Erklär mir die Finanzkrise!

Ein Crash mit Anlauf: Wie eine falsche Wirtschaftsideologie die gesamte Marktwirtschaft ins Desaster stürzte.

„Ein Crash mit Anlauf!“ habe ich diesen Essay genannt. „Wie eine falsche Wirtschaftsideologie die Marktwirtschaft ins Desaster stürzte.“ Da kann man natürlich die Frage stellen: Wieso Wirtschaftsideologie? Hat Ideologie nicht etwas mit Worten allein zu tun? Mit Gedanken, die sich Menschen machen, mit Phantasien, die sich irgendwelche weltfremden Ideologen ausdenken? Und wie sollen diese Ideologien einen derartigen Einfluss auf die Wirtschaft haben? In der Philosophie, könnte man anmerken, sei das naheliegend, schließlich geht es in dieser primär um Begriffe und Konzepte – aber in der Wirtschaft? Nirgendwo geht es doch so sehr um harte Fakten und Zahlenkolonnen, um Euros und Dollars, also ums kalte Kalkulieren und ums Geld.

In der Wirtschaft sind doch meistens sehr pragmatisch gesinnte Menschen am Werk, überwiegend Männer übrigens, die sich als Männer der Tat ansehen. Unternehmer etwa, die von sich die Vorstellung hegen, sie seien doch eigentlich total unideologisch. Wer ein Geschäft aufmacht, um etwa, sagen wir, den Menschen Haarshampoo anzudrehen, der interessiert sich doch nicht für Ideologie, oft hat er sogar so etwas wie leise Verachtung für die Buchstabenhengste in den Studierstuben. Der interessiert sich dafür, dass er billig zukauft, billig produziert, und einen möglichst hohen Preis beim Kunden herausschlägt, damit er, nachdem er seine Lieferanten bezahlt, der Bank die Kreditzinsen überwiesen und seinen Angestellten ihr Gehalt bezahlt hat, noch einen ausreichenden Profit für sich behält.

Aber schon John Maynard Keynes, der wohl bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, hat auf den letzten Zeilen seines Buches Die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes folgendes geschrieben: „Die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen sind viel mächtiger, als man üblicherweise annimmt. Im Grunde wird die Welt kaum von etwas anderem regiert. Praktische Männer der Tat, die von sich glauben, dass sie frei von allen intellektuellen Einflüssen sind, sind sehr oft die Sklaven irgendeines lange verstorbenen Ökonomen.“

Ideen haben also ihre Wirksamkeit, und das auf verschiedenen Wegen. Natürlich ist es nie so, dass sich irgendjemand die Welt in seinem stillen Kämmerlein ausdenken kann, und dann wird die Welt nach seinen Ideen gebastelt. Aber Ideen haben auf andere Weise Einfluss.

Es funktioniert ganz gut, aber es könnte besser funktionieren

Nehmen wir nur „die Wirtschaft“. Die funktioniert zu einem bestimmen Zeitpunkt auf eine gewisse Weise, und unterstellen wir einmal, sie tut das völlig unabhängig davon, welche Theorien Ökonomen darüber aufstellen. Diese Vereinfachung sei hier gestattet. In dieser Wirtschaft gibt es Ungleichheit. Es gibt Arbeitslosigkeit. Es gibt Wirtschaftswachstum. Es gibt Innovation. Also, es funktioniert ganz gut, aber es könnte besser funktionieren.

Und jetzt stellen wir uns einen Ökonomen A vor, der zu beweisen versucht, dass diese Wirtschaft deshalb nicht ganz so optimal funktioniert, weil sie zu sehr vom Staat dominiert wird, weshalb die Marktkräfte nicht optimal wirken können. Und dann stellen wir uns einen anderen Ökonomen B vor, der im Gegenteil behauptet, dass diese Wirtschaft nicht so gut funktioniert, weil die Marktkräfte zu sehr wirken. Weil Märkte zwar ihre guten Seiten haben, aber auch Probleme produzieren. Stellen wir uns also vor, die Ideen des Ökonomen A setzen sich durch. Aber was bedeutet das denn eigentlich, dass sich Ideen „durchsetzen“? Wie funktioniert das?

Möglicherweise auf folgende Art: Der Ökonom A gewinnt Einfluss, beispielsweise auf andere Ökonomen, mit denen er so etwas wie eine akademische Schule gründet oder vielleicht nur einen loseren Zusammenhang von Ähnlichdenkenden. Sie gründen einen Think Tank, mit dessen Hilfe sie ihren Einfluss ausbauen, oder sie gewinnen die Unterstützung bereits existierender Think Tanks. Dann erhalten sie Unterstützung von Lobbys, die meinen, die Ideen des Ökonomen A würden ihren Interessen entgegenkommen. Sie ziehen womöglich einflussreiche Medien auf ihre Seite, die diese Ideen unter die Leute bringen. Sie wirken letztendlich auch auf Parteien ein, deren programmatische Ideen mit den Ideen des Ökonomen im Einklang stehen, oder auf Parteien, die gerade gar keine Ideen haben und dankbar für Konzepte sind, und nach und nach werden die Ideen des Ökonomen Einfluss auf die Gesetzgebung finden. Dann werden womöglich in einem allmählichen Prozess institutionelle Veränderungen durchgeführt, die weniger staatliche Regulation vorsehen und mehr freies Spiel der Märkte. Auf diese Weise haben Ideen, auf diese Weise haben Ideologien Auswirkungen auf den realen Lauf der Welt, auf die Fakten. Selbst in der Welt der Ökonomie.

Was haben uns die wirtschaftsliberalen Ökonomen gesagt? Dass Märkte effizient funktionieren und dass ökonomische Ergebnisse umso besser sind, je mehr man den Märkten anvertraut. Das ist das grundlegende Axiom dieser Ökonomie. Auf Märkten folgen alle Menschen ihrem egoistischen Eigeninteresse, aber im Zusammenspiel werden sie das allerbeste herausbringen, lautet diese These. Das ist eigentlich nicht nur eine ökonomische Lehre, sondern sogar eine Art Morallehre: dass viele Menschen, die alle nur auf der Mikroebene ihren egoistischen Eigennutz verfolgen – also etwas tun, was moralisch eigentlich verwerflich ist –, etwas moralisch Erstrebenswertes schaffen, nämlich Prosperität, den optimal möglichen Wohlstandszuwachs, das ist ja im Kern eine Morallehre. Wenn ich Gutes bewirken will, muss ich mich nicht gut verhalten, im Gegenteil, je fieser ich mich verhalte, umso mehr Gutes tue ich.

Märkte funktionieren effizient, sagt uns diese Ökonomie, und sie tendieren zum Gleichgewicht. Diese Ökonomie ist insofern auch eine versöhnliche Wissenschaft. Es gibt vielleicht „Ungleichgewicht“ – aber die Marktkräfte führen dann automatisch zum „Gleichgewicht“. Was assoziieren wir da denn spontan? Gleichgewicht, da ist alles schön im Lot, da fühlt man sich gut, besser jedenfalls als wenn man auf einem Bein schief dasteht und droht, umzukippen. Es geht hier auch immer um die Begriffe, mit denen diese Ökonomie operiert, um scheinbar neutrale Begriffe, die in Wirklichkeit aber Begriffe mit ideologischer Schlagseite sind.

Doch diese Ökonomie liegt gar nicht so falsch. Bestimmte Märkte tendieren tatsächlich zu einem Gleichgewicht. Stellen wir uns den Schuhmarkt und den Markt für Hosen vor. Solche Märkte funktionieren tatsächlich so „effizient“, wie uns das diese neoklassische Ökonomie erklärt. Ein Schuhfabrikant produziert Schuhe und ein Schuhladen hat sie in seinem Geschäft. Nebenan ist ein anderer Schuhladen, mit anderen Schuhen. Und jetzt stellen wir uns vor, die Konsumenten gehen an diesem ersten Schuhladen vorbei, gucken rein, probieren ein paar Modelle, aber gehen dann weiter und kaufen sich die Schuhe bei der Konkurrenz. Da hat dann, wenn das lange genug geschieht, der Ladenbesitzer Eins ein paar Informationen. Hauptinformation: Keiner will seine Treter. Sie sind möglicherweise zu teuer. Oder auch zu hässlich. Er weiß, er muss mit dem Preis herunter oder hübscheres Schuhwerk produzieren. Oder er wird die Produktion drosseln. Oder alles von den dreien.

Möglicherweise werden auch generell weniger Schuhe nachgefragt. Dann haben alle beide eine Information: Dass offenbar nicht so viele Schuhe gebraucht werden. Sie werden insgesamt die Schuhproduktion drosseln. Und Schuhproduktion hat ja auch ihre Kosten. Nicht nur Kosten in Form von Geld, sondern auch Arbeitskräfte, Kapital und Rohstoffe werden verbraucht. Das sind alles knappe Ressourcen. Der Markt wird dann zu einem neuen Gleichgewicht tendieren: Weniger Schuhe, mehr Hosen. Der Markt hat effizient funktioniert.

Funktioniert die gesamte Ökonomie wie ein Kartoffelmarkt?

Das ist jetzt ein sehr simples Modell, aber es stecken erstens schon sehr viele der Begriffe in diesem Modell, die für marktfreundliche Ökonomen eine wichtige Rolle spielen, und zweitens ist es tatsächlich so, dass viele Gütermärkte so funktionieren. Die Begriffe, die hier schon eine Rolle spielen, und die in der Ökonomie zentral sind, lauten: Nachfrage. Angebot. Effiziente Allokation von Ressourcen. Von Kapital, von Rohstoffen, von Arbeitskräften. Information. Transparenz und informierte Marktteilnehmer.

Das sind alles wichtige Begriffe in der Ökonomie. Buchstabieren wir sie ein wenig durch. Unser Beispiel funktioniert ja nur, wenn wir Konsumenten haben, die vollständig informiert sind; Konsumenten, die wissen, wo es Schuhgeschäfte gibt, die die Modelle vergleichen können, die die Preise vergleichen können, und die dann die für ihre Präferenzen beste Wahl treffen. Auf „perfekten Märkten“, sagen die Ökonomen, herrscht vollständige und symmetrische Information. Symmetrische Information heißt: Die Kunden haben alle nötigen Informationen. Die Verkäufer haben alle nötigen Informationen. Die Kunden wissen, was Schuhe kosten. Der Ladenbesitzer weiß, dass der Schuhverkäufer nebenan mehr verkauft. Ausreichend Information, um den Schuhmarkt ins Gleichgewicht zu bringen. Oder den Hosenmarkt. Oder den Kartoffelmarkt.

Das Problem ist also nicht, dass unsere marktfundamentalistischen Ökonomen sich hier „perfekte Märkte“ mit „vollständiger symmetrischer Information“ konstruieren – wobei auch das schon fragwürdig ist, weil „Perfektion“ schon so seine Sache ist. Das Problem ist, dass sie alle Märkte wie Kartoffelmärkte behandeln und dass sie glauben, dass eine ganze Gesellschaft und Volkswirtschaft wie ein Kartoffelmarkt zu organisieren ist. Aber es gibt eine ganze Reihe von Märkten, die eigentlich gar nicht wie „Märkte“ funktionieren, die man aber dennoch als „Märkte“ bezeichnet, was eine Art von Irreführung ist. Und in der Kreislaufökonomie einer ganzen Volkswirtschaft können gerade dann Störungen eintreten, wenn man sie zu stark an dem Marktmodell orientiert.

Etwa der „Arbeitsmarkt“. Der ist, wie die Ökonomen sagen würden, ein extrem „unelastischer“ Markt. Denn was passiert auf Märkten, wenn es ein Überangebot an einer Ware gibt? Sie verschwindet vom Markt und wird durch eine andere ersetzt, oder ihr Preis sinkt, oder das Angebot wird reduziert, bis es im Gleichgewicht mit der Nachfrage ist.

Das ist natürlich am Arbeitsmarkt nicht so leicht möglich. Das Angebot ist sehr schwer zu reduzieren, wenn es ein Überangebot, also Arbeitslosigkeit gibt: Massenselbstmord wäre natürlich eine Option, aber keine gute, da Menschen ja unvernünftigerweise an ihrem Leben hängen. Auch die Produktion einer besseren, hübscheren Ware ist für Arbeitsanbieter auf Arbeitsmärkten nicht so einfach: Klar, sie können ein paar Schulungen besuchen, aber ein Schriftsetzer ist eben schwerer in einen IT-Spezialisten zu verwandeln als ein iPhone 4 in ein iPhone 5. Außerdem haben Menschen Gefühle, ein entscheidender Nachteil, verglichen mit Kartoffeln oder iPhones. Ein solcher Markt ist auch das Gesundheitswesen. Weitere Märkte, die keineswegs wie ein Markt funktionieren, sind der Kapitalmarkt und auch, bis zu einem gewissen Grad wenigstens, der Markt für Immobilien, jedenfalls sofern man ihn als Markt nicht alleine für Wohnraum, sondern für langlebige Vermögensanlagen betrachtet. Auch hier funktioniert manches anders, als auf den oben beschriebenen Märkten. Aber dazu später.

Zuvor möchte ich noch ein paar Bemerkungen dazu machen, warum man eine ganze Volkswirtschaft nicht wie einen Kartoffelmarkt organisieren kann. Wir leben in einer komplexen Ökonomie, in der Unternehmer Waren produzieren und investieren, in der Bürger Einkommen einnehmen und diese für Konsum ausgeben oder sparen, in der Wirtschaftssubjekte sparen oder Geld als Kredit aufnehmen und in der gleichzeitig die Waren, die pro Periode produziert werden, durch die Einkommen, die pro Periode eingenommen werden, konsumiert werden sollen. Und wenn wir jetzt einmal den Staat weglassen, dann ist das doch so: Es gibt in dieser Ökonomie Einnahmen und es gibt Ausgaben. Das große Problem einer solchen Ökonomie ist zunächst die Unsicherheit.

Da die Wirtschaft allerdings in den meisten Zeiten expandiert, gibt es ein über weite Phasen durchaus optimistisches Wirtschaftsklima. Unternehmen investieren, weil sie sich denken, das wird schon. Wenn sich aber das Wirtschaftsklima verdunkelt, dann werden sie zunächst einmal ihre Investitionen zurückfahren.

Die Ausgaben von Unternehmen für Investitionen sind jedoch zugleich die Einnahmen anderer Unternehmen – derjenigen, die Investitionsgüter produzieren –, und damit auch die Einnahmen der dort Beschäftigten. Da die Beschäftigten dann ihrerseits Güter kaufen, oder eben nicht mehr kaufen, wenn sie weniger Geld in der Tasche haben, werden auch in den anderen Branchen die Einnahmen einbrechen und die gesamte Wirtschaft trudelt in eine Flaute.

Nicht nur in der Krise ist die ausfallende Konsumnachfrage normaler Konsumenten ein Problem. Sie kann auch in Zeiten eines gemächlichen Wachstums ein Problem sein. Und zwar, wenn Ungleichheit herrscht oder zunimmt.

Die ökonomischen Auswirkungen der Ungleichheit

Denn Ungleichheit hat auch ihre ökonomischen Auswirkungen. Und ich würde sagen, vor allem negative. Andere würden vielleicht sagen, es gibt positive Auswirkungen. Welche positiven Auswirkungen wären denn denkbar? Wenn die Ungleichheiten wachsen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass es sich richtig auszahlt, wenn man sich anstrengt. Dann werden sich mehr Leute anstrengen, und die Wirtschaft wird brummen. Das sagen jene, die positive Auswirkungen ausmachen. Aber letztendlich ist es nicht mehr als eine Behauptung. Man kann eigentlich keinerlei empirische Befunde dafür finden. Denn wäre es so, müsste ja die Wirtschaft wachsen, wenn die Ungleichheit zunimmt. Aber praktisch immer wächst sie langsamer, wenn die Ungleichheiten zunehmen.

Welche gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen hat es also, wenn die Ungleichheit zunimmt? Die Konsumnachfrage bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. Weil Leute, die nur mittelmäßig oder wenig verdienen, ihr Einkommen praktisch vollständig ausgeben. Ihre Einkommen fließen also in den Wirtschaftskreislauf zurück. Wenn aber ein beträchtlicher und wachsender Teil des Gesamteinkommens einer Volkswirtschaft zu jenen fließt, die ohnehin mehr Geld einnehmen, als sie brauchen, dann werden sie nur einen kleinen Teil mehr konsumieren und einen größeren Teil sparen. Denn der dritte oder vierte Porsche macht einfach nicht mehr gar so viel Spaß.

Wenn die Ungleichheit steigt, steigen die Vermögensanlagen, weil die Reichen eine höhere Sparrate haben. „Sparen“ ist natürlich ein unpräziser Begriff. Sparen kann man auf verschiedene Weise. Man kann sein Geld auf das Sparbuch legen, man kann Wertpapiere kaufen, etwa Staatsanleihen oder man kann Aktien kaufen oder noch spekulativere Anlagen, oder auch in Immobilien investieren. Manches dieses „gesparten“ Geldes fließt dann natürlich auch wieder in die Wirtschaft zurück – wer in Immobilien investiert, der sorgt natürlich auch dafür, dass der Baumeister oder der Installateur Einnahmen hat, und wenn er sein Geld auf die Bank legt, steht es Unternehmern als Kredit zur Verfügung – theoretisch steht mehr Kredit für Investitionen zur Verfügung, wenn mehr an Finanzvermögen da ist. Aber nur sehr theoretisch: Denn erinnern wir uns, wir haben ja eine schwache Konsumnachfrage, weil wegen der Ungleichheit mehr Einkommen in Finanzanlagen fließt. Natürlich werden manche Unternehmen investieren, aber sie werden alle zusammen weniger investieren, als sie es täten, wenn das Konsumklima heiterer wäre. Deshalb ist es keineswegs ein Vorteil, wenn man die Einkommensverteilung vollständig den „Märkten“ überlässt. Was man hier gerne Marktkräfte nennt, ist im Grunde nur das Recht des Stärkeren.

All das zeigt schon, dass diese Marktideologie Ideologie ist – etwas, das in einem bestimmten Bereich funktioniert, wird auf Sphären übertragen, wo es nicht funktioniert oder funktionieren kann. Wirklich fatale Auswirkung hat all das aber, wenn man es auf die Finanz- und Kapitalmärkte überträgt. Erinnern wir uns noch einmal an eines der Basispostulate der Effizienz-Markt-Theorie: Kapital wird dann optimal eingesetzt, wenn es sich auf möglichst freien Märkten seine Investitionsmöglichkeiten suchen kann. Aber gerade die Kapitalmärkte sind höchst irrationale Märkte. Einmal strömen Milliarden in bestimmte Anlageformen, seien es Unternehmensanteile in den gerade angesagten „Emerging Markets“, seien es Immobilienzertifikate, wenn der Häusermarkt boomt, dann wieder in Staatsanleihen, oder in komplizierte spekulative Titel.

Geldanlage lohnt aber nur, wenn ihr „Wert“ am Markt steigt. Der „Wert“ am Markt steigt aber dann, wenn morgen genügend Leute bereit sind, das Wertpapier zu einem höheren Preis zu erstehen, als ich es heute erworben habe. Also: Wenn möglichst viele Leute glauben, dass es weiter an Wert gewinnen wird. Deshalb sind die Kapitalmärkte so empfänglich für Herdentrieb, überspannte Euphorie, aber auch für Hysterie und Panik. Wenn viele zur gleichen Zeit das Gleiche kaufen, steigt das, was sie kaufen, im Wert; wenn es dagegen im Wert sinkt und alle in Panik versuchen, ihr Wertpapier loszukriegen, fällt es ins Bodenlose.

Normale Märkte reagieren „antizyklisch“, Kapitalmärkte reagieren „prozyklisch“, so die Ökonomen. Was nichts anderes heißt als: Wenn auf normalen Märkten der Preis eines Gutes steigt, wird die Nachfrage sinken. Steigt der Preis einer Kapitalanlage, wird aber die Nachfrage zunehmen. Umgekehrt gilt: Wenn der Preis einer Kapitalanlage sinkt, werden mehr und mehr Leute versuchen, die Kapitalanlage los zu werden, so dass ihr Preis noch weiter sinkt. Wieso aber soll das, kann man jetzt fragen, Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben?

Jemand, der 200.000 Euro an Vermögen besitzt und jährlich auch noch 50.000 Euro Einkommen hat, der wird von diesem Einkommen vielleicht alles konsumieren – er muss ja nicht mehr sparen, er ist ja eh schon reich. Wenn sein Vermögen plötzlich auf einen Bruchteil zusammenschrumpft, wird er wahrscheinlich seine Konsumausgaben reduzieren und seine Sparrate erhöhen. Wenn das viele Leute gleichzeitig tun, ist das ein empfindlicher Nachfrageeinbruch.

Und diese „reichen Leute“ sind ja nicht immer reich. Sie haben vielleicht ein Vermögen von 200.000 Euro und Schulden von 150.000 Euro und sonst ein kleines Einkommen – so wie Sie oder ich. Und dieses Vermögen von 200.000 Euro ist das Haus, in dem dieser Mensch wohnt. Er fühlt sich reich, weil sein Haus im Wert gestiegen ist, er hat einen Kredit laufen, den er abstottert und der mit dem Haus besichert ist. Wenn das Haus jetzt im Wert sinkt, ist er ein Hausbesitzer mit kleinem Einkommen, sein Haus ist 70.000 Euro wert, aber er hat Schulden von 150.000 Euro. Aus unserem reichen Mann ist über Nacht ein überschuldeter Mann geworden.

Da sich wegen dieser vielen Rückkopplungen von Finanzmarktentwicklungen auf die Realwirtschaft die wirtschaftlichen Aussichten verdüstern, werden die Unternehmen nicht mehr investieren. Einkommen gehen zurück. Die ersten Arbeiter werden entlassen. Dann die nächsten. Möglicherweise ist auch unser Hausbesitzer darunter, der gestern noch ein scheinbar reicher Mann war – und heute ist er überschuldet, mit niedrigem Einkommen, von dem er seinen Kredit zurückzahlt. Jetzt wird er noch arbeitslos. Und das mit den Ratenzahlungen funktioniert nicht mehr.

Rückkopplungsschleifen und Abwärtsspiralen

Möglicherweise ist er weitblickend – weiß, dass er seine Kredite bald nicht mehr bedienen kann, und denkt sich: „Ich verkauf’ das Haus.“ Er wird in dieser Phase feststellen: Er ist nicht der Einzige. Viele tausend Leute sind in der gleichen Situation, und viele tausend Häuser stehen zum Verkauf. Es gibt viel mehr Angebote als Leute, die Häuser kaufen wollen. Unser Mann wird sein Haus nicht loskriegen, möglicherweise. Und wenn er es loskriegt, dann nur zu einem sehr niedrigen Preis. Denn weil viele Leute gleichzeitig verkaufen wollen, weil sie das müssen, gehen die Häuserpreise noch mehr in den Keller. Hinzu kommt: Wenn kaum mehr jemand existierende Häuser kauft, wird natürlich schon überhaupt niemand mehr auf die Idee kommen, neue Häuser zu bauen. Baufirmen haben kein Einkommen mehr, Installateure nicht mehr und so weiter.

Und so wie mit den Häusern funktioniert das natürlich auch auf allen anderen Märkten für Wertanlagen – denn ein Haus, das hat zwar auch einen Nutzwert, der bleibt ja unberührt, sofern es nicht verfällt, aber es hat auch eine Funktion als Wertanlage, und um die geht es hier. Wenn die Finanzmärkte einbrechen, setzen genau solche Rückkopplungsschleifen ein, die eine Abwärtsspirale in Gang setzen.

Im Finanzwesen kommt noch etwas hinzu, was wir am Beispiel unseres Hausbesitzers schon angedeutet, aber noch nicht ausreichend deutlich ausgeführt haben: Vermögen stehen ja meist auch Verbindlichkeiten gegenüber. Wenn Banken oder andere Finanzmarktakteure fette Vermögenswerte in ihren Büchern haben, dann können sie auch mehr Kredite vergeben, selber investieren. Auf der einen Seite sind Vermögen, auf der anderen sind Verbindlichkeiten und Zahlungsverpflichtungen. Stellen wir uns aber jetzt vor, die Einnahmen der Banken gehen zurück, und es geht übrigens auch ihr Buchvermögen zurück, denn die Papiere, die sie als Aktiva in ihren Büchern haben, verlieren ja an Wert.

Was bedeutet das jetzt? Die Bank hat weniger Vermögen. Und ihr Einkommen geht zurück. Ihre Verbindlichkeiten bleiben aber. Und irgendwann wollen ihr auch andere Banken kein neues Geld mehr leihen. Zumal es ja in einer solchen Situation allen Banken schlecht geht. Was passiert dann aber? Die Bank wird versuchen, Vermögen zu verkaufen – also Wertpapiere. Das heißt: Wertpapiere, die ohnehin schon im Wert gefallen sind, werden auf den Markt geworfen. In einer Situation, wo alle ökonomische Probleme haben, also alle diese Wertpapiere auf den Markt werfen. Was passiert dann? Nun, sie verfallen selbstverständlich noch mehr im Wert. Das Buchvermögen der einzelnen Finanzmarktakteure wird noch geringer. Dann muss noch mehr auf den Markt geworfen werden – und so weiter. Wenn man einmal so weit ist, dann ist das die berühmte Kernschmelze an den Märkten.

Doch Moment, haben wir nicht gehört, dass Märkte zu einem Gleichgewicht tendieren? Wenn Zuviel von etwas angeboten wird, dann sinkt der Preis, und wenn es Knappheit gibt, dann steigt der Preis. Und umgekehrt: Wenn der Preis steigt, sinkt die Nachfrage. Auf Finanzmärkten ist das aber umgekehrt: Wenn der Preis steigt, steigt auch die Nachfrage. Wenn der Preis eines Finanzprodukts steigt, wollen es immer mehr Leute haben, so dass der Preis immer mehr steigt. Es ist, wie wenn auf dem Kartoffelmarkt der Bauer schreien würde: „Meine Kartoffeln sind die teuersten!“, und ihm deshalb die Leute die Knollen aus der Hand reißen. Und noch etwas: Es ist ja nicht nur der Trend zum Teuersten, sondern das Umsatzvolumen als ganzes steigt im Boom. Wenn die Vermögenswerte in den Büchern wachsen, können die Banken mehr „Geld“ produzieren. Sie können mehr Kredite vergeben, noch mehr Wertpapiere emittieren, und so weiter. Das heißt, im Boom erweitert sich der ganze Markt. Geld kann unbegrenzt geschaffen werden. Und Geld etabliert mehr Geld.

Aber bleiben wir bei diesen sich verstärkenden Rückkopplungsschleifen. Das ist ja genau das Gegenteil von normalen Märkten: Auf normalen Märkten wirkt die Gleichgewichtstendenz ja vor allem deshalb, weil mit knappen Gütern operiert wird. Geld ist aber in diesem Sinn kein knappes Gut. Im Boom ist es auf den Finanzmärkten in schier unbegrenzter Menge verfügbar. Und wenn der Boom dann zu Ende geht, dann reicht schon eine kleine Abwärtsbewegung, um eine fatale Abwärtsspirale in Gang zusetzen.

Beachten Sie: In den Exempeln, die ich aufgeführt habe, hat noch nicht einmal irgendwer irgendjemanden betrogen. Es hat auch niemand übertrieben hasardiert und hochriskant spekuliert. Jetzt stellen Sie sich vor, wenn da auch noch Betrug, Übervorteilung und Hasard dazu kommt, wie es im Finanzsystem endemisch ist, und wie es vor allem im Boom endemisch wird – weil sich die gerissensten Akteure denken: „Es gibt so viel Geld zu gewinnen mit ein bisschen Risiko, das geh ich ein.“ Und wenn es einmal funktioniert, dann lecken sie Blut. Dann endet das in einem totalen Fiasko.

Aber dieser Hang zu übertriebenem Risiko und der Betrug sind nur das Sahnehäubchen. Denn alleine aufgrund der Tendenzen zur Selbstverstärkung auf ungeregelten oder zu wenig regulierten Finanzmärkten besteht auch so bereits die stetige Gefahr, dass im Finanzsystem über Nacht praktisch alle Akteure schwer überschuldet sind und wie verrückt versuchen, Verbindlichkeiten abzubauen. Wenn das alle gleichzeitig machen, und das müssen dann alle gleichzeitig machen, dann kann das natürlich nicht funktionieren. Und dann können alle Banken oder die meisten kollabieren. Nun ist es mit den Banken freilich so, dass wir sie zum Funktionieren eines Wirtschaftssystems brauchen. Und deshalb muss man sie in einer solchen Situation retten. Das ist einerseits unumgänglich – andererseits wissen das die Banken auch. „Wir werden schon gerettet“: So werden sie beim nächsten Mal womöglich noch mehr Risiko eingehen.

Indem man uns gesagt hat, dass alle Märkte „perfekte Märkte“ sind, wenn man sie nur in Ruhe ließe, hat man das gesellschaftliche und politische Klima für Deregulierung in allen Sphären der Ökonomie geschaffen. In der politischen Debatte gibt es diese gewohnte Zweiteilung: Die Linken sind eher skeptisch, was Märkte betrifft. Und die Konservativen und Wirtschaftsliberalen sind sehr für die Märkte. Aber vielleicht ist das eine absurde Dichotomie. Märkte sind dort gut, wo sie nützliche Resultate zeitigen. Marktkräfte auf Gütermärkten haben nützliche Resultate. Auf anderen Märkten haben sie fragwürdige Resultate. Und auf wieder anderen Märkten, vor allem den Finanzmärkten, haben sie katastrophale Resultate.

So also hat eine fatale Wirtschaftsideologie die Marktwirtschaft in ein Fiasko gestürzt.

Dieser Text ist ein Auszug aus Robert Misiks Buch „Erklär mir die Finanzkrise!: Wie wir da rein-gerieten und wie wir wieder rauskommen“, das im März im Picus Verlag erschienen ist. Es hat 144 Seiten und kostet 14,90 Euro.

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