Ernstfall Opposition

Mit seinem Diktum, Opposition sei Mist, hat Franz Müntefering seiner Partei ein ziemlich ambivalentes Erbe hinterlassen.

Mit seinem Diktum, Opposition sei Mist, hat Franz Müntefering seiner Partei ein ziemlich ambivalentes Erbe hinterlassen. „Das hat er 2004 gesagt“, erklärt dazu der Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Zeh in diesem Heft. „Müntefering wollte der Sehnsucht seiner Partei nach Opposition entgegenwirken.“ Und man kann nicht einmal sagen, Münteferings Appell wäre völlig wirkungslos geblieben. Beträchtlichen Teilen der deutschen Sozialdemokratie steht heute klarer als früher vor Augen, dass es in der Politik letztlich darauf ankommt zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen – kurzum: zu regieren, selbst wenn einem dies notwendigerweise immer schwierige Abwägungen, viel Händeringen und unbequeme Kompromisse abverlangt.

Doch jetzt ist der Ernstfall Opposition nun einmal eingetreten, und gerade aus Prinzip mit dem Regieren versöhnte Sozialdemokraten täten überhaupt nicht gut daran, weiterhin im Geiste von Münteferings Mantra durch die Welt zu laufen. Denn genau hier liegt ja dessen Ambivalenz verborgen: Je weniger gut in die Opposition Geratene mit ihrer neuen Daseinsform zurechtkommen, desto länger dürfte der verhasste Zustand schließlich währen. Nur die nicht als leidvolle Zumutung empfundene Oppositionszeit wird in überschaubarer Frist wieder vorübergehen. Insofern gilt die Bauernweisheit: „Mist ist Mist, solange er kein Dünger ist.“

Und tatsächlich bietet die Oppositionsrolle ja die Gelegenheit, endlich einmal wieder ein paar Dinge zu tun, die man auch früher schon hätte tun sollen, zu denen man aber angesichts der Last des fortwährenden Regierenmüssens einfach nicht mehr gekommen war: Probleme grundsätzlich und von den eigenen first principles her zu durchdenken; zunächst Ziele zu formulieren und danach erst nach – möglichst intelligenten – Mitteln zu deren Verwirklichung zu suchen; mehr Zeit zu haben für neue Ideen und Ideengeber, deren Zeit gekommen ist; die Wirklichkeit unverklärt in den Blick nehmen und auch unfertige Konzepte in Ruhe zu Ende denken zu können – das alles macht die oppositionelle Existenz nicht nur erträglich, sondern bei Licht besehen geradezu attraktiv. Zum einen als Wert an sich, zum anderen – und vor allem – als Voraussetzung dafür, in absehbarer Zukunft wieder einmal mit dem Regierungshandeln beauftragt zu werden.

Dass nichts von selbst kommt, traf bei alledem wohl noch niemals so brutal zu wie gerade jetzt. Mit ihren 23 Prozent ist die SPD schlicht keine „Volkspartei“ im landläufigen Sinne mehr, und irgendein Rechtsanspruch darauf, diesen Status demnächst wiederzuerlangen, lässt sich nirgendwo einklagen. Die Vorstellung, dass es für die Sozialdemokratie nach dem 27. September „nur noch besser“ werden könne, entspringt der Annahme eines notwendigerweise zyklischen Politikverlaufs, deren Prämissen obsolet sind. Auch zur gründlichen Reflexion dieser Einsicht haben Sozialdemokraten nun genug Zeit. Sie sollten die Möglichkeit weiteren Niedergangs schonungslos in Betracht ziehen. Und dann umso entschlossener anfangen, den oppositionellen Dünger auszubringen.

TOBIAS DÜRR    

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