Einwanderungsland Deutschland: Wo nicht drin ist, was drauf steht

zu Katarina Niewiedzial, Einwanderungsland ohne Plan, Berliner Republik 4/2007

In den vergangenen vier bis sechs Jahren wurde über Deutschland als Einwanderungsland wahrscheinlich mehr geschrieben und geredet als in den 40 Jahren zuvor. Ein wirklich gutes Integrationskonzept hat Deutschland trotzdem noch nicht entwickelt. Denn die Behauptung, Deutschland sei ein Einwanderungsland, reicht nicht aus. Wer dem Motto folgen will „Was drauf steht, ist auch drin“, muss dafür sorgen, dass der Inhalt stimmt. Deshalb trifft der Beitrag „Einwanderungsland ohne Plan“ von Katarina Niewiedzial in der Berliner Republik 4/2007 ein Kernproblem: Wo ist der gut durchdachte Plan, der Deutschland zu einem echten Einwanderungsland machen könnte?

Meine These lautet, dass Deutschland erst dann ein Einwanderungsland wird, wenn wir ein Einwanderungsgesetz bekommen, das die gezielte und gewollte Einwanderung regelt, und wenn die heute praktizierte Zuwanderung abgelöst wird. Erst dann wird in den Köpfen aller Menschen in Deutschland ein Paradigmenwechsel stattfinden.

Wer das Dorf sieht, braucht keinen Führer

Warum leben in Deutschland überproportional viele Menschen aus der Türkei? Und warum sind die meisten Menschen mit Migrationshintergrund gering qualifiziert? Ganz einfach: Laut Zuwanderungsgesetz hatten und haben diese Gruppen die größten Chancen, nach Deutschland zuzuwandern. Eine Einwanderung, wie sie in klassischen Einwanderungsländern praktiziert wird, ist nach Deutschland nicht möglich. Dieser Tatsache sollten wir uns zuwenden, anstatt in urdeutscher Manier die Lösung in besseren Statistiken zu suchen. Im Türkischen gibt es einen alten Sinnspruch: „Wer das Dorf schon sieht, braucht keinen Führer.“ Schließlich ist Einwanderung auch eine emotionale Angelegenheit. Das schließt die Debatte über Werte und eine Leitkultur mit ein.

Migrationspolitik vom Hörensagen

Sicher ist es hilfreich, sich bei der Erarbeitung eines Einwanderungsgesetzes genaue Zahlen und Statistiken anzusehen; und sicher sollten wir froh sein, dass der Mikrozensus 2005 jetzt auch den letzten Blinden in diesem Land anhand von Zahlen überzeugt hat. Doch die These von Katarina Niewiedzial, die undifferenzierte Integrationsdiskussion in Deutschland könne unter anderem auf fehlende Statistiken zurückgehen, finde ich weit hergeholt. „Wer nicht weiß, worüber er genau spricht, muss abstrakt argumentieren“, so Katarina Niewiedzial weiter. Dies gilt in der Tat für die meisten Deutschen, die Integrationspolitik betreiben – doch ganz sicher nicht deshalb, weil ihnen keine Zahlen vorliegen.

Der Mangel ist vielmehr inhaltlicher Art: Wer die Kulturen, die integriert werden sollen, nicht kennt, muss abstrakt planen und sich von Fachleuten beraten lassen – eine Politik vom Hörensagen. Doch wer hat die deutsche Politik in Sachen Migration bisher beraten? Wenn man sich die bisherige integrationspolitische Zusammenarbeit anschaut, muss man sich nicht wundern, dass auf Menschen aus der Türkei und sozial Schwache fokussiert wird.

Katarina Niewiedzial hat recht: In den vergangenen Jahren ist eine „Integrationsindustrie“ entstanden. Ich füge hinzu: Diese lebt davon, dass Integration nicht stattfindet. Wer will sich schon selbst wegrationalisieren? Ein Trend, der nun auf diversen Integrationsgipfeln fortgeführt wird, auf denen nationale und regionale Integrationskonzepte erarbeitet werden; es ist ein regelrechter Wettbewerb. Vieles, was in den Konzepten steht, wurde schon vor mehr als 30 Jahren niedergeschrieben, jedoch nie flächendeckend umgesetzt. Kleine und größere punktuelle „Integrationserfolge“ helfen uns in Deutschland nicht weiter. Denn die Zahl der Problemfälle nimmt signifikant zu.

Kein Fortschritt ohne Generationswechsel?

Ich glaube, ein Bundesministerium für Einwanderungs- und Einbürgerungsangelegenheiten wäre eine wichtige Einrichtung. Nur auf die Zusammensetzung dieses Ministeriums käme es an. Einwanderungspolitik darf nicht nur von Deutschen ohne Migrationshintergrund gemacht werden, und sie darf keine regionale Angelegenheit bleiben. Ebenso wie Katarina Niewiedzial bin ich der Auffassung, dass Einwanderer in alle Bereiche des öffentlichen Lebens hineingehören und „die Bereitschaft der gesamten Gesellschaft, Einwanderer als einen selbstverständlichen Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren“ existieren muss. Wenn die bisherigen Bemühungen der Politik keinen oder nur geringen Erfolg zeigen, liegt dies nur daran, dass sich die Verantwortlichen zunächst in mühseliger Detailarbeit Wissen erarbeiten müssen, ohne dabei immer die richtigen Berater an ihrer Seite zu haben. Ich warte in diesem Punkt auf einen Generationswechsel. Dann wird Deutschland einen größeren Schritt nach vorne machen.

Eine Schar interkulturell und transkulturell begabter und hoch qualifizierter junger Menschen wartet auf ihre Chance, diese Gesellschaft zu verändern. Denn gegen die Alterung werden auch „dickbäuchige“ konservative Funktionäre nicht ankommen. Wenn an diversen Integrationsgipfeln und Beiräten mittlerweile auch Einzelpersonen wie ich teilnehmen, wird sehr deutlich, dass die bisherigen Berater der deutschen Politik ihre Felle davonschwimmen sehen. Sie scheuen nicht davor zurück, offen unsere Anwesenheit zu kritisieren, uns persönlich anzugreifen und polemisch zu diffamieren.

Gute Statistiken mögen das Gewissen der Politik beruhigen. Sie werden aber keine Arbeitsplätze für alle Menschen schaffen. Denn selbst wenn die Qualifizierten unter den Zuwanderern eine Anerkennung ihrer Qualifikation erreichen würden, alle Einwanderer gut Deutsch sprächen und einen guten Schulabschluss hätten, würde es in Deutschland möglicherweise nicht genug Arbeit für alle geben. So suggeriert die Feststellung „Regionen, die kulturelle Vielfalt positiv nutzen, profitieren von einer höheren Produktivität, stärkerem Wachstum und mehr Innovationen“, dass auf diese Weise alle Probleme des Zusammenlebens vieler Kulturen zu lösen wären. Nein, zum einen ist Einwanderung nicht nur eine wirtschaftliche Größe, zum anderen macht gute Integrationspolitik schlechte Arbeitsmarktpolitik nicht wett.

Müssen nur wollen – aber im Ernst!

Auf jeden Fall muss über ein neues Konzept für das Leben aller Menschen in Deutschland nachgedacht werden. Insofern stimmt es, dass Integrationspolitik eine Querschnittsaufgabe ist, wie Katarina Niewiedzial ausführt. Diese Aufgabe reicht aber sehr weit: Einwanderungspolitik schließt nicht nur alle Kulturen, Religionen und Sprachen und jedes Ressort ein, sondern sie kann auch ohne eine stabile Bundespolitik nicht funktionieren. Anderenfalls wird der unzufriedene durchschnittliche Deutsche seine Wut über das eigene miserable Leben weiter an den „Ausländern“ auslassen, die ihm angeblich die Arbeit wegnehmen oder sonst irgendwie für sein Unglück verantwortlich sind. Und der strukturell benachteiligte „Ausländer“ wird Deutschland nie als Heimat annehmen können, weil er immer ausgegrenzt und ein Mensch zweiter Klasse sein wird. Beide Seiten müssen dies begreifen und die Integration wirklich wollen.

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