Eine Frage der Gerechtigkeit

Weshalb sollte die Bürgerversicherung ein zentrales Projekt sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik sein? Weil Gesundheit ein zentrales Element der Chancengleichheit ist - und ohne gleiche Chancen keine gerechte Teilhabe

Die hier vorgeschlagene Bürgerversicherung umfasst erstens die Ausweitung des Versichertenkreises auf alle Bürger, also auch auf Beamte, Selbstständige und Gutverdienende. Sie beinhaltet zweitens die Erweiterung der Beitragsbasis auf Miet-, Zins- und Kapitaleinkünfte, da diese Einkommen in einer Gesellschaft mit wachsender beruflicher Selbstständigkeit, Vererbung von Vermögen und zunehmendem Kapitalaufbau zur Altersvorsorge stetig an Bedeutung gewinnen. Und sie umfasst drittens die Möglichkeit einer langfristigen Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze.


Natürlich ist es richtig, dass auch eine über die Steuer oder über Kopfpauschalen finanzierte Bürgerversicherung denkbar wäre. Gegen letztere werden weiter unten ökonomische und soziale Argumente vorgetragen. Damit aber klar ist, welche Form der Bürgerversicherung hier angesprochen wird, sollen zunächst einige Vorbemerkungen zur Versicherungspflicht und zur Beitragsbemessungsgrenze folgen. In einer Bürgerversicherung darf es keine Versicherungspflichtgrenze geben. Der Wettbewerb privater und gesetzlicher Kassen muss innerhalb eines solidarischen Systems stattfinden. Dies bedeutet vor allem, dass der Leistungskatalog für alle Krankenversicherungen einheitlich sein muss, und sich nicht in Abhängigkeit vom Einkommen des Versicherten unterscheiden darf. Auch müssen sich die Beiträge an der Leistungsfähigkeit der Versicherten orientieren, nicht an ihrem Gesundheitszustand oder Alter. Eine Beitragsbemessungsgrenze erhält den Charakter einer Krankenversicherung und verhindert die Entwicklung einer steuerfinanzierten Einheitskasse. Die Beitragsbemessungsgrenze sollte aber nur dann erhöht werden, wenn die Einbeziehung anderer Einkommensarten, die Erweiterung des Versichertenkreises und besonders die Erschließung bestehender Effizienzreserven durch mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem abgeschlossen ist. Dies dürfte frühestens im Jahr 2010 der Fall sein. Kurzfristig würde eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze die Lohnnebenkosten erhöhen. Es darf zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr Geld in das Gesundheitssystem eingebracht werden, da es über erhebliche Effizienzreserven verfügt. So ist das deutsche Gesundheitssystem etwa um ein Drittel teurer als die durchschnittlichen europäischen Gesundheitssysteme, bietet aber nur mittelmäßige Qualität.


Hier setzten die Strukturmaßnahmen Ulla Schmidts an, zu denen es keine Alternative gibt, und die in der öffentlichen Auseinandersetzung als einseitige Belastung der Versicherten falsch bewertet werden. Sie ermöglichen neben den beschlossenen Belastungen für Versicherte auch deutlich mehr Wettbewerb in fast allen Bereichen des Gesundheitssystems und muten den Krankenkassen mehr Verantwortung zu. Diese erhalten im Gegenzug Spielräume für direkte Verträge mit Krankenhäusern, Gesundheitszentren und für gesundheitsfördernde Bonusprogramme. Der logische nächste Schritt ist dann die Entmachtung der noch bestehenden Kartelle und Monopole im System, vor allem des Vertragsmonopols der Kassenärztlichen Vereinigungen. Diesen Schritt waren CDU und FDP noch nicht bereit zu gehen, obwohl auch dort die Zweifel an den bestehenden Strukturen wachsen. Die alleinige Einführung der Bürgerversicherung wäre aber keine Alternative zur Reform von Ulla Schmidt gewesen. Diese ist vielmehr ein erster, aber langer Schritt in Richtung des Wettbewerbs einer Bürgerversicherung.

Ein weltweit einmaliges System

Weshalb sollte die Einführung einer Bürgerversicherung ein zentrales Projekt der Sozialpolitik der SPD sein? Die SPD muss versuchen, die Entsolidarisierung unseres Gesundheitssystems zu stoppen. Mit jedem Mitglied, das jetzt die gesetzlichen Krankenkassen freiwillig verlässt, verliert das solidarische System nach Berücksichtigung der Kosten dieser Mitglieder etwa 3.000 Euro jährlichen Beitrag. Neue Mitglieder in der Bürgerversicherung würden diese also finanziell entlasten. Ein solidarisches Gesundheitssystem, an dem sich die leistungsstärksten, gesündesten und am besten gegen Arbeitslosigkeit abgesicherten Bevölkerungsschichten nicht beteiligen, kann die bevorstehenden Herausforderungen durch die Alterung der Bevölkerung und den technischen Fortschritt nicht erfolgreich bewältigen. Die zunehmende Entsolidarisierung wird durch den Staat selbst mit Hilfe einer willkürlichen Versicherungspflichtgrenze "dosiert". Ein solches System ist in der Welt einmalig. Häufig sind es dann ausgerechnet jene, die das solidarische System verlassen haben, um sich privat zu versichern, die sich über die vermeintlich mangelnde Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen beklagen und weiter abbauen wollen.


Da die privaten Krankenkassen Ärzte und Krankenhäuser besser bezahlen, bemühen sich fast alle Spezialisten in der deutschen Medizin, möglichst viele Privatpatienten zu behandeln. Für Privatpatienten gibt es keine Arzneimittelbudgets oder lange Wartezeiten. Privatpatienten haben in Deutschland eine deutlich höhere Lebenserwartung als gesetzlich Versicherte. Einkommensschwächere kommen nur dann in den Vorzug einer privaten Versorgung, wenn sie als Beamte für den Staat arbeiten.


Diese Form einer beginnenden Zweiklassenmedizin wird in Deutschland tabuisiert, und kann allenfalls durch wirtschaftsliberale Parteien begründet werden. Sie setzt voraus, dass es ethisch akzeptabel wäre, dass für Einkommensstärkere eine bessere Gesundheitsversorgung als Wahlmöglichkeit vorgehalten wird, solange es eine akzeptable Grundversorgung für den Rest der Bevölkerung gibt. Dies kann aber keine sozialdemokratische Position sein. In einer sozialdemokratischen Gesundheitspolitik sollte die Gesundheitsversorgung ausschließlich vom medizinischen Bedarf des Patienten abhängen, nicht aber vom Einkommen oder vom Versicherungsstatus. Auch Ärzte sollten Patienten nicht bevorzugen, nur weil diese besser bezahlen.

Ohne Gesundheit keine Gerechtigkeit

Aus sozialdemokratischer Sicht sind Bildung und Gesundheit zwei zentrale Elemente der Chancengleichheit. Chancengleichheit ist die Voraussetzung für eine gerechte Einkommensverteilung, in der es dann auch gerechte Einkommensungleichheiten gibt. Diese Einkommensungleichheiten dürfen die Situation der Schwächsten in der Gesellschaft nicht verschlechtern, daher ist immer auch Einkommensumverteilung notwendig. Aber eine Einkommensverteilung auf der Grundlage nicht bestehender Chancengleichheit kann niemals gerecht sein. Diese philosophische Grundeinsicht, die im wesentlichen auf den amerikanischen Sozialphilosophen John Rawls und den Ökonomen Amartya Sen zurück geht, und unter dem Begriff der "Teilhabegerechtigkeit" zunehmend auf die Grundwerte sozialdemokratischer Parteien Einfluss nimmt, bedeutet für Deutschland, dass die Gleichheitsdefizite in Bildung und Gesundheit ungerecht sind, und nicht unter der Kategorie "Neid" abgetan werden dürfen.


Solche Defizite können auch nicht begründet werden mit dem Argument, dass diese Ungleichheit nötig sei, um den Gesamtwohlstand der Gesellschaft zu erhöhen. Dies ist empirisch falsch, da sich die Ungleichheiten in Bildung und Gesundheit negativ auf unser Wirtschaftswachstum ausgewirkt haben, es ist auch ethisch nicht zu begründen. Wirtschaftswachstum ist kein Selbstzweck und setzt zumindest aus sozialdemokratischer Sicht Chancengleichheit voraus, damit Menschen an diesem Wachstum auch "teilhaben" können. Die Agenda 2010 basiert ebenfalls auf dem Konzept der Stärkung der "Teilhabegerechtigkeit". Hohe Arbeitslosigkeit ist der größtmögliche Verstoß gegen Teilhabegerechtigkeit überhaupt. Für viele von Arbeitslosigkeit Betroffene liegen aber die Ursachen auch in unzureichender Bildung und Gesundheit. Für ältere Menschen ist chronische Krankheit eine der häufigsten Ursachen von Erwerbslosigkeit. Arbeitslosigkeit verschlechtert in der Regel den Gesundheitszustand der Menschen weiter: ein Teufelskreis für die Betroffenen, dem sie ohne Hilfe nicht entrinnen können. Aus dieser Sicht ist es zynisch, dass sich konservative Politiker immer wieder zu Wort melden, um zu beklagen, dass kranke Sozialhilfeempfänger wie "Privatpatienten" behandelt würden. Weshalb sollten sie schlechter behandelt werden, solange die Behandlung nur den medizinischen Bedarf abdeckt und sie das Gesundheitssystem nicht für andere Zwecke missbrauchen?

Was gegen die Kopfpauschale spricht

Als Alternativvorschlag zur Bürgerversicherung haben die Herzog-Kommission und Bert Rürup Kopfpauschalen vorgeschlagen. Kopfpauschalen werden begründet mit dem Argument, sie seien für den Arbeitsmarkt vorteilhafter. Zunächst ist festzuhalten, dass sie zu einer ungerechten Umverteilung der Finanzierungslasten führen würden. Eine einheitliche Kopfpauschale von zweihundertzehn Euro mit einer Überforderungsschwelle von vierzehn Prozent des Einkommens hätte folgende Konsequenzen:
- Sie wäre familienfeindlich, da die beitragsfreie Mitversicherung von nicht berufstätigen Ehepartnern entfiele.
- Sie würde die mittlere Einkommensgruppe deutlich belasten, da diese weder den Steuerzuschuss der Bedürftigen noch die relative Entlastung der Gutverdiener durch den Pauschalbeitrag genießen würde.
- Sie würde die Kosten der Krankenversicherung für Rentner um etwa fünfzig Prozent erhöhen.


Gewinner der Kopfpauschalen wären besonders Alleinstehende mit hohen Einkommen. Daran ändert auch ein sozialer Ausgleich von fünfundzwanzig Milliarden Euro nichts, der über Steuern finanziert werden muss. Auch nach der Auszahlung und Versteuerung der Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung müssten zusätzlich acht bis zehn Milliarden Euro Steuererhöhung beschlossen werden. Im Gutachten des Sachverständigenrats für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung wird auf der Grundlage eines theoretischen Modells argumentiert, dass sich die Einführung der Kopfpauschalen trotz dieser Steuererhöhung im Gegensatz zur Bürgerversicherung positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken würde. Der wesentliche Mechanismus sei die steigende Nachfrage nach Arbeit, da die Grenzbelastung für höhere Einkommensgruppen sinke: Es bleibe diesen Beschäftigten im Vergleich zur Bürgerversicherung mehr Netto von jedem zusätzlich verdienten Euro übrig.


Dass mit der steigenden Nachfrage der gut Verdienenden aber das Angebot von Arbeitsplätzen oder die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt steigen würde, kann nicht gefolgert werden. Erstens steigt bei der Einführung der Kopfpauschale die Grenzbelastung für Geringverdiener, und es ist gerade diese Gruppe, die wegen zu hoher Grenzbelastung häufig die Schwarzarbeit einer regulären Beschäftigung vorzieht. Zweitens sinkt die Konsumnachfrage der mittleren Einkommensgruppen wegen einer höheren Nettobelastung durch die Summe von Pauschalprämie und Steuererhöhung. Die Entlastungen konzentrieren sich auf die Haushalte mit hohen Einkommen und der höchsten Sparquote, die Belastungen dagegen fallen auf die Haushalte mit der höchsten Konsumquote. Daher wird es voraussichtlich zu einem Konsumrückgang kommen.

Die Schweiz ist kein Vorbild

Die internationalen Erfahrungen mit Kopfpauschalen sind dürftig und nicht ermutigend. Nur die Schweiz hat Kopfpauschalen eingeführt, seit 1996 in allen Kantonen. Sie haben dort in sieben Jahren kein zusätzliches Wirtschaftswachstum gebracht. Im Vergleich zu Ländern mit Bürgerversicherung wie den skandinavischen Staaten oder Österreich ist die Produktivität in der Schweiz in den vergangenen Jahren nicht gewachsen, in den letzten zwei Jahren hatte die Schweiz sogar ein niedrigeres Wachstum der Produktivität als Deutschland. Auch die Gesundheitskosten sind in der Schweiz stärker angestiegen als im europäischen Durchschnitt. In Europa ist nur das Schweizer Gesundheitssystem teurer als das deutsche. Selbst die Arbeitslosigkeit hat in der Schweiz im letzten Jahr mehr zugenommen als in Deutschland.


Besonders negativ auf den Arbeitsmarkt wirken Kopfpauschalen in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche. Aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit und der schwachen Konjunktur wächst dann die Zahl der Haushalte, die Anspruch auf den sozialen Ausgleich haben. Gleichzeitig sinken die Steuereinnahmen. Somit sind in jeder konjunkturell schwachen Phase entweder Rationierungen nötig - oder die Steuern müssen trotz Konjunkturschwäche erhöht werden. Rentenzuschuss und Gesundheitszuschuss des Bundes würden in konjunkturell schwachen Zeiten miteinander konkurrieren, wegen des fehlenden Äquivalenzanspruchs der Versicherten würden aber Kürzungen des Gesundheitszuschusses sehr viel wahrscheinlicher sein als Kürzungen des Rentenzuschusses

Keine Altersvorsorge im Gesundheitssystem!

Der Bürgerversicherung wird oft unterstellt, dass sie die demografischen Probleme nicht wirklich löse. Genau wie die Kopfpauschale sei sie ein reines Umlagesystem, nur kapitalgedeckte Systeme seien nachhaltig. In einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft ist es insgesamt keine Frage, dass umlagefinanzierte Systeme durch Kapitaldeckungskomponenten ergänzt werden müssen. Den besten Ansatzpunkt für mehr Kapitaldeckung in der Altersvorsorge ist jedoch das Rentensystem, nicht das Gesundheitssystem. Im Gegensatz zum Rentensystem geht Kapitalanlage in der Krankenversicherung mit hohen Verwaltungskosten, hohen Akquisitionskosten, Mehrkosten für Ärzte und Kliniken und einer geringen Kapitalrendite einher. Dazu kommt die Zweiklassenmedizin, die sich aus der Einkommens- und Risikoselektion ergibt.


Im Rentensystem hingegen gäbe es die Möglichkeit, durch eine deutliche Vereinfachung der Riester-Rente Kapital mit geringem Effizienzverlust und relativ hoher Renditesicherheit anzulegen. Durch sie würde Altersarmut vermieden und gleichzeitig die Grundlage geschaffen, Rentner an einer umlagefinanzierten Krankenversicherung in Zukunft stärker zu beteiligen. Die demografische Herausforderung wird für das Rentensystem wesentlich stärker als für das Gesundheitssystem ausfallen. Ein neuer Rentner zahlt weiter in das Krankenversicherungssystem ein, und seine Kosten steigen nicht sprunghaft an, nur weil er Rentner geworden ist. Die gleiche Argumentation gilt auch für die Pflegeversicherung. Auch dort zahlt ein Rentner weiterhin ein, wenn er in den Ruhestand tritt. Auch dort ist es wichtiger, dass die Beitragsgrundlage stabil gehalten wird, als dass neben dem Rentensystem eine weitere Kapitaldeckung installiert wird.


Das für die Altersvorsorge zur Verfügung stehende Kapital ist in unserer Gesellschaft endlich und kann nicht auf beliebig viele ineffiziente Kapitaldeckungssysteme verteilt werden. Auch darf der Konsum nicht erstickt werden, nur um in dreißig Jahren mehr Kapitalangebot als Kapitalnachfrage vorzufinden.

Wettbewerb im solidarischen System

Die Bürgerversicherung ist keine Einheitskasse, sie steht auch nicht im Widerspruch zu mehr Kapitaldeckung für das Alter. Sie setzt aber auf effiziente Kapitaldeckung im Rentensystem. Die Bürgerversicherung schafft wahrscheinlich mehr Arbeitsplätze als die Kopfpauschalen, weil sie zukünftige Beitragssatzsteigerungen durch die Einbeziehung gut Verdienender sowie von Miet-, Zins- und Kapitaleinkünften kompensiert, während uns die Kopfpauschalen in jeder Phase der konjunkturellen Schwäche erneut vor die Alternative der Rationierung oder Steuererhöhung stellen.


Außerdem bietet die Bürgerversicherung mehr Wettbewerb. Sie verstärkt den bestehenden Wettbewerb nicht nur durch mehr Vertragsfreiheiten auf Anbieterseite, sondern würde es auch den privaten Krankenkassen ermöglichen, die Bürgerversicherung anzubieten. Zukünftig könnte sich aber ein echter Qualitätswettbewerb innerhalb eines solidarischen Systems entwickeln - anstelle einer permanenten Entsolidarisierung ohne Wettbewerb. Die ungerechteste Lösung wäre aber eine Kopfpauschale für Normalverdiener, während sich gut Verdienende und Beamte weiter privat absichern könnten. Falls zur Abwendung von Steuererhöhungen Rationierungen beschlossen werden müssten, wäre der größte Teil der dafür Verantwortlichen nicht selbst betroffen.

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