Frankensteins Erben

Ein Plädoyer für die Entzauberung der Gentechnik

Wie schön wäre es, könnten wir Leiden und Krankheit, Missbildungen und Sterben als Ausdruck der Unvollkommenheit menschlichen Lebens überwinden! Wäre das schön? Dieser Menschheitstraum, Basis jeder Erlösungsreligion, wird jetzt von den Machbarkeits-Phantasien der interessierten Mythenbildner auf die Bio- und Gentechnik projiziert. Das ist der Kern der öffentlichen Debatte, des Medienspektakels, der abstrusesten Thesen und einer aufgeschreckten politischen Betriebsamkeit.

"Besonders in der Fortpflanzungsmedizin verweben sich Realität und fiktive Utopie, wie sie bereits 1932 von Aldous Huxley in seiner utopischen Satire Schöne Neue Welt beschrieben worden sind. Die tatsächlichen medizinischen Fortschritte sind löblich, doch sie beinhalten bisher nur neue Diagnose- und Korrekturmöglichkeiten von Störungen natürlicher Abläufe" schreibt der Berliner Medizinethiker Uwe Körner in der Zeitschrift diesseits (Heft 2/2000).

Nach der mörderischen Nazi-Rassenhygiene und den vielen Missdeutungen idealistischer Geister wie Platon, Goethe, Nietzsche, den politisch und ethisch gescheiterten Versuchen, einen neuen Menschen idealer Gestalt und idealen Geistes zu züchten oder zu erziehen, ist es allerdings notwendig, jegliches mit der menschlichen Fortpflanzung verbundene Verfahren der Diagnostik und Therapie, insbesondere die Kapitalverwertung einer modernen Gesundheitsindustrie öffentlicher Kritik und Kontrolle zu unterziehen.

"Der Mensch ist das Maß aller Dinge" - so beschrieb der antike Philosoph Protagoras (480-410 vor unserer Zeitrechnung) den Grundsatz eines humanistischen Menschenbildes. Der Anspruch an die neuen "Götter" der Gen-Medizin wird sein, dass sie dem hippokratischen Eid, einzig dem Wohl und Willen der betroffenen Individuen gemäß zu handeln, entsprechen. Das richtige ethische Maß zwischen dem Machbaren und sozial zu Wünschenden ist nur durch herausforderndes Infragestellen und im Prozess gesellschaftlichen Aushandelns herstellbar. Voraussetzungen dafür sind demokratische Kontrolle, Partizipation und ein pluralistischer Diskurs. Der Mythos Gentechnik ist zu entzaubern. Ideologisch überzogene, sachfremde Kritik und unangemessene Machbarkeitsphantasien von geltungs- und gewinnsüchtigen Experten gehören dabei gleichsam auf den Prüfstand. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen Deutschlands, Manfred Kock, erhob den moralischen Monopolanspruch am Beginn der Debatte mit der Frage "Wer, wenn nicht die Kirchen soll die Diskussion in die Gesellschaft tragen?" Nein, gefordert sind wir alle. Mündige Bürgerinnen und Bürger als Souverän, freie Medien, verantwortungsbewusste Wissenschaftler, Verbände, Parteien, Parlamente, Justiz und Regierung.

Außerhalb jedes Konsenses befindet sich Peter Singer mit seinem "funktionalen Personenkonzept", das den Menschen ein Lebensrecht nur nach seiner sozialen Nützlichkeit gewährt. Genauso wie der Kölner Erzbischof Joachim Meissner, der alle medizinischen Bestrebungen, schwere Erbdefekte und einen späteren Schwangerschaftsabbruch durch Präimplantationsdiagnostik zu vermeiden, mit den Mordaktionen der Nazis gleichsetzt. Man könnte die Gegenfrage stellen, ob eine Gesellschaft, die Anderssein akzeptiert und Menschen mit Krankheit und Behinderungen schützt und integriert, nur möglich ist, wenn der oft grausamen Natur (oder Gott?) nichts entgegengesetzt wird, um Leiden und Krankheit zu bekämpfen. Das Bewusstsein des potentiellen Risikos jedes Menschen, unabhängig von Erbanlagen, etwa durch Unfall, jederzeit und unerwartet physisch und/oder psychisch "defekt" werden zu können, sollte ausreichen, um Kranke und wie auch immer in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkte Menschen in unsere Mitte zu nehmen und nicht auszugrenzen. Rassismus und Diskriminierungen jeglicher Art sind und bleiben dumm - weil sie ja auch gegen den eigenen Überlebenstrieb gerichtet sind.

Wie so oft bei neuen Mythen beherrschen gerade in Deutschland die Marketing-Stars der Forschungsindustrie auf der einen und die Lebensschutzfanatiker im Verein mit Verschwörungstheoretikern und Apokalyptikern die Inszenierung. Der jüngste wissenschaftliche Erfolg des Human Genom Projects, von Präsident Clinton und anderen euphorisch gefeiert, hat dem Mythos neue Nahrung gegeben. Klarer scheint jetzt aber nur zu sein, dass "das neue Wissen das Wissen über das Nichtwissen gesteigert hat", wie Dieter Mieth in Das Parlament 8/2000 sokratisch schreibt. Dazu Uwe Körner: " In Wirklichkeit ist der aktuelle Stand der Genom-Entzifferung vom Durchschauen und molekularen Steuern komplexer menschlicher Eigenschaften etwa soweit
entfernt wie die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus von der ersten Mondlandung."

"Nichts ist unmöglich - anything goes", dieser Grundton des "neuen, globalen Science-Kapitalismus" stimmt vielleicht in der Theorie, aber nicht in unserem Lebensalltag der nächsten Zukunft.

Zu unterscheiden sind Dinge, die heute einfach zu machen sind und andere, die vielleicht mit neuen superteuren Mühen irgendwann erreichbar sein werden (man denke an die neuen Supercomputer mit der Fläche von 2 Fußballfeldern) und schließlich dem, was wir wohl nie werden machen können. "Wir können Teile von Naturprozessen modifizieren, Dinge in der Natur selbst ändern, aber nicht die Natur selbst. Das letzte gibt es nur im Science-Fiction", so Körner.


In der Biomedizin gibt es danach im wesentlichen drei Erwartungen: Erstens die Diagnostik genetischer Krankheitsanlagen in der prädikativen (voraussagenden) Medizin, zweitens die gentherapeutische Korrektur von krankmachenden Gen-Defekten und drittens das "anthropo-technische" Modellieren menschlicher Individuen mit Wunsch-Eigenschaften.

Die Diagnostik ist Gegenwartstechnologie, über die man sich allenthalben informieren kann. Das Therapieren ist erheblich schwieriger. Erste Anfänge in der Kunst sind gemacht, aber was in jüngster Zeit praktisch zur Gentherapie an Menschen versucht wurde, sind grobe Adaptionen der seit den 70er Jahren betriebenen Gen-Manipulationen von Bakterien. So kann etwa, ein menschlicher Fortschritt, Insulin fabrikmäßig hergestellt werden. Vergleicht man aber eine Bakterie etwa mit einem Auto, so stellt eine menschliche Körperzelle die Infrastruktur einer mittleren Stadt dar, mit allen Autos, die darin fahren und allen, nicht planbaren, sozialen Interaktionen. Nach weltweit einigen Tausend an Menschen versuchten Gen-Therapien werden diese alle bisher als erfolglos bezeichnet. Uwe Körner: "Diese Anstrengungen sind vielleicht mit dem Versuch eines Technikers vergleichbar, mit Schüssen aus einer Schrotflinte einem defekten Radio wieder klangvolle Musik zu entlocken."

Das Konstruieren von Lebewesen oder menschlichen Ersatzteilen, aber erst recht die komplexe Determinierung physischer und psychischer Eigenschaften eines Menschen liegt in unbestimmter, weiter Ferne. Wer könnte als ernst zu nehmender Wissenschaftler wirklich sagen, ob es 150, 700 oder 12.000 Jahre dauern, wenn überhaupt jemals praktikabel sein wird? Vielleicht der Körper von Claudia Schiffer im Sixpack, einen zweiten Albert Einstein oder Woody Allen wohl nie. Ich denke und hoffe, die Leute werden immer noch mehr Spaß am natürlichen Akt der Fortpflanzung haben.

Wir alle kennen den dauernden Streit, ob Erbanlagen, also Gene, oder die soziale Umwelt und Interaktion die Entwicklung eines Menschen mehr beeinflussen. Es gab zu diesem Thema schon immer wechselnde Zeitgeist-Phasen. Allein werden Gene aber nie über das Menschwerden und -sein bestimmen. Die bisher größten US-amerikanischen Feldforschungen zum Thema "Eltern-Kind-Beziehung als Bedingung der Persönlichkeitsentwicklung" werden das eindrücklich nachweisen. Konsens ist: Bei allen neuen Technologien sind Risiko- und Folgeforschung, die ethische und soziale Kontrolle von Wissen und Anwendung national und international zu organisieren. Im humanen Sinne destruktive Anwendungen von Wissen und Technik aus Profit- oder Machtstreben können nur so verhindert werden. Weder eine rein positivistische Wissenschaftsgläubigkeit gemischt mit purem Marktliberalismus noch eine irrationale Ablehnung jeder Forschung und Anwendung sind dabei hilfreich.

Es ist Aufgabe der Politik, von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die Grundrechte unserer Verfassung, die Menschenwürde jedes Einzelnen vor Antastungen auch dieser besonderen Art zu schützen. Die allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen sind durchzusetzen. Davon wird die Legitimität, also letztlich der Bestand nationaler (und globaler) staatlicher Systeme abhängen. Dazu gehört der Schutz der Selbstbestimmung von Patienten, auch der informationellen Autonomie, das heißt ein grundsätzliches Verbot von Gentests zum Beispiel durch Versicherungen oder Arbeitgeber sowie klare rechtsstaatliche Regeln für den Einsatz der Gentechnik in der Verbrechensbekämpfung.

Notwendig sind eindeutige, kontrollierbare internationale Regeln hinsichtlich der gentechnischen Erforschung bestimmter Krankheiten bei nichteinwilligungsfähigen Personen und Embryonen. Eine nationale Fixierung auf katholische Dogmen und die Tabuisierung aufgrund der Naziverbrechen in Deutschland reichen nicht aus, um diesen internationalen Diskurs positiv zu beeinflussen. Das Menschheitswissen überhaupt und besonders die kommerzielle Verwertung der Genforschung, das heißt auch die Patentierung und Zulassung bestimmter Verfahren, dürfen nie dem Markt allein, privaten Profiteuren und ihrem Einfluss auf nationale Regierungen und Behörden überlassen werden. Aktuelle Fälle von new cannibalism, zum Beispiel in Großbritannien, müssen schleunigst auf den Prüfstand. Jeglichem Rassismus und sozialer Auslese, der Entmündigung und Ausbeutung einzelner Menschen und Gruppen entgegenzutreten, eine neue Klassenmedizin zu verhindern, ist gerade vor dem Hintergrund der Gen-Technik - aber im Grunde immer - politische Aufgabe der demokratischen Linken. Selbstverständlich findet die schützenswerte Freiheit der Forschung und einzelner Menschen, die Heilung von ihren Leiden ersehnen, von Medizinern und Unternehmen, die aus Verantwortung oder nur Gewinnstreben auf Gen-Technik setzen, unserer Auffassung nach ihre Grenze in der Freiheit und Würde jedes einzelnen und aller Menschen.

Richtig ist: Das, was machbar ist, könnte auch irgendwann gemacht werden. Gerade deshalb ist Aufklärung, Transparenz, kritische Öffentlichkeit und rechtstaatliches Handeln gefragt und nicht die Pflege von Mythen. "Wo Vernunft ist, sei auch Recht" gab uns Cicero, Denker und Staatsmann im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, mit auf den Weg. Bleiben wir also neugierig, kritisch und hoffnungsfroh! Auch wenn es mit der modernen Gen-Technik nie eine ewige Jugend, Unsterblichkeit oder gar das Paradies geben sollte.

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