Fortschritt in einem Zeitalter der Angst?

Als Partei der reinen Bewahrung vergangener Errungenschaften stünde die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert völlig auf verlorenem Posten

„Wir können so nicht weiterleben.“
 Tony Judt

Tony Judts neues Buch, das auf seiner inzwischen berühmten Vorlesung „What is Living and What is Dead in Social Democracy?“ vom 19. Oktober 2009 basiert, ist ein unschätzbarer und zum richtigen Zeitpunkt erschienener Beitrag zur Debatte um die Zukunft von Sozialdemokratie und progressiver Politik.* Mehr noch: Ill Fares the Land ist genau die Art von radikaler intellektueller Anregung, die eine ganz neue Debatte in Gang bringen könnte – und sollte. Wer immer sich für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der sozialen Demokratie interessiert, für den sollte Ill Fares the Land absolute Pflichtlektüre sein (genauso übrigens wie Richard Wilkinsons und Kate Picketts nicht weniger wichtiges Buch Gleichheit ist Glück: Was Ungleichheit aus den Menschen macht, auf welches sich Tony Judt ausgiebig bezieht).

Auch einer „Pflichtlektüre“ muss man allerdings nicht unbedingt rundum beipflichten. Doch ob man Tony Judts Argumenten folgt oder nicht: Ill Fares the Land zwingt diejenigen, ihre Argumente radikal neu zu durchdenken, die der Meinung sind, die Verhältnisse sowohl in Europa als auch weltweit erforderten nach drei Jahrzehnten neoliberaler Dominanz dringend einen neuen progressiven Aufbruch. Kann und sollte sich die Sozialdemokratie im 21. Jahrhunderts auch weiterhin als Partei des Fortschritts begreifen? Und wenn Sozialdemokraten für Fortschritt und Veränderung stehen, welchen Wandel sollten sie dann vorantreiben? Welche Richtung sollte der Fortschritt einschlagen? Oder könnte es sein, dass Fortschritt heute die falsche Antwort auf unsere Probleme ist? Das sind einige der provokativen Fragen, die Tony Judt aufwirft.

Klar ist, dass der Begriff des zukunftsoffenen Fortschritts sowie der Glaube an die Notwendigkeit und prinzipielle Möglichkeit von Fortschritt für die Sozialdemokratie stets konstitutiv gewesen sind. In historischer Perspektive ist Sozialdemokratie schlechthin undenkbar ohne die Vorstellung, dass die Verhältnisse besser werden sollten – und auch besser werden können. Demgegenüber glaubten Konservative an die Existenz einer „natürlichen Ordnung der Dinge“, die, eben weil sie „natürlich“ sei, nicht gestört oder radikal verändert werden dürfe. Der Konservatismus in seiner ursprünglichen und begriffsgetreu verstandenen Form war eine fundamental pessimistische Weltanschauung. Das änderte sich vor drei Jahrzehnten mit dem Heraufziehen der neokonservativen und neoliberalen Hegemonie. Zwar hat Tony Judt herzlich wenig dazu zu sagen, dass die Entstehung dieser Hegemonie zu einem nicht geringen Teil vom Scheitern sozialdemokratischer Politik und sozialdemokratischer Politiker in den siebziger Jahren begünstigt wurde. Aber er hebt zu Recht den Gezeitenwechsel hervor, den die neue Hegemonie mit sich brachte: „Es ist die politische Rechte, die den ehrgeizigen modernen Drang geerbt hat, im Namen eines universellen Projekts zu zerstören und zu erneuern.“

Progressive Konservative – gibt es so etwas?

Diese Beobachtung ist unter Sozialdemokraten unstrittig. Heftige Diskussionen dürfte (und sollte) dagegen der Schluss auslösen, den Tony Judt hieraus mit Blick auf die Aufgabe der Sozialdemokratie zieht. In seiner ursprünglichen New Yorker Vorlesung formulierte es Tony Judt drastisch so: „Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, dann als Sozialdemokratie der Angst. ... Die erste Aufgabe radikaler Dissidenten besteht heute darin, ihr Publikum an die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu erinnern – und über die wahrscheinlichen Folgen des leichtfertigen Eifers zu reden, mit dem wir diese Errungenschaften zerlegen. Die politische Linke hat, um es ganz deutlich zu sagen, etwas zu bewahren.“ 

Tony Judt ist hier einem in der Tat irritierenden Phänomen auf der Spur. Jüngst im britischen Unterhauswahlkampf umwarben David Camerons Konservative (sic!) die Wähler allen Ernstes mit der Behauptung, die Tories seien „progressiver“ als Labour. Die gleiche Tendenz ist in allen unseren westlichen Gesellschaften auszumachen. Der politische Raum, den früher einmal echte, also „konservative Konservative“ ausfüllten, die tatsächlich darauf bedacht waren, Verhältnisse zu „konservieren“ und Wandel zu verhindern, ist längst geräumt. Sämtliche große Parteien bekennen sich nun zu transformativer Dynamik dieser oder jener Art. Dies gilt selbst für grüne Parteien, wenn sie lautstark für den ökologischen Umbau oder einen „Green New Deal“ eintreten.

Natürlich stimmt auch, dass sich viele der Veränderungen, die während der letzten drei Jahrzehnte als „Fortschritt“ angepriesen wurden, keineswegs als Verbesserungen erwiesen haben. Zu Recht erinnert uns Tony Judt: „Der materialistische und egoistische Charakter des gegenwärtigen Lebens ist nicht Teil der conditio humana. Vieles von dem, was uns heute ‚natürlich‘ vorkommt, stammt aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: die Obsession der Wohlstandsmehrung, der Kult der Privatisierung und des privaten Sektors, die wachsenden Unterschiede zwischen Arm und Reich. Und vor allem die Rhetorik, die damit einhergeht: die unkritische Bewunderung freier Märkte, die Verachtung für den öffentlichen Sektor, der Wahn des endlosen Wachstums.“

Aber Tony Judts wirklich denkwürdige Konklusion aus all dem lautet, dass im 21. Jahrhundert die Sozialdemokratie unter den Parteien diejenige eines echten, also „konservativen Konservatismus“ sein müsse: „Wir halten die Institutionen, die Gesetzgebung, die Dienstleistungen und die Rechte, die wir aus der großen Reformära des 20. Jahrhunderts geerbt haben, für selbstverständlich gegeben. Es ist an der Zeit, uns daran zu erinnern, dass all diese Dinge noch im gar nicht so lange zurückliegenden Jahr 1929 völlig undenkbar waren. Wir sind die glücklichen Nutznießer einer in ihrem Ausmaß und ihren Auswirkungen beispiellosen Transformation. Es gibt viel zu verteidigen.“ Deshalb müssten „Sozialdemokraten, typischerweise bescheiden in ihrem Stil und Ehrgeiz, nachdrücklicher über die Errungenschaften der Vergangenheit sprechen“.

Auf das Beste hoffen, das Schlimmste erwarten

In der Tat, das sollten sie tun, denn wie Tony Judt in geradezu Burke’schem Duktus betont: „Die Anstrengungen eines ganzen Jahrhunderts aufzugeben ist Verrat nicht nur an denen, die vor uns da waren, sondern auch an künftigen Generationen.“ Dem ist nachdrücklich zuzustimmen. Ich stimme jedoch nicht zu, wo Tony Judt die Verteidigung „vergangener Errungenschaften“ gegen die Aufgabe auszuspielen scheint, auf das progressive Ziel einer besseren Zukunft für möglichst viele Menschen hinzuarbeiten. „Statt den Versuch zu unternehmen, eine Sprache des optimistischen Fortschritts zu erneuern, sollten wir anfangen, uns wieder mit unserer jüngeren Geschichte vertraut zu machen“, schlägt Tony Judt vor. Aber warum eigentlich müssen wir zwischen beidem wählen?

Dieser angebliche Widerspruch ist unerklärlich – und sogar kontraproduktiv für die Sache der sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert. Natürlich ist es richtig, für eine Sozialdemokratie zu kämpfen, die in einer früheren Ära erreichte zivile und soziale Standards verteidigt: Gleichheit, Gerechtigkeit, zivilen Anstand, den Glauben an die Möglichkeit und den Wert gemeinsamer Anstrengung für das gemeine Wohl. In diesem spezifischen und begrenzten Sinn müssen Sozialdemokraten in der Tat „konservativ“ sein. Aber wie jeder Fußballer weiß, wird eine Mannschaft oft genug für ihre furchtsame Taktik bestraft, die in den ersten zehn Minuten eines Spiels 1:0 in Führung geht und dann nur noch versucht, ihre magere Führung über die restlichen 80 Minuten zu retten (statt weiter anzugreifen und den Gegner in dessen Hälfte in Schach zu halten). Nicht weniger als im Fußball lohnt es sich in der Politik, proaktiv zu agieren und an die eigene Fähigkeit zu glauben, weitere Treffer zu erzielen.

Anders ausgedrückt: Wenn es Sozialdemokraten um Ziele geht, für die sich zu kämpfen lohnt (was der Fall ist), müssen sie ihre Ideen unter die Menschen bringen – und nicht in Deckung gehen, auf das Beste hoffen, aber das Schlimmste erwarten. Es ist wahr, in der inzwischen beendeten Ära marktradikaler Hegemonie war die Idee der sozialen Demokratie in der Defensive. Die Sozialdemokraten glaubten nicht mehr an ihre eigene Sache, weil sie ihre ganz eigene sozialdemokratische „Sprache des optimistischen Fortschritts“ verloren hatten. Und ihnen ging diese Sprache des Fortschritts immer mehr verloren, weil sie nicht mehr an ihre eigene Sache glaubten. Das eine führte zum anderen – und umgekehrt.

Angst lähmt, und sie macht unkreativ

Dieser Teufelskreis muss angehalten werden. Ja, wir haben tatsächlich allen Grund zur Angst. Der Marktradikalismus mag zwar – jedenfalls als hegemoniales Narrativ – Geschichte sein. Aber die Zerstörung all dessen, was vor allem europäische Sozialdemokraten in den Nachkriegsjahrzehnten erreicht
haben, ist immer noch möglich. Der Klimawandel, endemische Finanz-, Wirtschafts-, Verschuldungs- und Währungskrisen, Bevölkerungswachstum, Energieknappheit, demografische Ungleichgewichte, Massenmigration, Nahrungsmittelknappheit, Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, die Verbreitung von Atomwaffen, wahlweise zerstreute oder in Panik verfallende Öffentlichkeiten – die Welt ist wirklich ein gefährlicher Ort geworden. In Zeiten wie diesen werden gerade defensive und rückwärtsgewandte „Parteien der Angst“ – zusammengehalten von wenig mehr als dem furchtsamen Wunsch, die Erosion ihrer früheren Errungenschaften zu bremsen – niemals mehr auf die Beine bringen als vorübergehende Sperrminoritäten.

Angst lähmt, und sie macht unkreativ. Statt ihr nachzugeben, sollten wir das Wagnis eingehen, uns selbst wieder davon zu überzeugen, dass die Idee einer progressiven, zukunftsorientierten sozialen Demokratie, die auch grüne und liberale Ziele einbezieht, jedes erdenkliche Potenzial besitzt, im 21. Jahrhundert Mehrheiten zu gewinnen. Wenn Sozialdemokraten selbst nicht glauben würden, dass sie etwas Wertvolles anzubieten haben, um die Zukunft zu einem besseren Ort zu machen, warum sollte ihnen dann irgendjemand folgen? Martin Luther King rief nicht: „Ich habe einen Alptraum!“ Und Barack Obama ist nicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden und hat einen Krankenversicherungsschutz für Millionen zuvor unversicherter Amerikaner durchgesetzt, indem er über die neoliberale Hegemonie lamentierte. Er hat dies dadurch vollbracht, dass er genug Menschen davon überzeugt hat, dass positiver Wandel, Fortschritt und eine bessere Zukunft immer noch möglich sind.

„Lasst uns in eine einfachere Welt zurückkehren“

Vielleicht, sogar wahrscheinlich, wird es eine future fair for all nicht geben. Denn das Dilemma des Fortschritts im 21. Jahrhundert liegt nur allzu klar zutage. In seinem kürzlich erschienenen Buch The Politics of Climate Change bringt Tony Giddens das Problem gut auf den Punkt: „Unsere Zivilisation könnte sich selbst zerstören, kein Zweifel. Der Jüngste Tag ist nicht mehr bloß eine religiöse Vorstellung, nicht mehr nur ein Tag der spirituellen Abrechnung, sondern er steht unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft möglicherweise tatsächlich bevor. ... Kein Wunder, dass viele Menschen Angst haben. ‚Lasst uns umkehren‘, sagen sie, ‚lasst uns in eine einfachere Welt zurückkehren!‘ Diese Gefühle sind vollständig verständlich, und in manchen Kontexten besitzen sie auch ganz praktische Bewandtnis. Aber es kann keine ‚Rückkehr‘ auf der ganzen Linie geben. Gerade die Ausweitung menschlicher Macht, die unsere großen Probleme verursacht hat, stellt das einzige Mittel dar, diese Probleme zu lösen – mit Wissenschaft und  Technologie an der Spitze. Es wird im Jahr 2050 wahrscheinlich neun Milliarden Menschen auf der Erde geben. Danach wird sich die Weltbevölkerung hoffentlich stabilisieren, vor allem dann, wenn die am wenigsten entwickelten Länder bis dahin erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt erleben. Deshalb müssen Mittel gefunden werden, diesen neun Milliarden Menschen ein annehmbares Leben zu ermöglichen.“

Dies ist unsere Welt im 21. Jahrhundert. Sie bedarf ganz dringend des Fortschritts und hellwacher Sozialdemokratien, damit zumindest einige der Probleme gelöst werden können, die vergangener Fortschritt eben auch geschaffen hat. Wir können überhaupt nicht sicher sein, dass uns dies gelingen wird, denn die Herausforderungen scheinen überwältigend groß. Solche Zweifel wiederum entmutigen den fortschrittlichen Geist weiter, was den Erfolg sogar noch ungewisser macht. Was wir hingegen mit der allergrößten Sicherheit wissen, ist, dass uns Konservatismus, ganz gleich ob in sozialdemokratischer oder sonstiger Spielart, auf gar keinen Fall retten wird. Möglicherweise sind wir selbst dann zum Scheitern verurteilt, wenn wir uns für mehr und – hoffentlich – besseren Fortschritt entscheiden. Auf jeden Fall aber sind wir zum Scheitern verurteilt, wenn wir uns gegen das Prinzip Fortschritt entscheiden. Sogar Tony Judt selbst räumt ein: „Die Vergangenheit ist wirklich ein anderes Land: Wir können nicht in sie zurückkehren.“

Diese Position impliziert in keiner Weise, dass Sozialdemokraten und andere Progressive nichts aus der Vergangenheit lernen müssen. Ganz im Gegenteil! Unser Erfolg bei der Bewältigung der beispiellosen Herausforderungen, die vor uns liegen, wird davon abhängen, ob genug Menschen in unseren westlichen Gesellschaften die Kostbarkeit, die schiere Unwahrscheinlichkeit und die Fragilität der sozialen und freiheitlich-demokratischen Nachkriegsordnung verstehen. Tony Judt hat Recht, wenn er uns warnt, nur ja nichts davon für selbstverständlich zu halten: „Wenn wir eine bessere Zukunft bauen wollen, dann müssen wir ein tieferes Verständnis dafür entwickeln, wie plötzlich selbst festgefügte freiheitliche Demokratien zugrunde gehen können.“

Diese ernste Mahnung ist zweifellos am Platz. Tony Judt verdient große Anerkennung dafür, dass er seine Botschaft glasklar und unerbittlich vertritt. „Die Sozialdemokratie steht nicht für eine ideale Zukunft“, schreibt er, „sie steht nicht einmal für eine ideale Vergangenheit. Aber unter den Optionen, die uns gegenwärtig offenstehen, ist die sozialdemokratische besser als jede andere.“ Aus diesem Grund wird die soziale Demokratie im 21. Jahrhundert unentbehrlich bleiben – allerdings nicht als jener Ersatz-Konservatismus, den Tony Judt im Auge hat, sondern als das optimistische, fortschrittliche und zugleich nüchterne politische Bekenntnis, das in unserem gefährlichen Zeitalter so dringend gebraucht wird. «



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