Es geht um viel mehr als Grexit und Brexit

In der Eurokrise erweist sich: Nicht bloß einzelne Mitgliedsländer sind bedroht. Auf der Kippe steht die gesamte EU, wenn sie nicht bald ihre demokratischen und legitimatorischen Grundlagen erneuert

Europas demokratische Fundamente erodieren schleichend. Je länger die Krise in der Eurozone schwelt, desto mehr entpuppt sich das, was bisher verharmlosend als Demokratiedefizit bezeichnet wurde, als ein Vakuum, das die Integrationsfähigkeit Europas gefährdet. In der Folge kommt es trotz funktionaler Integration zu sozialer Desintegration. So legt die EU zwar seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 einen beachtlichen Aktionismus an den Tag, um die nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitiken immer stärker zu synchronisieren. Eine wachsende Zahl an Menschen wird durch die damit verbundene Austeritätspolitik jedoch gesellschaftlich abgehängt – sei es durch massive Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme und entsprechende Leistungskürzungen oder aufgrund diffuser Ängste vor sozialem Abstieg und materiellen Verlusten. Ausmaß, Tempo und die latente Krise verstärken vielfach ein Gefühl von Unbehagen und Ausweglosigkeit.

Um Beteiligung und Diskurs ging es nie

Mit Blick auf die demokratische Teilhabe der Bürger am Leben der res publica resultieren daraus entweder apathische Passivität, die mit einem Rückzug ins Private einhergeht, oder (neue) Formen des Protests, die nicht selten destruktive Züge tragen. Denn nicht erst bei der Anwendung physischer Gewalt gegen staatliche Einrichtungen und Ordnungskräfte überschreiten frustrierte Wutbürger eine rote Linie. Das Bewusstsein für die mühsamen Niederungen einer Demokratie ist schon dann verloren gegangen, wenn Protestbewegungen oder Anti-parteien – sei es aus dem rechten oder dem linken ideologischen Spektrum – eigene Partikularinteressen als repräsentativ über das Gemeinwohl stellen und sich einem Diskurs verweigern.

Demokratie muss über Jahrzehnte eingeübt werden. Nur so lässt sich lernen, dass das Wesen der Politik durch den Kompromiss geprägt wird. Divergierende gesellschaftliche Interessen lassen sich oft erst durch langwierige Diskussions- und Aushandlungsprozesse zum Ausgleich bringen. Wer einseitig darauf setzt, dass der politische Output die Mittel schon heiligen werde, läuft leicht Gefahr, auf unzureichende Akzeptanz beim Souverän zu stoßen. Ist die Identifikation der Bürger mit ihrer Demokratie und ihren Institutionen aber nur schwach ausgeprägt, so kann dies für die langfristige Stabilität sowie mögliche Krisensituationen problematisch werden. Und hier besteht gegenwärtig das eigentliche Dilemma der EU: Von Anbeginn waren die Europäischen Gemeinschaften nicht als demokratisches Beteiligungs- und Diskursprojekt der Bürger konzipiert worden. Vielmehr sollten sie einen friedenssichernden Binnenmarkt schaffen. Die Verwirklichung der verschiedenen Marktfreiheiten wurde dabei vor allem von den Eliten der nationalen Exekutiven vorangetrieben. Dem Versprechen „Wohlstand und dauerhafter Frieden für alle“ hatten sich andere Ziele unterzuordnen: Politische Kontroversen und die parlamentarische Suche nach notwendigen Kompromissen galten stets als zeitaufwendig und standen dem umfassenden Anspruch einer marktschaffenden Politik entgegen. Effizienz hatte damit immer wieder Vorfahrt vor Fragen der Legitimation. Nicht umsonst hinkt die Parlamentarisierung der EU bis heute dem Integrationsprozess hinterher.

Natürlich haben die Organe der EU über Jahre hinweg eine funktionsfähige Eigendynamik herausgebildet. Die Bürger nehmen die Union allerdings nach wie vor als closed shop wahr, der gleichwohl über wachsende Eingriffsrechte in ihr persönliches Lebensumfeld verfügt. Spätestens seit Ausbruch der Krise assoziieren viele Menschen die Entfesselung und Deregulierung der Märkte mit der EU – eine abstrakte Sorge, die sich für viele derzeit auch in den Verhandlungen zu TTIP und CETA zu bestätigen scheint. Dies verwundert kaum. Denn seit jeher ist der Diskurs über die Verwirklichung des Binnenmarktes als oberstem Ziel der EU sehr unausgewogen geführt worden – wenn in diesem Kontext überhaupt von einem Diskurs gesprochen werden kann. So war die Frage „Welchen Markt wollen wir und welches Verhältnis soll zwischen Markt und Demokratie in der EU bestehen?“ eigentlich nie Gegenstand einer grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Diskussion.

Das Europäische Parlament war bisher zu schwach, um der Dominanz der nur mittelbar legitimierten Organe (Rat, Kommission, Europäischer Gerichtshof und Europäische Zentralbank) etwas entgegenzusetzen, die bis heute als Treiber des wirtschaftsliberalen Markt-Paradigmas wirken. Grund dafür sind das spezifische Wahlsystem und das Fehlen einheitlicher europäischer Parteien mit einer starken lokalen Rückbindung an die Bürger. Die Anerkennung nationaler Eigenarten – sowohl in gesellschaftlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht – stellte aufgrund dieses institutionellen Ungleichgewichts in der EU deshalb stets eher ein vertraglich verankertes Versprechen als gelebte Verfassungswirklichkeit dar. Eine eigene Streitkultur – Fundament einer jeden Demokratie –, die von der Verschiedenartigkeit ihrer Partner und der Einbeziehung ihrer Bürger lebt, hat die EU auf diese Weise nie richtig entwickelt. Dabei geben sich Politik und Europawissenschaft weiterhin der Illusion hin, dass sich das Demokratiedefizit der EU mit entsprechenden Mehrheiten und ein bisschen politischem Willen durch ein paar vertragliche Schönheitskorrekturen beheben ließe: mehr Rechte für das Europäische Parlament, Direktwahl des Präsidenten von EU-Kommission und Rat sowie mehr Subsidiarität und direktdemokratische Partizipationsmöglichkeiten der Bürger.

Zu mehr als Krisenmanagement reicht es kaum

In der Krise zeigt sich allerdings mehr denn je: Eine solche Operation am offenen Herzen, in der die Atemnot und damit der Bedarf nach einer Demokratisierung am größten ist, erscheint unter den unsicheren Gegebenheiten derzeit kaum realistisch. Denn durch das tägliche Krisenmanagement fehlen die Kapazitäten für eine Diskussion zur Neubegründung von Sinn und Zweck der EU und die Entwicklung einer positiven Vision als Angebot an die Unionsbürger. Zwar lehrt die Theorie, dass einmal eingeschlagene Entwicklungspfade von Institutionen – wenn überhaupt – in Krisenzeiten verändert werden können. Politische Ambitionen und Mehrheiten für eine Reform der EU-Verträge bestehen derzeit aber nicht. Noch schlimmer: Die bestehenden Vereinbarungen verkommen zu einer bloßen Hülle und werden von der Normativität des Faktischen ausgehebelt, wie die Schulden- und Flüchtlingskrise zeigen.

Demokratie braucht Formen des sozialen Ausgleichs. Erst bei einer hinreichenden Absicherung gegen individuelle Lebensrisiken wird die Bereitschaft des Einzelnen zu demokratischer Teilhabe wachsen. Wer seinen Lebensunterhalt täglich mühsam organisieren muss, hat kaum mehr Energien, um sie für politisches Engagement zu mobilisieren. Auch hier zeigt sich in der EU ein Dilemma: Denn die Kompetenzen der Union im Bereich der marktkorrigierenden Sozialpolitik sind seit jeher so schwach ausgeprägt, dass ihr auch in Zukunft die finanziellen Ressourcen und Zuständigkeiten fehlen werden, um die sozialen Schieflagen des von ihr selbst geschaffenen Binnenmarktes abzufedern.

Noch problematischer ist, dass die EU mit ihrer Strategie der Krisenbekämpfung auf eine strikte Austeritätspolitik setzt, die vor allem in den südlichen Mitgliedsstaaten meist mit umfangreichen Kürzungen in den Sozialsystemen einhergeht. Der exorbitante Anstieg der Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger sowie die massenhafte Arbeitsmigration, die vor allem die südeuropäischen Länder betrifft, sind nicht nur wegen der vielen dahinter stehenden Einzelschicksale so problematisch. Vielmehr verlieren die betroffenen politischen Systeme mit diesem Exodus eine oder gar zwei Generationen an demokratisch mündigen und aktiven Bürgern. Dabei geht es nicht nur – ganz konkret – um die Sozialisierung, Rekrutierung und Auswahl von engagiertem Personal für Parteien und öffentliche Institutionen, die aufgrund des demografischen Wandels ohnehin schon schwierig ist. Viel problematischer dürfte der Umstand sein, dass die Legitimation der politischen Systeme und der von ihnen produzierten Entscheidungen aufgrund einer schwindenden Akzeptanz durch den Souverän immer weiter erodiert – auch wenn die demokratischen Institutionen formal noch funktionieren mögen.

Die Sehnsucht nach den guten alten Zeiten

Selbst in EU-Staaten wie Schweden, Dänemark, Frankreich und Deutschland, die bisher über gut ausgebaute Wohlfahrtssysteme verfügten, haben die Stimmenzuwächse europaskeptischer und rechtspopulistischer Parteien in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Der Front National in Frankreich, UKIP in Großbritannien, aber auch neue Parteien und Organisationen wie die AfD oder Pegida in Deutschland, erzielen seit Ausbruch der Krise nicht grundlos neue Mobilisierungserfolge.

Solche Parteien und Protestbewegungen stellen die demokratischen Systeme in Europa vor neue Herausforderungen. Einerseits wollen die etablierten Parteien verhindern, dass neue Gruppen den eigenen Einflussverlust aufgrund sinkender Mitgliederzahlen und diverser Skandale womöglich forcieren. Andererseits wird eine Unsicherheit und Überforderung erkennbar, wie mit diesen neuen Bewegungen umgegangen werden soll. Denn allzu oft sind die Forderungen dieser Gruppen diffus oder erschöpfen sich in einer pauschalen Ablehnung der etablierten politischen Systeme. Gleichzeitig reklamieren sie mit Aussagen wie „Wir sind das Volk“ eine umfassende und repräsentative Vertretung des eigentlichen Volkswillens für sich. Dabei entsprechen die internen Strukturen der Willensbildung und Entscheidungsfindung sowie die praktizierte Diskurskultur oft nur unzureichend demokratischen Ansprüchen.

Allerdings bedienen diese Protestbewegungen offenbar ein in breiten Bevölkerungsteilen geteiltes Gefühl, wenn etwa Forderungen nach einem (harten) „Durchgreifen“ und „Aufräumen“ wieder salonfähig werden, ebenso wie das Verbitten eines „Einmischens in innere Angelegenheiten“. Solche Forderungen korrespondieren letztlich auch mit der seit einigen Jahren zu beobachtenden Renaissance kommunistischer und nationalistischer Parteien in den mittel- und osteuropäischen Staaten. Die verbreitete Sehnsucht nach den „guten alten und geordneten Zeiten“ ist ein Indiz dafür, dass die demokratische Sozialisierung von Teilen der Bevölkerung in Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Kroatien nach dem Fall des Eisernen Vorhangs offenbar nicht hinreichend gelungen ist, um stabile Demokratien zu etablieren.

Die EU insgesamt ist bedroht

Da kein politisches System auf Dauer Entscheidungen gegen seine Bürger fällen kann, bedroht diese soziale und demokratische Desintegration langfristig nicht nur die systemische Integrationsfähigkeit einzelner Mitgliedsstaaten, sondern letztlich auch der EU als Ganzes. Es braucht also nicht erst einen „Grexit“ oder einen Austritt Großbritanniens aus der EU, um das in der politischen Debatte gemiedene D-Wort zu bemühen. Damit das demokratische Vakuum in der EU nicht weiter wächst, ist die EU auf die Mitgliedsstaaten als Legitimationsanker angewiesen. In der gegenwärtigen Lage können nur starke Demokratien in den Mitgliedsstaaten, in denen ein offener und engagierter Diskurs über die Zukunft Europas zwischen den politischen Eliten und den Bürgern geführt wird, die Akzeptanz der EU wieder befördern. Die so dringend benötigte Vermittlungsfunktion von politischen Eliten und Medien setzt aber voraus, dass auf durchsichtige Schuldvermeidungs-Spielchen zulasten der EU oder anderer Mitgliedsstaaten verzichtet wird. Gleichwohl muss in der Diskussion offensiv die Frage nach dem zukünftigen Verhältnis von Markt und Union erörtert werden – in dem klaren Wissen, dass soziale Institutionen und Binnenmärkte nicht grenzenlos wachsen können.

Dem europäischen Integrationsprojekt lag über Jahrzehnte hinweg die Annahme eines permanent fortschreitenden und alternativlosen Vergemeinschaftungsprozesses zugrunde. In der Krise bricht sich nun das latente Misstrauen gegen solche autosuggestiven Beschwörungen vor allem in längst überwunden geglaubten Stereotypen Bahn, die nationale Gegensätzlichkeiten betonen und Ausschlussszenarien hervorbringen. Die Krise ist deshalb auch eine Chance für die professionelle Europa-Community, Integration nicht nur als einen rein funktionalen Vergemeinschaftungsprozess nationaler Souveränitätsrechte zu kommunizieren. Integration muss endlich viel stärker mehrdimensional gedacht werden, um die Wechselwirkungen zwischen rechtlichen, ökonomischen sowie soziokulturellen Integrations- und Desintegrationsprozessen im europäischen Mehrebenensystem besser verstehen und gestalten zu können.

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