Entgrenzung und Abschottung

Die Sozialdemokratie sollte die Verun-sicherung der "kleinen" Leute in entgrenzten Zeiten ernst nehmen. Dazu muss sie sich auch dem Themenkomplex der Organisierten Kriminalität stellen

Am 9. Februar entschieden sich die Schweizer mit knapper Mehrheit dafür, der weiteren Zuwanderung in ihr Land aus den EU-Staaten einen Riegel vorzuschieben. Wohlfeile Empörung war ihnen gewiss. „Die spinnen, die Schweizer! Geistige Abschottung kann leicht zur Verblödung führen“, lautete etwa die Sofortanalyse eines stellvertretenden Vorsitzenden der SPD. Und es stimmt ja: Abschottung macht in der Tat nicht schlauer. Trotzdem springt dieser Sozialdemokrat auf beklemmende Weise zu kurz. Offensichtlich nicht einen Augenblick beschäftigt ihn, was eigentlich heute bei Bürgern offener Gesellschaften solch einen Wunsch nach „Abschottung“ hervorbringt. Sollte auch anderen führenden Vertretern sozialdemokratischer Parteien in Europa angesichts von Symptomen wie der Schweizer „Masseneinwanderungsinitiative“ nichts Besseres einfallen als höhnische Volksbeschimpfung, wird es um die Sozialdemokratie als Partei ganz normaler „kleiner“ Leute bald geschehen sein.

Warum das so ist, das machte am Tag des Schweizer Referendums ein anderer deutscher Sozialdemokrat deutlich. In einem nachlesenswerten Interview für den Deutschlandfunk steckte Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes, präzise die Landkarte der Bedrohungen ab, denen unsere Gesellschaft heute ausgesetzt ist. Unter anderem sagte Ziercke: „Wir haben erkannt, dass wir innere Sicherheit in Deutschland viel stärker von Europa her definieren müssen. Die Grenzen – die wir zwar noch haben de facto, aber wir haben keine Grenzkontrollen mehr – zeigen, dass Europa ein kriminalgeografischer Raum ist. Und wenn ich das aufs Internet beziehe, muss ich sagen, auch diesen Raum gibt es schon gar nicht mehr, das Internet entgrenzt im Grunde die Kriminalität im Bereich Terrorismus und Organisierte Kriminalität, so dass wir von überall in der Welt über das Internet in Deutschland angegriffen werden können.“

Wer sich ernsthaft dafür interessiert, aus welchen Quellen sich heute bei so vielen Europäern die Sehnsucht nach nationaler Abschottung speist, der findet hier einen wesentlichen Teil der Antwort. Es ist das alles durchdringende Grundgefühl, in bedrohlich „entgrenzten“, nicht mehr durchschaubaren Verhältnissen zu leben, das immer mehr Menschen so zu schaffen macht. Europas Prediger der Abschottung tragen Namen wie Wahre Finnen, United Kingdom Independence Party, Front National, Schweizer Volkspartei oder Alternative für Deutschland. Keine einzige dieser Parteien besäße auch nur den Hauch einer Chance, wären Phänomene unserer Zeit wie Entgrenzung und internationale Kriminalität bloß aus der Luft gegriffene Erfindungen. Tatsächlich sind sie prägende Bestandteile unserer neuen Wirklichkeit.

Gewiss, Vertretern „etablierter“ Parteien in Europa steht es frei, besorgte Bürger als „verblödet“ zu verspotten. Für diesen Hochmut werden sie allerdings noch einen hohen Preis entrichten. Sinnvoller wäre es, gerade Sozialdemokraten setzten alles daran, verunsicherten Menschen in entgrenzten Zeiten neue Sicherheit zu vermitteln. Viele Sozialdemokraten versuchen genau das. Unseren Schwerpunkt zum Thema Organisierte Kriminalität verstehen wir in diesem Kontext als Anregung, diesen Themenkomplex unbedingt als zentrales Handlungsfeld sozialdemokratischer Politik im frühen 21. Jahrhundert zu begreifen.

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