Es ist Zeit, die Alleinherrschaft des BIP zu beenden

zum Schwerpunkt Welches Wachstum?, Berliner Republik 2/2010

Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Deutschland seit dem September 2008 durchlebt, rückt das Für und Wider von Wirtschaftswachstum und die Methoden, Wirtschaftswachstum zu messen, in ein neues Licht. Während bei einigen Indikatoren inzwischen das Schlimmste überwunden scheint, wird an anderer Stelle erst jetzt das volle Ausmaß der Krise deutlich. Was genau ist also in der Krise passiert?

Die wirtschaftliche Aktivität, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), ging im Krisenjahr 2009 um knapp fünf Prozent zurück, so stark wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Heute befindet sich Deutschland ungefähr auf dem Stand des Jahres 2006. Nun war 2006 – das Jahr des WM-Sommermärchens – sicher kein schlechtes Jahr für die meisten Deutschen; auf dieses BIP-Niveau zurückzufallen scheint also nicht das Ende der Welt zu sein. Zum Glück hat die Beschäftigung nur geringfügig abgenommen, nicht zuletzt aufgrund staatlicher Konjunkturmaßnahmen und Kurzarbeit. Der Trend der vergangenen Jahre, in denen die Arbeitslosigkeit stetig fiel, ist zwar zunächst gestoppt, aber die Arbeitslosenzahlen lagen selbst auf dem Höhepunkt der Krise immer noch deutlich unter den Rekordniveaus der Jahre 2004 bis 2006.

Auf sektoraler Ebene stellt sich die Lage sehr unterschiedlich dar: Manche Sektoren wurden kaum getroffen, andere sehr schwer (besonders exportintensive Industriezweige); einige bewahrten die Konjunkturprogramme vor dem Schlimmsten (zum Beispiel die Automobilindustrie); manche traf es verdient (etwa den Finanzsektor), die meisten jedoch unverdient.

Auch die öffentlichen Haushalte leiden unter den schweren Folgen der Krise. Als sich die privaten Haushalte und die Unternehmen zurückhielten, ist der Staat als Investor und Konsument aufgetreten. Da gleichzeitig die Steuereinnahmen einbrachen wie noch nie, finanzierte er diesen Kraftakt im Wesentlichen über neue Schulden. Auch wenn dies im Rückblick gerechtfertigt erscheint – sämtliche Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung der vorangegangenen Jahre wurden auf einen Schlag zunichte gemacht.
Wie sich die Krise auf Lebensglück, Zufriedenheit und allgemeines Wohlergehen der Deutschen ausgewirkt hat, ist empirisch noch nicht erhoben. Grundsätzlich ist Unsicherheit dem Glücksempfinden immer abträglich; das werden Millionen von Kurzarbeitern sicher bestätigen, selbst wenn Kurzarbeit besser ist als Arbeitslosigkeit. Auch die zuletzt deutlich gestiegene Sparquote kann als Indiz für gewachsene Zukunftsängste gelten, allerdings auch als ausgleichende Reaktion auf einen hoch verschuldeten Staat: Die Bürger als Steuerzahler oder als Empfänger öffentlicher Leistungen richten sich auf schwere Zeiten ein.

Beim Energieverbrauch und bei den Kohlendioxid-Emissionen gibt es eine interessante Entwicklung: Beide sind im Jahr 2009 stärker zurückgegangen als das BIP, vor allem aufgrund dramatischer Einbrüche bei einigen konjunkturabhängigen, energieintensiven Industriebranchen wie etwa der chemischen Industrie oder der Zement- und Stahlherstellung. Der Primärenergieverbrauch sank um 6,5 Prozent und liegt damit auf dem Niveau der frühen siebziger Jahre. Die Energieproduktivität der deutschen Wirtschaft ist in der Krise sogar noch angestiegen. Die Kohlendioxid-Emissionen fielen noch drastischer als der Energieverbrauch. Gegenüber 2007 sanken sie um knapp 8 Prozent. Somit war die Wirtschaftskrise ein – enorm teurer – Weg zur Senkung der Emissionen. Einen vergleichbar starken Rückgang hat es seit 1991 nicht gegeben; damals wurde er verursacht durch den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft und war ebenfalls mit enormen Kosten verbunden. Effizienter Klimaschutz sieht gewiss anders aus. Dennoch hat die Krise das Ziel der Bundesregierung, die Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, mit einem Schlag in greifbare Nähe gerückt.

Gezeigt hat die Krise auch, wie stark politische und wirtschaftliche Entscheidungen und die öffentlichen Diskussionen darüber nach wie vor auf das BIP fixiert sind. Die Frage, was da eigentlich genau zurückgegangen ist, und wie viel Schaden tatsächlich entstand, wurde kaum gestellt. Dabei fällt das Urteil – wie oben gezeigt – durchaus differenziert aus. Geht es uns also tatsächlich um fünf Prozent schlechter als 2008?

Die Kritik am BIP ist fast so alt wie das BIP selbst. Als Indikator der gesellschaftlichen Wohlfahrt ist es nur bedingt nützlich, das lernt inzwischen jeder Wirtschaftsstudent im Grundstudium. Unbestritten ist auch: Es gibt einen Bedarf an alternativen Maßzahlen, um Fortschritt und Wohlstand zu messen. Die Beiträge im Wachstumsschwerpunkt der Berliner Republik 2/2010 belegen dies eindrücklich, und auch in der europäischen Politik gibt es mit EU-Kommissionspräsident José Barroso und dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy hochrangige Befürworter einer neuen Wohlfahrtsmessung.

Die akademische Forschung an alternativen Indikatoren ist intellektuell so gut aufgestellt wie seit langem nicht. Grundlagen wurden auf europäischer Ebene insbesondere durch die Konferenz „Beyond GDP“ im Jahr 2008 und deren Folgeprozess geschaffen, einschließlich des Forschungsprojekts InStream. In Frankreich legte eine Kommission unter Leitung des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz im Auftrag von Nicolas Sarkozy im Jahr 2009 einen umfangreichen Bericht zu alternativen Wohlfahrtsindikatoren vor. Und auch bei internationalen Organisationen wie OECD oder Eurostat hat das Nachdenken über alternative Indikatoren längst begonnen.

In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Nachhaltigkeitsindices als Alternativen zum BIP in Stellung gebracht, ein „Champion“ war allerdings noch nicht dabei. Vielmehr weisen alle Alternativen bestimmte Unzulänglichkeiten auf. Ein Hauptproblem sind Datenlücken und die schwierige Vergleichbarkeit von Daten über Ländergrenzen hinweg. Dies gilt besonders bei solchen Bewertungssystemen, die sich aus vielen Einzelindikatoren zusammensetzen. Zudem fehlt der gemeinsame Nenner, um verschiedene Indikatoren in einen maßgeblichen Nachhaltigkeitsindikator zusammenzuführen. Während die Wirtschaftsleistung einheitlich in Euro bemessen wird, gibt es bei den Umwelt- und Sozialindikatoren eine große Vielfalt der Maßeinheiten – von Tonnen an Kohlendioxid-Emissionen, der Anzahl bedrohter Arten, der Zahl der Schulabbrecher bis hin zum Anteil der Staatsausgaben für Bildung und Forschung. Wenn solche Werte in einem gemeinsamen Indikator zusammengefasst werden sollen, müssen fundamental verschiedene Werte in einer Maßeinheit addiert und dadurch auch gegeneinander aufgerechnet werden. Kann ein Rückgang seltener Singvögel tatsächlich durch einen höheren Grad an Energieeffizienz ausgeglichen werden? Und wenn ja, wiegt der womöglich unwiederbringliche Verlust an Artenvielfalt stärker als der effizientere Einsatz von Energieressourcen? Der perfekte, universelle und akzeptierte Nachhaltigkeitsindex, der das BIP ablösen könnte, ist also nicht in Sicht. Aussichtsreicher sind Ansätze, das BIP durch soziale und ökologische Indikatoren zu ergänzen.

Die Krise gibt uns jeden Anlass, über Sinn und Ziel des Wirtschaftens neu nachzudenken und neue Indikatoren zu diskutieren. Gleichzeitig scheinen aber gerade wichtige Gelegenheiten dazu verpasst zu werden: So geht der Kommissionsentwurf für eine Strategie „Europa 2020“ (als Nachfolgerin der Lissabon-Strategie) nicht näher auf die Kritik am BIP ein, und auch die Green Growth-Strategie der OECD räumt diesem Thema nur wenig Platz ein. Ebenso wenig findet sich das Thema etwa im deutschen Koalitionsvertrag wieder. Stattdessen folgte unmittelbar nach der Wahl ein „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“, bei dem unklar blieb, was denn eigentlich wachsen solle. In der Krise sind die Reden von einer neuen Art des Wirtschaftens vergessen. Wieder geht es allein um das BIP.

Warum? Vor allem ist das BIP natürlich etabliert und besitzt alle Vorteile eines etablierten Indikators: Es existieren klare Konventionen zu seiner Berechnung, der Indikator ist international harmonisiert und weitgehend vergleichbar. Vor allem aber liefert das BIP zeitnahe Informationen. Es wird für jedes Quartal berechnet, während andere Indikatoren häufig erst mit einem Nachlauf von Monaten oder Jahren vorliegen. So hat sich das BIP zum zentralen Bezugspunkt der Wirtschaftspolitik entwickelt: Ökonomische Modelle, Instrumente zur Prognose der Konjunktur, selbst Regulierungen wie die Maastricht-Kriterien stellen allesamt auf das BIP ab.

All das ist bekannt und richtig. Nicht umsonst hat sich das BIP bei aller berechtigten Kritik seit den dreißiger Jahren gehalten. Dennoch besteht Hoffnung, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise an vielen Stellen ein grundsätzliches Nachdenken über Sinn und Ziel unseres Wirtschaftens befördert hat. Die Indikatorenfrage mag dabei als technisches Detail erscheinen. In Wirklichkeit ist sie für die Diskussion von zentraler Bedeutung. Die wissenschaftlichen Vorarbeiten sind geleistet, die Alternativen sind bekannt. Und auch wenn keine von ihnen perfekt ist, sind sie doch aussagekräftiger als das bloße BIP. Was jetzt noch fehlt, sind der politische Wille und die konkrete Initiative, sich vom BIP zu verabschieden, oder seine Bedeutung zumindest durch flankierende Indikatoren zu relativieren. «

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