Feigheit vor dem Wähler

Die Sozialdemokraten haben sich nicht getraut, Angela Merkels katastrophale Europapolitik im Wahlkampf frontal anzugreifen. Das hat sich gerächt. Und daraus sollte man lernen

Bundestagswahlen werden nicht mit Europapolitik gewonnen. Aber möglicherweise werden sie in einem gewissen Sinn mit Europapolitik verloren. Möglicherweise ist es das, was bei den vergangenen Bundestagswahlen geschehen ist. Was ist damit gemeint? Sozialdemokraten und Grüne haben im Wahlkampf zu zeigen versucht, dass die Regierung Merkel gescheitert ist und das Land in eine Sackgasse geführt hat. Das ist nicht weiter verwunderlich, das muss man tun als Opposition. Schließlich wird man nicht als Opposition ins Amt gewählt, weil man so gut ist, sondern die Regierung wird abgewählt, wenn die Bürger sie als schlecht ansehen. Das Problem daran ist nur: Das war sehr schwer vermittelbar. In innenpolitischen Belangen, in wirtschafts- und sozialpolitischen Belangen (sofern es die Ebene des Nationalstaates betrifft) hat das Merkel-Kabinett ja nicht so schlecht regiert, jedenfalls nicht schlecht genug, dass eine Wechselstimmung aufgekommen oder auch nur entfachbar gewesen wäre.

Die wirkliche Katastrophe, die diese Regierung angerichtet hat, war ihre Europapolitik: Sie hat dem Kontinent einen Austeritätskurs oktroyiert, der die Eurozone in eine 18-mona­tige Rezession trieb und in den Krisenstaaten eine soziale Katastrophe anrichtete. Und dieses De-facto-Politikdiktat des mächtigsten Landes in Europa wurde auch noch mit einer rhetorischen Schlagseite versehen, die die Europäische Union einer Zerreißprobe aussetzte: „Unsolide“ Länder wurden abgekanzelt, schulmeisterlich wurde täglich jemandem beschieden, er müsse seine „Hausaufgaben“ machen, Nord- und Süd-Länder wurden gegeneinander aufgehetzt. Praktisch nichts von all dem, was notwendig gewesen wäre, um die Krise wirklich zu lösen, wurde unternommen (die einzige Institution, die das wirklich und mit Erfolg tat, war am Ende die Europäische Zentralbank). Und die Politik, die verfolgt wurde, hat die Krise nur verschärft. Noch dazu war es Angela Merkel selbst gewesen, die mit ihrem populistischen Anti-Griechen-Getöse im nordrhein-westfälischen Wahlkampf 2010 die Eurokrise erst losgetreten und die Finanzmärkte in Brand gesetzt hat.

Wenn es also auf einem Politikfeld ein Totalversagen der Regierung mit fatalen Folgen für alle zu konstatieren gegeben hätte, dann auf diesem. Nur blieben in dieser Hinsicht Sozialdemokraten und Grüne bemerkenswert still. Gewiss, die SPD hat in Detailfragen andere Akzente gesetzt. Sie kann sich etwa einen Schuldentilgungsfonds vorstellen, um die unter Schulden ächzenden Staaten wieder auf die Beine zu bringen, und sie würde auch Wachstumsimpulse durch Konjunkturprogramme begrüßen. Aber für die Bürger und Bürgerinnen blieben das eben Details, die sich nicht zu einer fundamental anderen Konzeption summierten.

Es ist mir natürlich schon klar, warum das so lief: Die Sozial­demokraten dachten, mit EU-Themen sei kein Besenstiel zu gewinnen. Sie dachten, mit solchen politischen Konzepten würden sie bei den Wählern einfach nicht durchkommen. Um eine solche Kritik an der Regierung plausibel vorzubringen, müssten derart komplexe ökonomische Zusammenhänge erörtert werden, dass man damit in einem Wahlkampf nur scheitern könne. Und am Ende, so war ihre Befürchtung, würde lediglich hängen bleiben: Rot und Grün wollen deutsches Steuergeld einsetzen, um faule Südländer und die kaputte EU zu sanieren. Dann würde sich Merkel als die darstellen, die über deutsches Geld wacht. Man könne damit leider nur verlieren.

Es fehlten Überzeugung und Zuversicht

Aber genau hier liegt das Problem, das nicht nur im Wahlkampf jene Auswirkungen hatte, die es eben hatte, sondern das auch über den Wahlkampf hinaus wirkt: Die Sozialdemokratie traut sich nicht zu, den Bürgern zu erklären, dass die Eurozone längst schon eine gemeinsame Volkswirtschaft ist und man in dieser Volkswirtschaft gemeinsame Institutionen stärken und makro­ökonomische Gesamtsteuerung betreiben muss. Natürlich haben auch die führenden Sozialdemokraten noch ein keynesianisches Restwissen. Sie haben es nicht völlig vergessen (anders als der Kolumnist Wolfgang Münchau gerne verkündet), und sie haben sich an manches auch wieder erinnert. Aber sie sind nicht firm genug darin, selbst nicht überzeugt genug davon und nicht zuversichtlich genug, um die Bürger davon überzeugen zu können. Was aber nichts anderes heißt, als: Sie haben letztendlich auch fünf Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise keine eigene, autonome wirtschaftspolitische Konzeption und Vision.

Wie will man aber eine Regierung in Bedrängnis bringen, wenn man sich nicht zutraut, sie auf dem Feld frontal anzugreifen, auf dem diese in Wirklichkeit total gescheitert ist?

Es liegt auf der Hand, dass dieses Problem über den Wahltag hinaus relevant ist: Fundamental andere wirtschaftspolitische Konzepte lassen sich im Nationalstaat nicht mehr wirklich realisieren. Manche Pfade können noch innerhalb einer Volkswirtschaft eingeschlagen werden (etwa die Bekämpfung von Niedriglohnsektoren und wuchernder Prekarität), aber die eigentlichen Politiken, die Prosperität stimulieren, brauchen konzertierte europäische Aktionen. Wenn man sich aber nicht zutraut, mit diesen Konzeptionen bei der Mehrheit der Bürger auch durchkommen zu können, bleibt am Ende alles Flickschusterei.

Und in vier Jahren dann wieder dasselbe Elend?

Es wäre blauäugig zu behaupten, Sozialdemokraten und Grüne haben das vergurkt, und hätten sie das richtig gemacht, wäre alles besser ausgegangen. Natürlich ist so etwas nicht leicht. Und natürlich geht in einem Wahlkampf eine solche Auseinandersetzung verloren, wenn man sie nicht schon in den Jahren davor vorbereitet. Eine neue Politik muss lange vor einem Wahltermin formuliert sein, die Antworten müssen in ein Programm gegossen, in zwei, drei eingängige Bilder gepackt werden und ins öffentliche Bewusstsein einsickern. Das ist der einzige Weg, eine hegemoniale Deutung herauszufordern und durch eine neue zu ersetzen.

Das ist die Herkulesaufgabe der nächsten Jahre. Lässt man die Zeit wieder ungenützt verstreichen, wird man in vier Jahren vor einem ähnlichen Problem stehen. Wenn uns bis dahin die Trümmer Europas nicht schon um die Ohren geflogen sind.

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