Europas Grenzen denken

Das Streben nach Abgrenzung bleibt ein Grundbedürfnis des Menschen. Nur wenn Europas Politiker diese Einsicht ernstnehmen, kann das europäische Projekt auf Dauer gelingen: Keine Einheit ohne die Heterogenität der Mitglieder

Der Erfolg der Europäischen Gemeinschaft entscheidet sich im Umgang mit ihren Grenzen. Diese aber sind höchst ambivalente Gebilde: Grenzen trennen und verbinden, sie bestimmen territoriale und kulturelle Praktiken – und sie erzeugen gerade dann, wenn sie vehement verteidigt werden, das Bedürfnis, sie zu übertreten. Eine pluralistische Gemeinschaft wie die EU setzt einen reflektierten Umgang mit dem Thema voraus. Europa braucht ein stärkeres Bewusstsein des „Liminalen“.

Aus kulturphilosophischer Perspektive ist das Streben nach Abgrenzung ein Grundbedürfnis des Menschen. Jede Identitätsbildung beruht darauf, eine Trennlinie zu ziehen zwischen mir und denjenigen, von denen ich mich unterscheiden möchte. Diese Erfahrung gilt für jeden Einzelnen von uns in unserem lebensweltlichen Kontext; sie betrifft aber auch den Status von Gruppen und kulturellen Gemeinschaften bis hin zu Staaten und Zusammenschlüssen von Staaten.

Dass es der Europäischen Union so schwer fällt, eine gemeinschaftliche Identität zu stiften, hat vor allem damit zu tun, dass sie sich aus einer Reihe von Staaten zusammensetzt, deren Entstehung maßgeblich auf Akte der gegenseitigen Abgrenzung zurückgeht. Die Nationalstaaten bildeten sich im 19. Jahrhundert nicht nur aufgrund militärischer Auseinandersetzungen um territoriale Hoheitsgebiete heraus, sondern auch durch eine Reihe von Grenzdiskursen mit dem Ziel, andere Nationalitäten zu diskreditieren und daraus die eigene Legitimation zu schöpfen.

Individualität trotz offener Grenzen

Derartige Ressentiments sind heute zum Glück (weitgehend) überwunden, dennoch resultiert aus ihnen ein tief sitzendes Selbstverständnis nationaler Identität. Bei aller Kritik an der Art und Weise, wie solche radikalen Grenzrhetoriken Identifikation erzeugen, darf die Politik das Bedürfnis nach Abgrenzung nicht übergehen. Und vor allem sollte sie die Öffnung der territorialen Grenzen im Binnenraum der EU nicht mit dem Abbau jeglicher Individualität verwechseln. Bei dem Versuch, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, verhalten sich beide Prozesse sogar gegenläufig: Während die Freizügigkeit einen wichtigen Beitrag dazu leistet, dass der Einzelne den europäischen Raum in seiner Gesamtheit erfahren kann, bewirkt der Versuch, die kulturellen Unterschiede – also die symbolischen Grenzen – einzureißen, genau das Gegenteil. Wem das Ganze aufgezwungen wird, der leistet Widerstand und verteidigt seinen Einzelstatus.

Grenzen trennen – und verbinden auch

Ein gemeinsames europäisches Projekt darf daher nicht die existierenden Unterschiede nivellieren, sondern hat nur dann eine Chance, wenn es die Differenzen betont und sie zu einem integralen Bestandteil des Selbstverständnisses der EU werden. Ein solches europäisches Bewusstsein des Liminalen würde dem Verdacht entgegenwirken, einzelne Staaten wollten die normative Deutungshoheit erlangen. Vielmehr wäre die EU dadurch offen für einen Zuwachs von Andersartigkeit, vor allem wenn es um weitere Beitritte geht. Keine Einheit Europas ohne die Heterogenität seiner Mitglieder.

Anders verhält es sich im Umgang mit den gemeinsamen Außengrenzen. Hier muss sich die EU erst noch finden. Mit dem Schengener Abkommen sind die Aufgaben der Grenzsicherung an die europäischen Außenstaaten delegiert worden und damit – so scheint es – auch das gemeinsame Verantwortungsbewusstsein. Angesichts der Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, gegen die noch immer keine funktionierenden Konzepte entwickelt wurden, muss man von einer kollektiven Verdrängung sprechen, die mit den Außengrenzen der Europäischen Union verbunden ist. Dass hingegen jährlich Tausende europäische Touristen nach Afrika reisen, zeigt auf zynische Weise, dass Grenzen eine selektive Durchlässigkeit besitzen. Hierfür müssen wir ein kritisches Bewusstsein entwickeln, denn ein gemeinsames Außen zu entwerfen, heißt nicht, sich abzuschotten, sondern diesem Außen gegenüber Verantwortung zu tragen.

Der Blick hinter die Grenze verhilft dem Anderen zu seinem Recht. Grenzen fungieren nicht nur als ein Abschluss, sondern stellen auch Verbindungen zwischen den voneinander getrennten Einheiten her: Das, was im Akt der Identitätsbildung entsteht, bleibt paradoxerweise auf das angewiesen, von dem es sich abgrenzt.

Konkret bedeutet das, sich in einem heterogenen Europa über die Bedeutung der symbolischen Grenzen der Nationen im Klaren zu sein; darüber, dass sie konstitutiv zur Eigenart und Selbstdefinition der einzelnen Staaten beitragen. Mit anderen Worten: Was man beispielsweise als deutsch, italienisch, polnisch oder dänisch ansieht, hängt in entscheidender Weise davon ab, was man als französisch, spanisch oder österreichisch definiert. Wo scheinbar Autonomie waltet, herrscht tatsächlich Abhängigkeit und Zusammenhang. Dies gilt auch für das, was wir als nicht-europäisch betrachten. Die Europäische Gemeinschaft stellt keinen abgeschlossenen Kosmos dar, der nur aus sich selbst heraus gebildet werden könnte. Vielmehr erzeugt sie ihre Identität mithilfe einer konstruktiven Abhängigkeit von anderen politischen Staaten und Gemeinschaften.

Das Andere als Bedingung des Eigenen zu akzeptieren, schafft eine Haltung der Toleranz, die verhindert, dass andere Seins- und Sichtweisen diskriminiert werden. Wer die Grenzen zu scharf zieht, der folgt der Illusion, dass man unabhängig voneinander existieren könnte. Wer aber seinen eigenen Status immer schon in Rücksicht auf seine Nachbarn entwirft, der zeigt eine Haltung des Respekts und der Offenheit gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen.

Warum Grenzregionen Vorbilder sein können

Zu den Grundbedürfnissen des Menschen zählt nicht nur die Abgrenzung, sondern auch das Überwinden von Grenzen. Gerade dort, wo sie verteidigt werden, entsteht das Bestreben, gegen sie anzugehen. Dass ein solcher Impuls zu nachhaltigen Veränderungen beitragen kann, hat das Beispiel der deutschen Wiedervereinigung gezeigt.

Dass Grenzen infrage gestellt werden, lässt sich in Lebensbereichen beobachten, wo Verhaltensnormen die eigene Handlungsfreiheit stark einschränken. Wenn die Überwindung dieser Grenzen nicht mit einer zwangsweisen Begrenzung anderer einhergeht, müssen sie in einer politischen Gemeinschaft gefördert werden, um die Eigenverantwortung zu stärken.

Grenzen stellen keine unveränderlichen Gebilde dar. Sie sind gestaltbar. Die mündigen europäischen Bürgerinnern und Bürger sollten deshalb an der Bildung und Neuausrichtung von Grenzen beteiligt werden. So wie unsere individuellen Persönlichkeiten einem beständigen Wandel unterliegen und in den Netzwerkgemeinschaften des Internets täglich dynamische Prozesse der Grenzziehung und -überwindung stattfinden, sollte auch Europa auf Differenzen, Vielfalt und Varianz setzen.

Solche variablen Grenzidentitäten lassen sich in den verschiedenen Grenzregionen Europas schon lange beobachten. Es sind Orte der Hybridität, der Begegnung und des produktiven Austauschs. Die Grenzregionen können Vorbilder sein, wenn es darum geht, eine Balance zu schaffen zwischen den beiden Grundbedürfnissen nach Identitätsbildung durch Abgrenzung und Weiterentwicklung durch Grenzüberschreitung. Ein solches Europa würde nicht mehr als eine statische Normierungsapparatur wahrgenommen, sondern als ein dynamischer Gestaltungsraum, in dem jedes Mitglied zu seinem Recht kommt, weil es sich als Teil einer heterogenen Gemeinschaft begreift. Wir Europäer müssen uns nur unserer liminalen Verfasstheit bewusst werden!

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