Parteiprogramm, bieten aber unterschiedliche Lesarten an. Der Vorwahlkampf um die Kandidatur für die PS hat den programmatischen Facettenreichtum der Partei recht gut widergespiegelt.

Laurent Fabius, Premierminister von 1984 bis 1986, steht für den linken Flügel der Partei. Einst für liberale Reformen verantwortlich, hat sich Fabius neu positioniert. Gegen die Mehrheit seiner Partei wurde er zum prominentesten Gegner des Europäischen Verfassungsvertrags und kritisierte dabei vornehmlich den „neoliberalen“ Charakter der EU. Fabius profiliert sich ebenso als Kandidat der kleinen Leute wie als Kandidat der Kaufkraft; beispielsweise verspricht er eine Anhebung des staatlichen Mindestlohns auf 1.500 Euro im Monat. Sein Kalkül: Fabius will die linke Wählerschaft mobilisieren, die sich 2002 von Lionel Jospin abgewandt hatte. Sein Gegenpol ist der frühere Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn, einer der begabtesten Politiker der Sozialisten. Er steht für einen explizit sozialdemokratischen, europäischen Kurs, was ihn innerhalb der PS nicht gerade mehrheitsfähig macht. Strauss-Kahn plädiert für Reformen und distanziert sich vorsichtig von der Politik früherer sozialistischer Regierungen. Ungleichheiten will er zum Beispiel weniger mittels Umverteilung bekämpfen, sondern indem er sie an den Wurzeln packt, etwa im Schulsystem oder in den Unternehmen. Auch sozialistische Politik müsse die Dynamik der Märkte anerkennen, glaubt Strauss-Kahn. Zudem tritt er für eine sozialistische Angebotspolitik ein, für Innovation, für eine Kultur des Kompromisses und die Stärkung sozialvertraglicher Regulierungen durch die Sozialpartner. Das alles mag in Deutschland wenig aufregend klingen, in Frankreich ist es keineswegs selbstverständlich. Strauss-Kahn hat nicht nur das konsistenteste Programm einer Erneuerung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu bieten. Er beschreibt sogar einen Weg, der den oben erwähnten Spagat zwischen Diskurs und Praxis überwinden könnte.

Ségolènes andere Art, Politik zu machen

Die originellste Kandidatin und klare Favoritin bei der parteiinternen Vorwahl ist indessen Ségolène Royal. Die ehemalige Ministerin in der Regierung Jospin profiliert sich weniger mit einem konsistenten Programm als mit ihrem Stil: Sie verkörpert eine andere Art, Politik zu machen. Ihr Zauberwort der „partizipativen Demokratie“ setzt sie sogar auf ihrer Homepage in die Tat um (www.desirsdavenir.com), wo sie „Bürger und Experten“ zur Mitarbeit an ihrem nächsten Buch auffordert. Ihr überwältigender Erfolg in den Meinungsumfragen geht auch darauf zurück, dass sie die tradierte Parteisprache sowie ideologisches Vokabular meidet und stattdessen lebensnahe Themen anspricht. Dabei bricht sie bewusst sozialistische Tabus, etwa mit ihrer Kritik an der 35-Stunden-Woche oder mit ihrem Vorschlag, die Arbeit von Mandatsträgern von einer Bürger-Kommission regelmäßig evaluieren zu lassen. Auf diese Weise scheint sie auch konservative Wähler anzusprechen.

Der eigentliche Lackmustest kommt noch

Ihre Gegner werfen Ségolène Royal Populismus, eine Fixierung auf Meinungsumfragen und mangelndes programmatisches Profil vor. Andere sehen gerade ihre Stärke darin, dass sie scheinbar kleine, bürgernahe Alltagsprobleme anspricht und so die Distanz zwischen politischer Klasse und Bürgern aufbricht. Nicht von ungefähr bekommt sie starken Zulauf aus den verschiedenen Strömungen der PS. Es bleibt abzuwarten, ob ihre bislang bruchstückhaften, konzeptionell wenig durchdachten Aussagen tatsächlich ausreichen, um die Wähler zu überzeugen und Erneuerungsprozesse in Gang zu setzen.

Wer auch immer den französischen Sozialismus im Frühjahr 2007 vertreten wird: Ansätze zur programmatischen Erneuerung sind vorhanden, bei Dominique Strauss-Kahn wie bei Ségolène Royal. Wer dies gering schätzt, vernachlässigt die realen politischen Bedingungen in unserem Nachbarland. Der eigentliche Lackmustest für die Fähigkeit der PS, die französische Gesellschaft zu modernisieren, wäre die Regierungsübernahme nach einem Wahlsieg im kommenden Frühjahr.

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