Erst Dolchstoßlegende, dann Dresdenlegende

Den Anfang vom Ende der ersten deutschen Demokratie läutete eine Lüge ein. Heute wird in Dresden ein ähnlicher Mythos erfunden. Ein Review-Essay

Das deutsche Heer ist im Felde unbesiegt. Einzig der Hinterlist der Verräter in der Heimat ist die Niederlage zu verdanken. An dieser Sichtweise hat es in der Weimarer Republik bald keinen Zweifel mehr gegeben. Dieser Dolchstoß in den Rücken des Heeres hatte seinen Weg aus den rechtsextremen Zirkeln in das Bewusstsein vieler Deutscher gefunden, obwohl man es schon damals besser wissen konnte und es heute in dem Begriff der Dolchstoßlegende zum Ausdruck kommt. Geschichte beschränkt sich nicht auf die objektive Bewertung von Ereignissen und deren Folgen. Deren Interpretation hat Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Nationen – mit Folgen für die Politik der Gegenwart. Geschichtspolitik ist daher keineswegs das Privileg von Historikern. Sie stellen nur das Material für die entsprechenden Debatten zur Verfügung. Manche sind wohl selbst über die Resonanz verblüfft, die ihre Erkenntnisse finden. Andere sehen sich eher in der Tradition Heinrich von Treitschkes, des Historikers als Ideologen, der mit Hilfe der Historiografie dem schwankenden Reich Bismarcks festen Boden verschaffen wollte.

In der Debatte um den Bombenkrieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg ist von der alten Maxime des Historismus – zu wissen, wie es gewesen ist – dann auch nicht mehr viel zu spüren. Sie hat sich schon längst aus dem Dunstkreis der Historiker verabschiedet und ist zu einer politischen Identitätsdebatte im neuen Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges geworden. Das zeigte sich zuletzt in den Ereignissen um den 60. Jahrestag der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945. NPD-Abgeordnete im sächsischen Landtag sprachen im Vorfeld des Jahrestages vom “Bombenholocaust” und riefen zu einer eigenen Gedenkveranstaltung auf. Die Zielrichtung war klar: Den Bombenkrieg der Alliierten als Vernichtungskrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung zu charakterisieren und damit den deutschen Völkermord zu relativieren.

Das ist nun keineswegs neu, wie der Autor schon bei anderer Gelegenheit in der Berliner Republik festgestellt hat (“Nach dem Krieg ist vor dem Krieg”, Heft 2/2003). Aber diese Debatte ist mit dem Ressentiment alter Nazis – auf Auschwitz mit Dresden zu antworten – nicht zu vergleichen. Jörg Friedrich hat mit seinem Buch Der Brand einen Perspektivwechsel ausgelöst, der dieser alten Argumentation eine scheinbar neue Plausibilität verliehen hat. Diese Perspektive besteht vor allem darin, wissen zu wollen, wie es in den angegriffenen Städten und im Bombenkeller eigentlich gewesen ist. Angereichert mit einer Reduzierung des Bombenkrieges auf das Konzept des moral bombing, des Flächenbombardements von Wohngebieten, hat Friedrich die Strategie der Alliierten – und vor allem die der Briten – in die Nähe des Vernichtungskrieges des Deutschen Reiches gerückt.

Trauer war in dieser Republik nie verboten

Dazu kam die überraschende Erkenntnis greiser Männer wie Günter Grass und Arnulf Baring: Man müsse auch als Deutscher über seine Kriegsopfer trauern dürfen. Überraschend war dies deshalb, weil bis dahin niemand diese Trauer verboten hatte. Man durfte trauern. Man tat es häufig nur aus einem Grund nicht: aus Schamgefühl über die Sinnlosigkeit dieser Opfer. Sie starben schließlich umsonst. Daher war die politische Trauerarbeit bis dahin auch vor allem auf Kameradschaftstreffen alter Soldaten zu finden gewesen. Manche teilten auch nach dem Krieg die Ziele ihres ehemaligen obersten Feldherrn Adolf Hitler, waren also aus dem Grund indiskutabel. Andere sahen sich als unpolitische Handwerker des Krieges, die nur ihre Pflicht getan hatten und daher keinen Grund zur Scham haben mussten. Eine Meinung, welche die Greise in früheren Zeiten übrigens nicht teilten – mit guten Gründen, wie wir heute besser wissen als noch in den sechziger und siebziger Jahren.

Dresden war in dieser politischen Nachkriegskonstellation immer ein Sonderfall. Die SED hatte Dresden zu einem Symbol für die Schrecken des Krieges gemacht. Dieser Schrecken bezog sich dabei nur auf den Bombenkrieg der westlichen Alliierten. Die Trümmer der Frauenkirche waren ein überzeugendes Mahnmal geworden – auch für die Bewohner der Stadt. Dresden galt als unschuldig und militärisch irrelevant. Der Kontext des Zweiten Weltkrieges und der militärischen und politischen Lage zu Beginn des Jahres 1945 waren für die Beurteilung der Ereignisse vom 13. und 14. Februar kaum relevant. Sie erschienen sinnlos – und gerade das war die Differenz etwa zu den Angriffen auf Hamburg oder Köln. Wo der Angriff sinnlos war, musste man sich auch nicht selbst für die Folgen des Krieges verantwortlich machen. In diesem Fall waren nur die Alliierten verantwortlich. Die Scham über das eigene Handeln spielte in Dresden keine Rolle. Man konnte Täter verantwortlich machen – von Winston Churchill über Arthur Harris bis zu den Besatzungsmitgliedern der Bomberverbände. Die Sinnlosigkeit des Krieges hatte man von einem deutschen zu einem alliierten Problem gemacht. Das erst ermöglichte die Inszenierung Dresdens als politisches Mahnmal für den Schrecken des Krieges.

Dresden steht für 60 Jahre Kultur der Unschuld

Diese Kultur der Unschuld ist in Dresden 60 Jahre lang kultiviert worden. Für diesen singulären Status der Stadt spricht auch eine andere Beobachtung. Nur in Dresden gibt es bis heute einen Streit über die historischen Fakten. Das betrifft die Zahl der Todesopfer wie die Legende der Tieffliegerangriffe nach dem Tagesangriff der Amerikaner vom 14. Februar. Obendrein soll Dresden ein mögliches Ziel der Atombombe gewesen sein. Diese symbolische Eskalation hat nur eine Funktion: Die eigene Unschuld mit der Niedertracht der Angreifer zu kontrastieren. Diese Dresdenlegende ermöglichte eine Oase der Unschuld in der politischen Wüste, die die Nazis im Übrigen in Deutschland hinterlassen hatten. Deswegen ist auch die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit den Trümmern der Frauenkirche nicht vergleichbar. Dabei starben etwa in den Straßenkämpfen mit der Roten Armee auch dort unschuldige Frauen und Kinder. Es gibt nur einen Unterschied: In Berlin hat sich kaum jemand für unschuldig gehalten, selbst wenn er ein überzeugter Nazigegner gewesen ist.

Jörg Friedrich hat mit seinem Buch diese Oase der Unschuld für ganz Deutschland proklamiert. Das war seine Innovation, die mittlerweile in unzähligen Büchern über das Schicksal deutscher Städte im Bombenkrieg ihren Ausdruck gefunden hat. (Vgl. dazu die fulminante Sammelrezension des Historikers Jörg Arnold in H-Soz-u-Kult, 28.04.2004, http:// hsozkulkt.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-062; Arnold beschreibt dort die Auswirkungen des Perspektivenwechsels auf die deutsche Erinnerungskultur.) Dresden und die anderen deutschen Städte waren demnach unschuldig dem Vernichtungswillen der Alliierten ausgeliefert. Friedrich bestreitet zwar nicht die Schuld Deutschlands und die Legitimation unserer Niederlage. Aber er bestreitet die Legitimation der eingesetzten Mittel. Auf diese Weise exkulpiert er die Deutschen mit Ausnahme der Nazis, die es bekanntlich nach der Kapitulation nicht mehr gegeben hat. Nach seiner Logik hätte man mit Bombenangriffen zwar Nazis, aber keine unschuldigen Deutschen treffen dürfen. Die Alliierten hätten auf den Bombenkrieg verzichten müssen. Die Legitimation des Krieges der Alliierten beruht bei Friedrich auf dieser Fiktion. Mit dem realen Krieg hat das nichts mehr zu tun. Genauso wenig wie die Dolchstoßlegende etwas mit der Realität des November 1918 zu tun hatte.

In diesem geschichtspolitischen Umfeld ist das Buch Dresden. Dienstag, 13. Februar 1945: Militärische Logik oder blanker Terror? des britischen Historikers Frederick Taylor erschienen. Taylors Buch bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung. Man kann über die Angriffe auf Dresden nicht schreiben, ohne dieses Spannungsverhältnis zu thematisieren. Taylor ist das bewusst gewesen – die Struktur des Buches ist ohne die Dresdenlegende nicht zu verstehen. Welchen Grund hätte er sonst für die eigentlich überflüssige Schilderung der Geschichte Dresdens im Wandel der Zeiten? Was soll die Schilderung der Zerstörung Dresdens durch Friedrich II von Preußen 1760? So hat sich etwa Magdeburg bis heute nicht von der Eroberung durch Johann Tserclaes Graf von Tilly 1631 erholt. Eine Tatsache, die für das Thema Bombenkrieg allerdings irrelevant ist.

Oasen der Unschuld gab es nicht

In Dresden scheint das anders zu sein. Die Rede von der Zerstörung des barocken “Elbflorenz” ist ein elementarer Bestandteil der gerne geglaubten Unschuldsvermutung. Die profane Rolle der Stadt als Rüstungsstandort und logistisches Drehkreuz im Krieg war mit diesem Selbstbild nicht vereinbar. Aus diesem Grund schildert Taylor in epischer Breite die Geschichte der Stadt bis 1945 – und ihre Verstrickung in den nationalsozialistischen Staat. Es gab in Deutschland keine Oasen der Unschuld. Das will Taylor deutlich machen.

Gleichwohl hält er sich mit Urteilen zurück. Stattdessen rekonstruiert Taylor die Fakten. Das Buch hat zwei Handlungsebenen: Die Gründe für den Angriff auf Seiten der Alliierten und die Wirkungen auf die Stadt. Weite Teile des Buches schildern den Untergang Dresdens. Er greift dafür unter anderem auf die verdienstvollen Arbeiten Dresdener Lokalhistoriker zurück. In der Hinsicht bringt das Buch weder neue Erkenntnisse, noch ist es besonders umstritten. Aber die Opferperspektive ist für Taylor nicht entscheidend. Der Kern der Dresdenlegende betrifft schließlich die vermeintliche Unschuld der Stadt – und davon kann nach der Lektüre des Buches nicht mehr die Rede sein.

Laut Taylor gibt es zwei entscheidende Gründe, die zu dem Angriffsbefehl geführt haben. Der eine liegt in der strategischen Situation im Winter 1944/45. Deutschlands Niederlage war zwar gewiss, aber niemand konnte im Februar 1945 wissen, wann der Krieg mit der Eroberung des Reiches zu Ende gehen würde. Weite Teile des Landes standen noch unter der Kontrolle Berlins, und das militärische Potential der Wehrmacht war keineswegs zerschlagen. Die bis heute zu hörende Vermutung, die Angriffe auf Dresden seien allein wegen des nahen Kriegsendes sinnlos gewesen, hat keine Grundlagen. In diesem Kontext entwickelt Taylor die taktisch-operativen Argumente für den Angriff. Zum einen sei er als Unterstützung für die Rote Armee gedacht gewesen. So die Vereinbarung in der Konferenz von Jalta.

Die Angriffe sollten die Handlungsfähigkeit des Feindes im Rückraum der Ostfront behindern und damit die schnelle Verlegung von Einheiten zu besonders kritischen Frontabschnitten verhindern. Die Widerstandsfähigkeit der Wehrmacht hing nicht zuletzt von dieser Fähigkeit zur schnellen Reaktion ab. Die kürzer werdende Front verschafft dem Verteidiger einen taktischen Vorteil. Dieser sollte der Wehrmacht mit der Zerstörung der Infrastruktur – Städte, Straßen, Bahnstrecken – genommen werden. Dresden war dabei nur ein Ziel in einer breit angelegten Kampagne auf mitteldeutsche Zentren. Die Wehrmacht sollte im Chaos zerstörter Städte und flüchtender Zivilisten stecken bleiben. Keine neue Erfahrung: Im Frankreichfeldzug 1940 war sie auch schon gemacht worden, wenn auch mit umgekehrter Rollenverteilung.

War Dresden ein legitimes Angriffsziel?

Darüber hinaus galt es, den Rüstungsstandort Dresden zu treffen. An diesem Punkt ist Taylors Argumentation wenig überzeugend. Der Angriff galt dem historischen Zentrum der Stadt. Dort gab es keine Rüstungsindustrie, und die ist durch die Angriffe auch kaum getroffen worden. In Dresden hatte die Rüstungsindustrie wohl nur eine begrenzte Bedeutung. Die Stadt war zwar nicht nur das kulturelle Kleinod der Dresdenlegende, aber deswegen noch kein strategisch wichtiges Rüstungszentrum. Taylors Argumente stehen hier auf schwachen Beinen. Dresden ist zweifellos ein legitimes Angriffsziel gewesen – aber das beantwortet noch nicht die Frage nach der Legitimität der eingesetzten Methode des Flächenbombardements, das seit 1942 zunehmend perfektioniert worden war.

Gutes Wetter und katastrophale Folgen

Im Dresdener Fall bestanden militärisch beispiellos günstige Bedingungen, die für die Stadt katastrophale Folgen hatten. So gab es gutes Wetter mit guten Sichtverhältnissen für die Bomberbesatzungen, das fast perfekte Zielgenauigkeit ermöglichte. Zudem war die deutsche Luftabwehr an diesem Tag nicht vorhanden. Dazu kam die fehlende Erfahrung der Stadt mit Luftangriffen. Darin lag einer der Gründe für das Ausmaß der Zerstörung und die beispiellose Höhe der Opferzahlen. Dresden war in dieser Hinsicht in Europa ein singuläres Ereignis: Es hat nirgendwo sonst vergleichbare Folgen bei nur drei Angriffen gegeben.

Kritiker haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, der Angriff hätte sich allein gegen die Zivilbevölkerung gerichtet, um mit der Tötung möglichst vieler Menschen die Moral der Bevölkerung und der politischen Führung zu brechen. Das moral bombing sollte die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches erzwingen. Eine Vorstellung, die zwar für den Krieg mit Japan eine Berechtigung hat, aber im Deutschland Hitlers auch heute noch phantastisch wirkt. Als Beleg für diese Strategie finden diese Kritiker – unter anderem Jörg Friedrich – in alliierten Akten die “Operation Donnerschlag” mit einer avisierten Zahl von 110.000 Toten zur Demoralisierung des Feindes. Zwar hielt Arthur Harris bis zum Kriegsende am moral bombing fest. Aber es spielte, wie Taylor am Beispiel Dresden zeigt, in der alltäglichen Einsatzplanung kaum noch eine Rolle. Zudem war das Konzept auch erfolglos gewesen: Niemand erwartete mehr die Kapitulation der Deutschen vor der vollständigen Eroberung des Reiches. Der strategische Bombenkrieg war in der Praxis zu einer effektiven Unterstützung der alliierten Bodentruppen geworden.

War vielleicht sogar das viel diskutierte moral bombing ab 1942 gar keine strategische Überzeugung gewesen, sondern eher die passende Doktrin zu einer, wie es schien, alternativlosen Praxis? Der Bombenkrieg blieb lange Zeit die einzige Möglichkeit der westlichen Alliierten zur direkten militärischen Konfrontation mit der Wehrmacht. Die Landungen in Afrika und Italien waren Nebenkriegsschauplätze von begrenzter Bedeutung. Der eigentliche Landkrieg begann erst mit der Operation Overlord Mitte 1944. Die deutschen Grenzen überschritt man in der Fläche erst im Jahr 1945. Amerikaner und Briten hatten zwar versucht, mit Präzisionsbombardements auf Schlüsselsektoren – etwa die Kugellagerfabrikation in Schweinfurt oder die Talsperren im Sauerland – das deutsche Rüstungspotential auszuschalten. Aber das hatte kaum messbaren Erfolg angesichts der Anpassungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft: Nach dem Krieg war (wie Werner Abelshauser schon 1983 feststellte) der Kapitalstock der deutschen Industrie trotz der Bombardements um 20 Prozent größer als im Vergleichsjahr 1936. Zudem wurden diese Angriffe zumeist mit hohen eigenen Verlusten erkauft.

Präzisionsschläge blieben noch Theorie

Nach diesen Erfahrungen hatte sich die Methode des Flächenbombardements endgültig durchgesetzt. Taylor nimmt nun seine eigenen Erkenntnisse nicht ernst. Tatsächlich kann er ziemlich schlüssig den Vorrang der strategischen und taktischen Überlegungen in der Zielplanung der Alliierten nachweisen – und den faktischen Abschied vom moral bombing. Aber an der Methode der Flächenbombardements hatte sich eben nichts verändert. Präzisionsschläge blieben im Zweiten Weltkrieg Theorie. Harris nannte sie mit guten Gründen ein untaugliches “Patentrezept”. Der strategische Luftkrieg war in Wirklichkeit in den letzten Monaten zum Abnutzungskrieg gegen die deutsche Infrastruktur geworden. Was ging schneller: die Zerstörung durch die Alliierten oder die Reparatur der Bombenschäden durch die Deutschen? Am Ende mussten die Deutschen diesen Wettlauf verlieren. Aber die Voraussetzung dafür war das wiederholte und scheinbar nutzlose Flächenbombardement. Das setzte auch die Eskalation der letzten Monate in Gang. Die alliierten Fähigkeiten stiegen im gleichen Maße, wie die der Deutschen abnahmen – mit der Folge einer zunehmenden Zahl zerstörter Städte.

An dieser Stelle wird Taylor inkonsequent: Die von ihm genannte Alternative zu den Flächenbombardements – die endgültige Ausschaltung der Kohlehydrierungsanlagen etwa – war keine. Die Alliierten hatten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr das Problem konkurrierender Zielplanungen. Sie zerstörten einfach beides. Dennoch war die Wehrmacht selbst in den letzten Tagen des Krieges nicht völlig handlungsunfähig geworden. So kostete die Eroberung Berlins Ende April die Rote Armee 300.000 Tote und Verwundete. Ein handlungsunfähiger Gegner sieht anders aus. Taylor sieht das Problem der Flächenbombardements und lässt aus diesem Grund die Frage nach der Legitimität der Angriffe offen.

Die geschichtspolitische Dynamik der Bomben

Die Methode der Flächenbombardements bedeutete den Tod hunderttausender Zivilisten: Alter Männer, Frauen und Kinder. Eine grausige Realität, die selbst einen Kriegshistoriker wie John Keegan zur Verzweiflung treibt. Er bestreitet daher in seinem nun erstmals auf Deutsch erschienenen Der Zweite Weltkrieg den Nutzen dieser Form der Kriegführung. Keegan geht sogar so weit, den Zusammenhang zwischen den Luftangriffen und der fortschreitender Besetzung Deutschlands durch die Landstreitkräfte zu bestreiten. Allerdings beschreibt er vorher ausführlich die weitgehende Zerstörung der deutschen Infrastruktur und die zunehmende Unfähigkeit der deutschen Wirtschaft zur schnellen Instandsetzung. John Keegan zufolge hat man “sich auf das Niveau des Feindes begeben” – eine Formulierung, die man schon in den fünfziger Jahren etwa bei Golo Mann lesen konnte. Freilich ist die englische Originalausgabe von Keegans Buch schon 1989 erschienen. Sein Fazit über den strategischen Bombenkrieg lautete damals: “Über seinen Verlauf und Ausgang breiteten auch diejenigen den Schleier des Vergessens, die ihn am konsequentesten betrieben haben.”

Das hat sich als Illusion erwiesen. Der Bombenkrieg ist zwar ferner denn je, aber er entwickelt eine geschichtspolitische Dynamik, wie sie Keegan 1989 nicht ahnen konnte. Frederick Taylor hat sich mit den Mitteln des Historikers um eine Klarstellung der Fakten bemüht. Er tritt mit Entschiedenheit der Dresdenlegende von der unschuldigen Stadt entgegen. Die Angriffe auf Dresden waren ein Ergebnis von Kriegshandlungen mit mörderischen Folgen für zehntausende Menschen. Aber sie waren kein Ausdruck für den Vernichtungswillen der Alliierten: Man wollte nicht Menschen töten, sondern den Krieg gewinnen. Darin liegt der Unterschied zwischen den Handlungen der Alliierten und denen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

Für das moralische Problem, “sich auf das Niveau des Feindes zu begeben”, gibt es aber keine Antwort. Wer – außer Heinrich Himmler – ist schon stolz über Siege auf dem Rücken toter Kinder? Der Krieg führte die Alliierten in die Barberei der Flächenbombardements. Sie konnten die Dynamik des totalen Krieges nicht stoppen. In der konkreten historischen Situation sahen die handelnden Akteure keine Alternative, und man kann nicht sechzig Jahre später den realen Krieg durch einen fiktiven ersetzen. Man kann allerdings die Gründe für den Angriff bewerten und daraus für die Zukunft Schlüsse ziehen.

Ob das etwas nutzt? Man kann seine Zweifel haben. Aber für uns Deutsche bleibt eine entscheidende Erkenntnis: Es gab gute Gründe für diesen Krieg. Dazu gehörten auch die Luftangriffe auf deutsche Städte wie Dresden. Der Angriff auf Dresden war keineswegs so völlig sinnlos, wie es die Legende behauptet. Es gab keine Oasen der Unschuld. Die Dresdenlegende ist nicht besser begründet als die Dolchstoßlegende in der Weimarer Republik. Diese diente zur Delegitimation der ersten Republik. Man hat gesehen, wohin diese Form der Geschichtspolitik führte – unter anderem in den Untergang Dresdens. Es gibt keinen Grund, sich das zum Vorbild zu nehmen. Sonst wird die Dresdenlegende zum Dolchstoß in den Rücken der Demokratie.

 

John Keegan, Der Zweite Weltkrieg, Berlin: Rowohlt Berlin 2004 (engl. Original 1989), 896 Seiten, 34,90 Euro

Frederick Taylor, Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945: Militärische Logik oder blanker Terror? München: C. Bertelsmann Verlag 2004, 544 Seiten, 26 Euro

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