Europa droht die Jugoslawisierung

Der Fall Zypern zeigt, dass die Eurokrise ihre heiße Phase noch längst nicht überwunden hat. Für die "Berliner Republik" sprachen Felix Lennert und Dominic Schwickert mit dem renommierten amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler James K. Galbraith über Europas strukturelle Probleme und ihre möglichen Lösungen

Herr Galbraith, was sind für Sie die wesentlichen Herausforderungen, vor denen Europa steht?

Es muss uns zunächst klar sein, dass die Dynamiken, die zum finalen Zusammenbruch der Eurozone und später auch der Europäischen Union führen könnten, überhaupt nicht gestoppt sind. Gerade die krisengeschüttelten Länder kommen aus der Schuldenfalle nicht mehr heraus. Dabei kann es keine Option sein, dass diese Länder die Union verlassen und ihre Währungen abwerten. Das würde für Europa unglaubliche Komplikationen schaffen. Deshalb kommt derzeit leider vielen Akteuren eine strenge Austeritätspolitik als einzige gangbare Alternative vor. Dies ist verheerend.

Was daran ist denn so verheerend?

Einseitige Austeritätspolitik schwächt oder zerstört grundlegende Institutionen gewachsener Gesellschaften, etwa das Bildungswesen, die Gesundheitsfürsorge oder den Umweltschutz. Und natürlich werden die Leute sagen: „Warum sollen wir noch Steuern zahlen? Wir bekommen nichts dafür und werden obendrein noch abgezockt.“ Im Ergebnis kommen die Leute eher nach Berlin, um Wohnungen zu kaufen, statt zu Hause Steuern zu zahlen. Und während die Folgen der Sparmaßnahmen immer tiefer greifen, kann es schnell zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung kommen. Ich sage das nicht unüberlegt. Auch in einer hoch entwickelten Gesellschaft kann bei einem Kollaps des Systems das Gewaltpotenzial rapide ansteigen. Unsicherheit und Frustration entladen sich in solchen Fällen plötzlich auf den Straßen. Es folgen Knüppel und Tränengas. Bei allen Unterschieden: Der Zusammenbruch Jugoslawiens ist noch nicht allzu lange her, aber offensichtlich bereits in Vergessenheit geraten.

Einige Experten schlagen eine Art Marshall-Plan 2.0 für Europa vor. Was halten Sie davon?

Das Problem dieser Analogie ist, dass der Marshall-Plan ein Wiederaufbauplan war, der seinerzeit funktionieren konnte. Um bombardierte Autobahnen wieder aufzubauen, hat man nicht mehr qualifizierte Leute und bessere Technik gebraucht, sondern die notwendigen Ressourcen. In der gegenwärtigen Krise ist das jedoch nicht das Problem. Man hat einen großen Bevölkerungsteil, dem es an Einkommen mangelt. Ausgerechnet die Jungen und die Älteren, für die wir uns besonders einsetzen sollten, sind betroffen. Gleichzeitig kommt es darauf an, öffentliche Leistungen, die Infrastruktur und das ökonomische Leben aufrechtzuerhalten. Doch diese Faktoren sind nicht bombardiert worden, sie wurden schlichtweg vernachlässigt. Der Marshall-Plan kann daher eine Inspiration sein, mehr nicht.

Wie soll die Europäische Union mit Ländern umgehen, die jahrelang mit einem wachsenden Haushaltsdefizit operieren?

Erstens ist ein Haushaltsdefizit in einer Krise mit einem großen Anteil privater Verschuldung, wie im Fall Spaniens, unvermeidlich. Dort sehen wir einen Verlust der Steuerbasis infolge eines zusammengebrochenen privaten Finanzsektors – genau wie in den USA. Zweitens sind Haushaltsdefizite bis zu einem bestimmten Grad notwendig und normal. Die Auffassung, dass Haushaltsdefizite auf einen gewissen Prozentsatz des BIP zu beschränken sind, ist genauso willkürlich wie falsch. Vielmehr bedarf es tragfähiger und realistischer Aufsichtsmechanismen.

Wie könnte eine Alternative zur gegenwärtigen Sparpolitik aussehen?

Klar ist: Die wesentlichen öffentlichen Leistungen müssen bestehen bleiben. Man zerstört keine Stadt, nur um die Gläubiger zu bezahlen. Menschen, die souveränen Regierungen Geld leihen, nehmen das Risiko des Verlusts in Kauf. Ihre Ansprüche sind öffentlichen Belangen wie dem Recht auf öffentliche Bildung oder der Müllentsorgung eindeutig unterzuordnen. Zudem klafft die soziale Schere innerhalb Europas immer weiter auseinander. Ein großes Problem! Es ist nicht progressiv, dass Europa zwar einen allgemeinen Wirtschaftsraum hat, zugleich jedoch die sozialen Programme weiterhin auf der nationalen Ebene verharren. Europa braucht ein System, das den Bürgern Europas direkt Geldleistungen zukommen lässt.

Es bedarf also grundlegender Überlegungen, wie diese Ungleichheiten zu kompensieren sind?

Genau. Traditionell nutzt man für diesen Zweck Strukturfonds, jedoch ist deren Größe in der EU nicht ausreichend. Zudem gibt es ein Kompetenzproblem in den Empfängerländern, das sich etwa mit Blick auf Griechenland in zweierlei Hinsicht äußert: Zum einen können keine adäquaten Summen bereitgestellt werden, zum anderen gibt es auch keine Projekte, die auf wirkungsvolle Weise implementiert werden könnten. Das trifft natürlich auch auf den südlichen Teil Italiens und andere Regionen zu.

Durch welche Instrumente könnte die EU dieses Hindernis überwinden?

Es wäre sinnvoll, Maßnahmen einzuführen, die die Einkommen von Leuten in unteren Einkommensklassen subventionieren. Eine Idee ist ein europäischer Arbeitslosenver-sicherungsfonds. Hier erhalten Leute direkte Unterstützung, die durch die Krise unmittelbar betroffen sind. Ein zweites Konzept ist das einer europäischen Rentenunion. Es fußt auf dem moralischen Grundsatz, dass sich die Renten der Menschen in Europa an der Gesamtproduktivität Europas orientieren sollten.

Also eine Einheitsrente von Berlin bis Bukarest.

Sicher. Jemand, der die Straße kehrt macht die gleiche Arbeit für die gleiche Anzahl von Jahren, egal wo er diese Arbeit verrichtet. Warum sollten Menschen in Rumänien oder Portugal so viel schlechter bezahlt werden als in Dänemark oder Deutschland? Nur weil ein Ort über sehr wettbewerbsfähige Industrien verfügt und ein anderer nicht? Richtig wäre es, die nationalen Rentenprogramme zu subventionieren. Man muss sich natürlich davor hüten, falsche Anreize zu schaffen. Länder sollen ihre eigenen Programme nicht komplett aufgeben. Aber durch eine intelligente zusätzliche Subventionierung könnten Ungleichheiten deutlich reduziert werden.

Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Ist dafür nicht auch ein einheitliches europäisches Steuersystem zwingend?

Europa braucht etwas, was gemäß den Prinzipien des Earned Income Tax Credit, der „negativen Einkommenssteuer“ in den USA gestaltet wird. Das ist ein System der Lohnauffüllung, das auf dem individuellen Jahreseinkommen basiert – eine sehr geschickte Methode, um Armut unter Arbeitnehmern zu vermindern. Entscheidend ist: Sobald die Bürger direkt profitieren, hat man eine viel breitere Basis, um Einkommensströme zu stabilisieren. Das ist sicherlich keine vollständige Lösung, aber doch ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Konnten diese Mechanismen wirklich die großen Einkommens- und Wohlstandslücken zwischen den amerikanischen Bundesstaaten schließen?

Auf jeden Fall. Die Unterschiede, die zwischen den einzelnen Regionen in den USA existierten, waren vor 70 Jahren riesig: um die 40 Prozent mit Blick auf das durchschnittliche Einkommen. Heute sind sie mit 15 Prozent nahezu marginal.

Lassen Sie uns über Deutschland reden: Wie sehen Sie die Rolle der deutschen Regierung in der europäischen Krise?

Ich sehe mich nicht in der Position, einzelne Politiker wie die Bundeskanzlerin zu kritisieren. Nur so viel: Angela Merkel tut zweifellos, was sie für notwendig hält, um in Deutschland ihre Position zu erhalten. Doch der gegenwärtige Weg führt in ein noch größeres Desaster. Nur wenn das in Deutschland verstanden wird, kann sich auch die politische Führung ändern. Und natürlich würde es helfen, wenn einige politische Persönlichkeiten in Deutschland dies zum Ausdruck brächten.

Und was können die progressiven Kräfte in dieser Situation tun?

Ich denke, dass progressive Kräfte die Wahrheit sagen sollten. Das ist das Einzige, was man machen kann.

Wirklich?

Nun, es ist der erste Schritt, aber ein sehr nützlicher. Wenn man klar und deutlich sagt, dass die EU ein Solidaritätsprojekt ist, dann wird die Gesellschaft das nicht nur erkennen, sondern anerkennen – und schließlich einer sozialen Europapolitik zustimmen. Nur wer die Bürger überzeugt, kann gewinnen.

Und was kommt nach dem Moment der Klarheit?

Selbstverständlich müssen Alternativen zur bestehenden Politik formuliert werden. Beispielsweise wäre eine Schuldner-Föderation mit echter Verhandlungsmacht richtig. Alle Länder, die finanziell im Defizit sind, sollten gemeinsam agieren. Wenn sie das tun, wird ihre Situation den Überschussländern viel verständlicher. Alle zusammen können dann entweder gemeinsam weitermachen – oder sie werden eine endgültige Scheidung erleben.

Was folgt aus dem gegenseitigen Verständnis?

Die Lösung muss auf dem Prinzip der Solidarität beruhen. Solidarität ist das Vorrecht und das Kapital der Stärkeren. Die Schwächeren sind nicht in der Position, sie einzufordern. Nur wenn die stärkeren Länder solidarisch handeln, werden sie erfolgreich sein. Und falls sie es nicht tun, haben die schwächeren Länder keinen Grund, dieser Gemeinschaft weiter anzugehören. Das ist relativ einfach. Ein Prinzip, das die Deutschen verstehen sollten. Mit der Gründung der Bundesrepublik und der Wiedervereinigung wurde Deutschland gleich zweimal nach diesem Prinzip wieder aufgebaut. Wenn die Deutschen Europa wollen, müssen sie Solidarität vorleben, sonst werden die Idee und die Institutionen Europas schnell verschwinden. Was dann folgt? Die Märkte würden zusammenbrechen – und Deutschland mit Europa scheitern.

Das ist nicht gerade sehr optimistisch.

Um es sehr klar zu sagen: Europa wandert auf einem äußerst schmalen Grat. Es ist erschreckend, dass die deutschen und europäischen Eliten die Gefahr der Jugoslawisierung der EU und damit Europas noch nicht begriffen haben. Diese Ignoranz sollten sie schleunigst ablegen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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