Europäer mögen kein gechlortes Geflügel

Das angepeilte Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA soll neue Jobs und Wachstumsimpulse bringen. Doch während die zukünftigen Vorteile vage bleiben, lassen sich schwerwiegende Nachteile schon heute klar benennen. Europa darf seine hart erkämpften Errungenschaften nicht aus der Hand geben

Staatsgeheimnisse, sensible Informationen aus der Wirtschaft und auch Liebesgesäusel – die Amerikaner haben sich mit ihrem Geheimdienst NSA Zugang zu allem verschafft, was sie interessiert. Es handelte sich um Spionage wie in Zeiten des Kalten Kriegs – ohne jede Rücksicht auf die Partnerschaft mit der Europäischen Union.

Die von Edward Snowden enthüllten Geschichten haben das Zeug zum Spionage-Thriller, aber die Regierungen in den 28 EU-Hauptstädten scheint das kaum zu jucken. Zwar war man in Berlin und anderswo pikiert über die Unverfrorenheit der Amerikaner und bat darum, die Schnüffelei einzustellen, wirkliche Konsequenzen hat der Skandal jedoch nicht. Im Gegenteil: Die EU will sich noch weiter öffnen, ohne dabei auf verbindliche Datenschutzstandards zu bestehen. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA wurden weder unterbrochen noch abgesagt. Wie können wir ohne Vertrauensbasis über ein derart weit reichendes Abkommen verhandeln? Und wie können es die Regierungschefs verantworten, den Schutz von persönlichen Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger zu verkaufen?

Ein kostenloses Konjunkturpaket?

Vermutlich kennt die NSA nicht nur das Verhandlungsmandat zum Freihandelsabkommen in- und auswendig, sondern auch die Verhandlungsstrategie der Europäer. Damit wissen die Geheimdienstmitarbeiter mehr als wir gewählten Vertreter im Europäischen Parlament. Offiziell haben wir keinen Zugang zu den Verhandlungsdokumenten und sind darauf angewiesen, die Informationen über andere Kanäle zu bekommen. Das ist nicht die Form von Transparenz, die ich von der EU erwarte.

Der Datenschutz ist nicht der einzige Grund, warum wir Grüne im Europäischen Parlament (EP) gegen das Freihandelsabkommen sind. Der Vertrag soll Zollschranken und andere Handelsbarrieren zwischen der EU und den USA abbauen. Davon verspricht sich die Europäische Kommission zwei Millionen neue Jobs – ein kostenloses Konjunkturpaket in Zeiten der Krise. In Wirklichkeit ist keineswegs sicher, dass die Wachstumsimpulse kommen. Schon heute sind die Zollschranken zwischen der EU und den USA sehr niedrig; die Abgaben liegen durchschnittlich bei drei Prozent. Auch erwähnen die Befürworter nicht, dass in den Berechnungen ein Zeitraum von 14 Jahren angesetzt wird – erst für das Jahr 2027 wird ein Anstieg des europäischen Bruttoinlandsprodukts vorausgesagt, und das gerade mal um 0,4 Prozent. Lohnt es sich wirklich, dafür viele unserer hart erkämpften Standards zum Schutz der Verbraucher und der Wirtschaft aufzugeben? Dass die Risiken überwiegen, lässt sich an drei Beispielen erklären.

Erstens: Gerade im Verbraucher- und Umweltschutz hat das EP in den vergangenen Jahren viel erreicht. Die europäischen Standards liegen auf fast allen Gebieten über den amerikanischen. Beispielsweise müssen bei der Verwendung von Chemikalien höchste Standards eingehalten werden. Unternehmen haben Warnhinweise zu veröffentlichen, und neue Chemikalien werden für die Produktion nur zugelassen, wenn bewiesen ist, dass sie keine negativen Folgen für die menschliche Gesundheit haben.

Bauernhöfe wie kleine Fabriken

Auch bei verarbeiteten Lebensmitteln sind die Europäer strenger als die Amerikaner. So ist bei uns die Behandlung von Geflügel mit Chlor verboten oder die Zulassung von genveränderten Produkten an hohe Anforderungen gekoppelt. Anders als in den USA gehören Genprodukte längst nicht zum Standard, und die Mehrheit der EU-Bürger lehnt sie auch ab. All diese Regeln sind im Sprachgebrauch der Verhandlungsführer „nicht-tarifäre Handelshemmnisse“, die es zu beseitigen gilt. Nur wenn wir unsere Standards absenken, werden die Amerikaner ihre Märkte für unsere Unternehmen öffnen. Dieser Preis ist eindeutig zu hoch.

Zweitens: Auf dem Gebiet der Landwirtschaft riskieren wir unseren europäischen Weg, der auch auf bäuerliche und nachhaltige Landwirtschaft setzt. In den Vereinigten Staaten sind die bewirtschafteten Flächen eines Hofes durchschnittlich zehnmal so groß wie in der EU. Die Höfe funktionieren wie kleine Fabriken – rationalisiert und industrialisiert. Vor allem die Landwirte im Süden und Osten der EU würden stark unter Druck gesetzt.

Mit unserer grünen Idee, Nachhaltigkeit und ökologische Landwirtschaft zu fördern, hat das nichts zu tun. Bio-Landwirtschaft würde dadurch nahezu unmöglich. Tierschutz würde keine Rolle mehr spielen. Auch hierzulande würden viele Arbeitsplätze verloren gehen.

Drittens: Sorgen machen muss uns zudem die so genannte Schiedsgerichtsbarkeit. Was abstrakt und bürokratisch klingt, hat konkrete Auswirkungen auf unsere Gesetze zum Verbraucher- und Umweltschutz: Unternehmen aus den Vereinigten Staaten können bei so genannten Schiedsgerichten gegen gesetzliche Standards klagen. Kommt das Gericht zu dem Schluss, dass eine Regelung den freien Handel behindert, kann es diese kippen, ohne demokratische Institutionen wie die nationalen Parlamente einzubeziehen.

Bisher existiert die Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen einzelner Verträge zwischen Staaten und Unternehmen. Im Freihandelsabkommen soll das Prinzip nun flächendeckend eingeführt werden. So geraten unsere Standards weiter unter Druck – und wir Politiker können im Zweifel nur noch dabei zusehen, wie die Justiz unsere Errungenschaften aushebelt. Beispiele dafür gibt es bereits genug: So klagte der Energiekonzern Vattenfall nach der Entscheidung über den frühzeitigen Atomausstieg gegen Deutschland und versucht noch immer, Schadensersatz in Millionenhöhe zu erstreiten. Ein spanisches Unternehmen klagte gegen Mexiko, als sich die dortige Regierung für ein Naturschutzgebiet und gegen eine giftige Mülldeponie entschied. Während Australien Schiedsgerichte überhaupt nicht mehr in seine Staatsverträge aufnimmt, wollen die Europäer sie nun als Standard etablieren. Kein Wunder, dass Unternehmen wie der amerikanische Minenkonzern Chevron dies ausdrücklich begrüßen. Damit wären alle Umweltschutzmaßnahmen angreifbar, die beispielsweise Fracking in den EU-Ländern bisher schwierig machen. Diese Art von Handelspolitik ist untragbar.

Neue Standards für die ganze Welt

Es geht gar nicht nur um uns. Mit dem Freihandelsabkommen würden Standards geschaffen, an die sich auch alle anderen Länder halten müssten, wenn sie mit den USA oder der EU ins Geschäft kommen wollen. Drittländer müssten folgen, unabhängig von den Auswirkungen, die dies für ihre Wirtschaft hätte. Das Abkommen wäre das Ende von multilateralen Verhandlungen, in denen auch Entwicklungs- und Schwellenländer eine Stimme haben.

Kurzum, das Freihandelsabkommen birgt schwere Risiken. Wir Grüne im EP haben uns für die Unterbrechung der Verhandlungen ausgesprochen, konnten uns aber nicht durchsetzen. Jetzt müssen zumindest die Ergebnisse der einzelnen Verhandlungsrunden veröffentlicht werden. Dann wüssten die Bürger, was in ihrem Namen mit den USA beschlossen wird. Klar ist: Die Verhandlungsführer rund um den EU-Handelskommissar dürfen unsere europäischen Errungenschaften nicht einfach aus den Händen geben. Wir Europäer müssen weiter über unsere Zukunft entscheiden können. Das zu gewährleisten, ist unsere Verantwortung im Europäischen Parlament.

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