Fortschrittsmotor Industrie

Deutschland ist nicht mehr der »kranke Mann Europas«. Doch die rot-grüne Erneuerungspolitik, die den ökonomischen Wiederaufstieg unseres Landes ermöglichte, wurde in der Amtszeit Merkel/Rösler nicht fortgesetzt. Für den energischen Innovationsschub, den unsere Wirtschaft jetzt braucht, mangelt es der gegenwärtigen Bundesregierung an Ideen und Ehrgeiz

Totgesagte leben länger. Derzeit erlebt die Industrie wahrhaftig eine Renaissance. Einst als „kranker Mann Europas“ verunglimpft, ist Deutschland vor allem dank seiner stabilen industriellen Wertschöpfung bislang gut durch die Krise gekommen. Unser Wirtschaftsmodell findet immer mehr Nachahmer. Inzwischen verfolgt auch die Europäische Kommission eine Aufwertung der Industriepolitik: Sie will den Wertschöpfungsanteil in der Europäischen Union von 16 auf 20 Prozent ausbauen.

Die Renaissance der Industrie markiert eine Trendwende in der Wirtschaftspolitik. Lange Zeit drohte der industrielle Sektor aus der Mode zu geraten. Sein Anteil an der Wertschöpfung schrumpfte von knapp 40 Prozent im Jahr 1970 auf unter 25 Prozent im Jahr 2003. Manche sahen die De-Industrialisierung bereits als unabänderlichen Trend. Inzwischen jedoch hat sich der Anteil der industriellen Wertschöpfung in Deutschland nicht nur stabilisiert, sondern er ist sogar wieder leicht gewachsen. Keine andere Volkswirtschaft in Europa besitzt eine so breite und differenzierte industrielle Basis wie Deutschland. Was für eine Kehrtwende! Bis vor wenigen Jahren galten diejenigen Länder in Europa als Vorbilder, die sich fast vollständig von ihrer Industrie verabschiedet hatten und ihr Wachstum auf Dienstleistungen – besonders auf Finanzdienstleistungen – aufbauten. Deutschland dagegen galt, auch wegen des hohen Industrieanteils unserer Wirtschaft, als rückständig.

Wie die Reformrendite aufgezehrt wird

Wie kam es zur Wiederbelebung der industriellen Wertschöpfung in Deutschland? Sie gelang mithilfe konsequenter Restrukturierung, gesteigerter Produktivität, kontinuierlicher Verbesserung globaler Wertschöpfungsketten sowie gezielter Innovationsstrategien. Nicht zuletzt die Agenda 2010 stellte die Weichen für die Revitalisierung der deutschen Wirtschaft. Damals war es der intelligente Mix aus Strukturreformen und Investitionen in Bildung und Infrastruktur, der Deutschland voranbrachte. Dieser Weg unterscheidet sich fundamental von der einseitigen Austeritätspolitik, die den europäischen Krisenländern zurzeit verordnet wird. Unser Land setzte eben nicht auf die Zerstörung der „alten Industrie“, sondern auf deren konsequente Modernisierung.

Doch auch in Deutschland droht die Reformrendite der Vergangenheit aufgezehrt zu werden. Die Struktur unserer Volkswirtschaft verändert sich weiter in rasantem Tempo. Globalisierung, eine alternde Gesellschaft, der Trend zur Wissens-ökonomie und die Ressourcenknappheit sind die Triebkräfte des Strukturwandels. Politik kann diesen Wandel nicht aufhalten, aber sie muss ihn gestalten. Im Wettbewerb um knappe und mobile Produktionsfaktoren – wie etwa hochqualifizierte Fachkräfte – werden sich diejenigen Volkswirtschaften behaupten, die diese Aufgaben offensiv angehen.

Klar ist: Strukturpolitik braucht die Bereitschaft zu Veränderungen. Eine fortschrittliche Industriepolitik richtet deshalb keinen verklärten Blick in die Vergangenheit und versucht nicht durch dauerhafte Subventionen einzelne Branchen und überkommene Strukturen zu konservieren. Sie begreift den Wettbewerb zwischen den Industrieländern und schnell wachsenden Schwellenländern als Ansporn und die weltumspannende Arbeitsteilung als Chance. Die Industrieländer, die auf Qualifikation, Innovation, moderne Infrastruktur, nachhaltige Energiepolitik und sozialen Ausgleich setzen, werden wirtschaftlich die Nase vorn haben.

Die großen Treiber des Strukturwandels bieten gerade für die deutsche Wirtschaft Wachstumsperspektiven. So dürfte sich der internationale demografische Wandel grundsätzlich positiv für die deutsche Industrie auswirken: Denn Branchen, die international handelbare Waren oder Dienstleistungen produzieren, werden von der wachsenden Weltbevölkerung profitieren. Aufgrund der starken globalen Investitionstätigkeit wird vor allem die deutsche Investitionsgüterindustrie gewinnen.

Dringend gesucht: eine moderne Industriepolitik

Dabei erfordern Globalisierung und der Trend zur Wissensökonomie eine verstärkte Innovationsfähigkeit. Produkte und Dienstleistungen mit hohem Innovations- und Forschungsgehalt stehen hoch im Kurs. Deutschland ist hier gut aufgestellt. In vielen Feldern der Hochtechnologie gehören deutsche Anbieter zur Weltspitze, etwa im Maschinenbau, in der Fahrzeugtechnik oder der Elektrotechnik. Auch energieeffiziente Produkte gewinnen angesichts von Klimawandel und Ressourcenknappheit immer mehr an Bedeutung. Die deutsche Umweltwirtschaft hat sich schon heute eine starke Position in der Welt erarbeitet und beschäftigt in Deutschland 1,8 Millionen Menschen. Mit einem Anteil von 15 Prozent des globalen Handels mit Umwelttechnologien ist die Bundesrepublik zudem Exportweltmeister auf diesem Gebiet. In seiner Rolle als industrieller Ausrüster der Welt kann Deutschland also stärker werden.

Was der Strukturwandel jetzt braucht, ist eine moderne Industriepolitik, die auf zwei Ebenen ansetzt: Zum einen horizontal bei den branchen- und sektorenübergreifenden Rahmenbedingungen und zum anderen vertikal innerhalb der verschiedenen Industriezweige. Horizontale Industriepolitik spornt Unternehmen und Wissenschaft zu Technologiesprüngen an und sorgt dafür, dass Rohstoffe und Energie für die industrielle Produktion bezahlbar bleiben. Rohstoffsicherung und ressourceneffiziente Produktion sind dafür ebenso unabdingbar wie die verstärkte Förderung von Forschung und Entwicklung. Das richtige Ziel heißt, Grundstoffindustrien am Standort Deutschland zu halten, nicht aber, Verschwendung und technologischen Stillstand zu subventionieren. Eine aktive Handelspolitik muss verlässliche Rohstoffimporte gewährleisten und neue Absatzmärkte erschließen. Horizontale Industriepolitik sollte zudem unnötige bürokratische Hemmnisse abbauen, Investitionen in Forschung und Entwicklung – etwa durch Steuergutschriften – stimulieren und kreativen Geschäfts-ideen mit Wagniskapital zum Durchbruch verhelfen. Es kommt darauf an, die Energiepreise auf einem angemessenen Niveau zu halten. Genauso brauchen Unternehmen, die nachweislich besonders energieintensiv sind und im harten internationalen Wettbewerb stehen, weiterhin Erleichterungen bei den Energiekosten.

Vertikale Industriepolitik hilft, zukunftsträchtige Leitmärkte zu fördern. Man muss kein Hellseher sein, um die Zukunftsbranchen eines hochentwickelten Landes wie Deutschland vorherzusagen: Klima und Energie, Gesundheit und Ernährung, Mobilität, Sicherheit und Kommunikation. Hier gilt es jetzt aber, die Forschungsanstrengungen zu fokussieren, die Ausbildung der Fachkräfte zu verbessern und die Infrastruktur – angefangen von Breitband-Internetzugängen über Energie bis zu Schienen und Straßen – auszubauen. Und auch über Impulse auf der Nachfrageseite können Zukunftsmärkte gefördert werden. Das öffentliche Beschaffungswesen beträgt hierzulande etwa 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Mit diesem erheblichen Potenzial können gezielt innovative und hocheffiziente Produkte unterstützt werden.

Die Industrie ist der Motor für Innovation in Deutschland. Auf sie entfallen knapp 90 Prozent der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Wir brauchen also die Industrie, damit Deutschland im Trend zur Wissensökonomie gegenüber aufholenden Volkswirtschaften seinen Innovationsvorsprung nicht nur bewahrt, sondern ausbaut. Innovationsfähigkeit braucht kompetente Menschen und wandlungsfähige Unternehmen. Das Know-how, also das Wissen und die Fähigkeiten der Arbeitnehmer, sind der Schlüssel zum Erfolg. Deshalb stellt moderne Unternehmensführung die Beschäftigten in den Mittelpunkt. Mitbestimmung und Motivation, Entfaltungsmöglichkeiten und faire Bezahlung sind ökonomische Erfolgsfaktoren. Und die Politik muss mit mehr und besserer Bildung die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Industrie gut ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.

Innovationen entstehen vor allem dort, wo sich Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung in Innovationsbündnissen zusammenschließen, um die Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit ihrer Regionen zu erhöhen. Die Förderung und Organisation von Innovationsprozessen und Netzwerkbildungen werden daher zunehmend im Vordergrund stehen.

Neue Antworten auf neue Herausforderungen

Starke Industrieunternehmen sind die Grundlage wirtschaftlichen Erfolges. In Deutschland sind es vor allem kleine und mittlere Unternehmen, die das Rückgrat dieser Dynamik ausmachen. Gerade mittelständischen Betrieben muss daher besondere Aufmerksamkeit gelten. Weil Innovationen häufig auch aus jungen Unternehmen hervorgehen, muss die Gründung neuer Unternehmen erleichtert und unterstützt werden. In Deutschland steht zu wenig privates Beteiligungskapital zur Verfügung – die Finanzierungsmöglichkeiten für Start-up-Unternehmen müssen deshalb verbessert werden.

Vor zehn Jahren gab die rot-grüne Regierung die Antwort auf die Herausforderungen der damaligen Zeit: eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die hohe Zahl von Arbeitslosen und die schwindende Zukunftsfähigkeit des Sozialstaats. Ohne die Reformen der Regierung Schröder wäre Deutschland mit Sicherheit nicht so robust durch die Krise 2008/2009 gekommen.

Doch heute, zehn Jahre danach, hat sich ein neuer Reformdruck aufgebaut. Die Herausforderungen sind andere: Deutschland drohen die Fachkräfte auszugehen. Zudem leiden viele Beschäftigte unter schlechten Arbeitsbedingungen und Arbeitsverdichtung. Notwendige Innovationen unterbleiben, weil die Ausbildung nicht Schritt hält mit den Anforderungen des Strukturwandels. Teile unserer Infrastruktur sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit, und die Energiewende droht aufgrund verfehlter Politik zu scheitern.

Kurzum: Wir müssen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit geben. In deren Mittelpunkt steht die Sicherung der Fachkräfte. Die Mobilisierung von Frauen, Älteren und Einwanderern als Erwerbspersonen und die Verbesserung der Ausbildung von Jugendlichen sind zwei zentrale Ansatzpunkte. Energisch voran kommen wir nur, wenn alle an einem Strang ziehen. Wir brauchen deshalb eine Allianz gegen Fachkräftemangel als gemeinsame Aktion von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik. Die Erneuerung unseres dualen Ausbildungssystems ist dafür von zentraler Bedeutung.

Für die Unternehmen gilt es, verlässliche Investitionsbedingungen zu schaffen. Mehr denn je muss gerade in der Energiepolitik eine eindeutige Richtung vorgegeben werden, die konsequent fortgesetzt und nicht ständig willkürlich geändert wird. Eine nachhaltige Reform des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes und mehr Investitionssicherheit für konventionelle Kraftwerke sind überfällig. Der Substanzverlust in der Infrastruktur muss mit einem Investitionsprogramm aufgehalten werden. Schienen, Straßen und Netze – die Lebensadern unserer Volkswirtschaft – müssen modernisiert werden. Und die Steuerpolitik muss die Besonderheiten der Industrie im Blick haben und darf nicht zur Investitionsbremse werden.

Das alles verlangt Mut zur Veränderung. Dieser Mut wächst, wenn die Politik die Möglichkeiten von technischem und wissenschaftlichem Fortschritt für die Gesellschaft hervorhebt, ohne dabei vorhandene Risiken zu verschweigen. Dazu gehört, etwa im Fall großer Infrastrukturprojekte, betroffene Bürger fair und frühzeitig einzubeziehen. Wenn nur Wenige vom Wandel profitieren, schwindet auf Dauer die Akzeptanz für Erneuerung. Ein für das 21. Jahrhundert angemessener Fortschritt zielt deshalb auf qualitatives Wachstum sowie die Verbesserung der Lebensqualität möglichst vieler Menschen. Solch ein Fortschritt stellt Innovationen in den Dienst der gesamten Gesellschaft. Die gegenwärtige Bundesregierung ist himmelweit davon entfernt, diesem Anspruch gerecht zu werden.

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