Eine harmonische Beziehung

In Spanien gibt es keine politische Kraft, die bei den Wählern mit antieuropäischen Parolen zu punkten versucht. Zwar lastet das Austeritätsdiktat schwer auf dem Land. Doch als verantwortlich für diesen destruktiven Kurs gilt nicht Europa, sondern Deutschland

Sie mögen einander nicht. Das Verhältnis der beiden großen Parteien Spaniens, der regierenden konservativen Volkspartei (PP) und der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) ist geprägt von Konfrontation. Doch in einer Hinsicht sind sie sich einig: in ihrer positiven Haltung zu „Europa“. Es gibt in Spanien keine politische Kraft, die mit euroskeptischen oder antieuropäischen Parolen antritt. Spannungen innerhalb der Rechten haben den Autonomiestatus der Regionen oder die Behandlung der Inhaftierten der ETA zum Gegenstand, nicht aber die Mitgliedschaft Spaniens in EU und Eurozone. Und auch die politische Linke, bestehend aus PSOE und Vereinigter Linker (IU), ist trotz aller Kritik im Detail grundsätzlich proeuropäisch.

Diese Offenheit für Europa spiegelt sich in den politischen Umgangsformen wider: Ein Mandat für das Europäische Parlament ist nicht wie in anderen Mitgliedsstaaten eine Art Abfindung, die das Ende einer politischen Karriere markiert. Spanische Europaabgeordnete sind in der Innenpolitik präsent und besetzen in ihren Parteien hohe Ämter. Umgekehrt schicken spanische Parteien nicht diejenigen Politiker in das Europäische Parlament, die sie loswerden wollen, sondern ihre wichtigsten Repräsentanten. So wird die aktuelle Liste der PSOE von Elena Valenciana angeführt, der Nummer Zwei in der Partei. Auch bei der Besetzung hoher europäischer Beamtenposten greift man nicht auf gescheiterte Landespolitiker zurück, sondern auf politisch-administrative Spitzenkräfte wie Pedro Solbes oder Javier Solana.

Lange Jahre ging alles gut – dann kam der Schock

Umfragen des Eurobarometers belegen die proeuropäische Einstellung in Politik und Gesellschaft. Sie geht darauf zurück, dass Spanien wie kaum ein anderes Land von der EU-Mitgliedschaft profitieren konnte. Seinem Beitritt 1986 folgten eine Welle vorwiegend europäischer Direktinvestitionen sowie ein stetiger Zufluss aus den europäischen Agrar-, Struktur- und Regionalfonds. Mit der Übernahme des Euro ging der landesspezifische Risiko-Zinsaufschlag von acht Prozent auf null zurück und die Kosten für Kredite sanken drastisch – aus heutiger Sicht gewiss ein höchst zweischneidiger Erfolg. Vor der globalen Finanzkrise genoss Spanien 14 Jahre lang stabiles Wachstum, dessen jährliche Raten deutlich über dem europäischen Durchschnitt lagen. Im Hinblick auf das Pro-Kopf-Einkommen holte Spanien Italien ein und näherte sich Frankreich – ein Erfolg, der in großen Teilen Europa zu verdanken war. Genauso aber ist Europa zu einem hohen Anteil für den brutalen Rückschlag nach 2007 verantwortlich.

Die beiden derzeit wichtigsten Debatten in Spanien sind eng mit Europa verbunden: Zum einen geht es um die Austeritätspolitik, die Spanien von der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds aufgezwungen wurde. Zum anderen wird die mögliche Sezession Kataloniens diskutiert, deren Erfolg oder Misserfolg von der Haltung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten abhängen wird.

Austerität bedeutet Umverteilung nach oben

Unter dem Druck Deutschlands haben die europäischen Institutionen die so genannte Eurokrise auf die fiskalische Disziplinlosigkeit südeuropäischer Länder zurückgeführt. Dieser Befund trifft – wenn überhaupt – für Griechenland zu, aber auf keinen Fall für Spanien. Das Land wies in den Jahren vor der Finanzkrise Überschüsse im Staatshaushalt auf. Dennoch legte der falsche Befund die Therapie fest: Der spanische Staat musste sein (zunächst moderates) Haushaltsdefizit und seine Verschuldung abbauen. Und das in einer Zeit, in der private Haushalte und Unternehmen infolge der Krise ebenfalls ihre Schulden abbauten und folglich lieber sparten, anstatt zu konsumieren und zu investieren. Dem Nachfrageausfall, der vom privaten Sektor der Wirtschaft ausging, wurde ein zweiter, politisch induzierter Nachfrageausfall hinzugefügt. Spanien wurde also nicht von einer, sondern von zwei Krisen heimgesucht: einerseits von den Auswirkungen der globalen Finanzkrise und andererseits von der aufgezwungenen Austerität.

Wenn der private Sektor Schulden abbaut, kann die Austeritätspolitik ihr selbst gesetztes Ziel nicht erreichen, denn mit einer geringeren Nachfrage gehen auch die besteuerbaren Einkommen zurück. Das sinkende Steueraufkommen erzwingt wiederum neue Ausgabenkürzungen – eine Spirale nach unten, möglicherweise ohne Ende. Folglich führt Austeritätspolitik nicht zu einem Abbau des staatlichen Haushaltsdefizits, sondern bewirkt zwei andere, viel weitreichendere Effekte: Zum einen kann sie eine Rezession in eine langandauernde Depression verwandeln – ein Effekt, der nun in Spanien einzutreten droht. Einer Studie des Forschungsinstituts Banco de Bilbao zufolge wird Spanien erst im Jahre 2025 den Beschäftigungsstand von 2007 wieder erreicht haben – vorausgesetzt, das BIP wächst pro Jahr um mindestens 2,5 Prozent und die Produktivität um 0,6 Prozent. Selbst unter diesen günstigen Voraussetzungen würde Spanien also 18 Jahre brauchen, um zum Zustand vor der Krise zurückzukehren. Damit hätte die „Erholung“, bezogen auf die Beschäftigung, schließlich länger gedauert als die Große Depression in den Vereinigten Staaten.

Der zweite Effekt der Austeritätspolitik ist eine massive Umverteilung der Einkommen. Insgesamt sank das verfügbare Einkommen der Haushalte zwischen 2007 und 2013 um 11 Prozent. Dabei schrumpfte es sozial höchst selektiv: Eine Studie des Think Tanks Fundacion Alternativas hat die Einkommensentwicklung nach Berufsgruppen analysiert. Demnach gingen zwischen 2007 und 2011 die Einkommen der freien Berufe um 2,9 Prozent und die der Unternehmer um 8,1 Prozent zurück. Hingegen sanken die Einkommen der qualifizierten Arbeiter um 14,9 Prozent und die der nicht-qualifizierten Arbeiter um satte 18,1 Prozent. Zu einem noch deutlicheren Ergebnis kommt eine Analyse der OECD: In keinem anderen Land der OECD hat sich die Krise so sozial selektiv ausgewirkt wie in Spanien. Während das reichste Zehntel der Bevölkerung mit minus 1,1 Prozent pro Jahr nur marginal betroffen gewesen ist, musste das ärmste Zehntel einen Verlust von 13,7 Prozent pro Jahr (!) hinnehmen und hat damit ein Drittel seiner Einkommen verloren.

Martin Schulz gilt als »der andere Deutsche«

War der Austeritätskurs zunächst von außen aufgezwungen, so ist dessen extreme soziale Selektivität weitgehend hausgemacht. In den anderen südeuropäischen Ländern, die unter dem Diktat der Troika stehen, hatten die Krise und der geforderte Sparkurs entweder einen schwächeren negativen Verteilungseffekt (in Griechenland und Italien), oder sie wirkten sich relativ sogar zugunsten der ärmeren Bevölkerungsgruppen aus (in Portugal). Die extreme soziale Selektivität der Krisenpolitik geht also nicht auf das Diktat Europas zurück, sondern auf die spezifische Ausgestaltung durch die konservative Regierung. Insofern liegt der Austeritätspolitik nicht in erster Linie ein Konflikt zwischen Spanien und Europa zugrunde, sondern vor allem eine innere soziale Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich. Sie spiegelt sich im politischen Konflikt zwischen Sozialisten und Konservativen wider.

Dies könnte auch der Grund dafür sein, dass das europäische Diktat die proeuropäische Orientierung der spanischen Politik und Öffentlichkeit bislang nicht besonders stark beeinträchtigt hat. Zumindest die Sozialisten lasten die Austeritäts­politik nicht den europäischen Institutionen an, sondern Deutschland. In gewisser Hinsicht setzt die PSOE sogar auf Europa, um dem Gewicht Deutschlands, personifiziert durch die Kanzlerin, etwas entgegenzusetzen. Dieses Gegengewicht wird ebenfalls von einem Deutschen verkörpert: von Martin Schulz. Er gilt in Spanien als der „andere Deutsche“, der die EU wieder auf den Weg europäischer Solidarität zurückführen könnte.

Wenn es nach der Mehrheit der Parteien im katalanischen Parlament und der „privaten“ Katalanischen Nationalversammlung geht, wird Katalonien Ende 2014 oder spätestens 2015 ein unabhängiger Staat sein: entweder mithilfe eines Referendums oder als Ergebnis von Parlamentswahlen, die als Plebiszit interpretiert werden. Die Motive dafür sind vielschichtig. Sie reichen von einer erhofften finanziellen Besserstellung bis hin zur Vorstellung einer eigenen katalanischen Nationalidentität. Diese soll sich nicht nur in einer eigenen Sprache, sondern auch in einer historischen und soziokulturellen Sonderstellung gegenüber dem Rest Spaniens manifestieren.

Die Katalanen sehen sich als die wahren Europäer

Problematisch für die katalanische Nationalidentität könnte ihre sehr enge Bindung an Europa werden. Bei den großen Unabhängigkeitsdemonstrationen der letzten Jahre war die Fahne der EU fast ebenso häufig zu sehen wie die Nationalflagge Kataloniens. Die Katalanen sehen sich als die „eigentlichen“ Europäer auf der Iberischen Halbinsel. Sei es, weil Katalonien schon zu Europa gehörte, als Spanien noch von den Arabern beherrscht wurde; sei es, weil Katalonien (aus der Sicht seiner Bürger) ein spezielles Verhältnis zur Arbeit entwickelt hat, eine Art protestantische Ethik in einem katholischen Land. Allerdings stößt dieser europäische bias der Unabhängigkeitsbewegung bei der EU und ihren Mitgliedern auf wenig Gegenliebe. Eine an alle EU-Mitglieder gerichtete quasidiplomatische Initiative, die für Verständnis für die angestrebte Unabhängigkeit werben will, wurde nur von Slowenien beantwortet.

Vor allem aber machten die Vertreter der EU den Protagonisten der Unabhängigkeit klar, dass Katalonien nach einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung nicht ohne weiteres Mitglied der EU werden oder bleiben dürfe, auch wenn dort alle Kapitel des acquis communautaire seit fast 30 Jahren gelten. Vielmehr müsse Katalonien seine Mitgliedschaft neu verhandeln – ein Prozess mit offenem Ausgang, der nicht nur mehrere Jahre dauern könnte, sondern auch von Spanien ratifiziert werden müsste. Kurzum: Eine Sezession wäre mit langdauernder Rechtsunsicherheit vor allem für die katalanische Wirtschaft verbunden und birgt hohe wirtschaftliche Risiken.

Auf den ersten Blick kommt es daher zu dem paradoxen Ergebnis, dass die EU bei vielen Spaniern trotz Austeritätsdiktat populär bleibt. Nicht zuletzt, weil sie sich in der Frage Kataloniens hinter die spanische Position stellt. Gleichzeitig können die Katalanen ihre pro-europäische Orientierung nicht einfach revidieren, denn diese macht einen Kern der katalanischen Identität aus. Jenseits seiner sozialen wie territorialen Konfliktlinien ist ganz Spanien pro-europäisch – und wird es wohl auch bleiben.

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